Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Johannes Scherrs Leben und Schaffen.

I.

In seinem Buche »Heidekraut« erzählt Johannes Scherr: »Zwischen den Tälern, welche die Fils und die Rems in ihrem oberen Laufe durchstießen, liegt eine länglicht von Osten gen Westen streichende, südwärts und nordwärts ziemlich steil abfallende Hochebene. Aus dieser steigen, in unregelmäßigem Dreieck einander gegenübergestellt, drei Bergkuppen auf: der Hohenstuifen im Osten, der Hohenstaufen im Westen, der Hohenrechberg im Norden ... Der Rechberg trägt auf seinem breiten Gipfel die Kirche, den Friedhof, den Pfarrhof und das Mesnerhaus der Gemeinde, welche aus den beiden östlich und südlich an seinem Fuße gelegenen Weilern gebildet wird ... Am Fuße des Burghügels, ganz am westlichen Ende des Weilers, lag zwischen seinem Baumgarten und seinem Gemüsegärtlein mein elterlich Haus, worin ich am 3. Oktober im Teuerungsjahr 1817 als das zehnte Kind des Schulmeisters geboren wurde. Aus den Fenstern unserer Wohnstube sahen wir auf den nahen Hohenstaufen und fernhinüber auf die vorspringenden Gipfel der ›Schwäbischen Alb‹, Neuffen, Teck, Achalm. Vielleicht darf ich sagen, daß mir von der Weite dieses Ausblicks von Jugend auf etwas in der Seele geblieben.«

Mit allem Rechte durfte Scherr das sagen. Denn sein ganzes Schaffen, alle Arbeiten seiner Feder verraten eine große Weite des Ausblickes über das geschichtliche und das äußere und innere Leben der Menschheit. Welche Fülle gewaltiger Erinnerungen an die Vergangenheit seines Volkes mit all den Kämpfen, deren Wogen bis an ferne Ufer schlugen, mußte der tägliche Anblick des Hohenstaufen in dem empfänglichen, aufgeweckten Knaben wachrufen! Ausflüge in das anmutige Remstal hinunter führten ihn auch in den nicht weit entfernten Flecken Lorch, wo er mit seinem Vater in demselben Hause einkehrte, in dem einst Friedrich Schiller einen Teil seiner Knabenjahre verlebt hatte. Der Dichter Schiller aber galt viel, sehr viel in dem elterlichen Hause, wie bei dem Schulmeister, so auch bei dessen Gattin. Scherr sagt in der Vorrede zu seinem Buche »Schiller und seine Zeit«: »Es ist ein Lieblingswunsch meiner Jugend gewesen, die Lebensgeschichte des großen Mannes zu schreiben, welcher als ein Leitstern stetig ob den Wirrsalen meines Daseins geleuchtet hat. Ich wurde frühe gewöhnt, mit Ehrfurcht und Liebe zu demselben aufzublicken. In meinem väterlichen Hause gab es ein hochgeschätztes braungebundenes Buch, eine der ersten Ausgaben von Schillers Gedichtsammlung, und oft sah ich dasselbe zur Feierabendzeit in den Händen meiner teuren Mutter, in Händen, welche tagsüber unermüdlich mit der Sichel, dem Nähzeug oder Spinnrad sich abgemüht hatten. Noch steht mir die Stunde frisch im Gedächtnis, wo ich am Abend eines Sommertages mit der Unvergeßlichen unter dem alten Apfelbaum vor dem Hause saß, während die Sonne rotglühend hinter dem Scheitel des Hohenstaufens hinabsank. Da las sie dem von schwerer Krankheit genesenden Knaben die schöne, ihren frommen Sinn besonders anmutende Romanze vom Grafen von Habsburg vor und erklärte mir das Gedicht, so gut sie, die einfache Dörflerin, es vermochte. Das war meine erste Bekanntschaft mit dem großen Dichter, und der damals empfangene tiefe Eindruck ist geblieben.«

Mit welcher Liebe und Begeisterung Scherr sich später in das Leben und Schaffen seines großen Landsmannes versenkte, wie er sich in dessen Geisteswesen und Künstlernatur vertiefte, wie er am Feuer von dessen Idealismus das des eigenen immer und immer wieder nährte, das bezeugen außer zahlreichen Stellen in Scherrs Werken die Novelle »Schiller« und das schöne Buch »Schiller und seine Zeit«, das wohl zu den besten Kundgebungen gezählt werden darf, mit denen das deutsche Volk an der Jahrhundertfeier von Schillers Geburt 1859 seine Liebe zu dem unsterblichen Dichter bezeugte.

Die Familie Scherr war katholisch; aber es herrschte kein Geist der Unduldsamkeit in ihr. »Meine Mutter, in ihrer strengen Rechtschaffenheit und in ihrer unerschöpflichen Herzensgüte, war sonst gegen jedermann gerecht und duldsam, auch gegen Protestanten und Israeliten, was dazumal in meiner Heimatgegend keineswegs schon selbstverständlich war. Im Gegenteil, so wenig selbstverständlich, daß z.B. die katholische Gemeinde Rechberg und die lutherische Gemeinde Staufen, obzwar ihre Feldmarken zusammenstießen und sie nur eine Wegstunde voneinander entfernt lagen, durchaus keine Beziehungen mitsammen hatten.« Die Aufführungen des Passionsspiels von Gmünd, das eine gute Wegstunde von Hohenrechberg liegt, wurden von der Mutter Scherr mit Andacht genossen. Der junge Johannes interessierte sich aber auch sehr dafür und ließ sich von der Mutter das »Herrgöttlespiel« beschreiben; aber auch noch von andern. Erzählt er doch: »Als ich ein Schüler des Gmünder Untergymnasiums geworden, tagtäglich Sommers und Winters mit meinem Bücherranzen auf dem Rücken aus meinem dörflichen Heim frühmorgens zur Stadt wandernd, hatte ich Gelegenheit, das, was mir die Mutter und der Vater vom Passionsspiel erzählten, vielfach vervollständigen zu lassen.« Das taten die Nonne Schwester Agathe aus dem Oberstock des »Klösterle«, in dem das Gymnasium sich befand, und der alte »Kantor« Vetter, »bei welchem ich hätte nicht nur singen, sondern auch klavierschlagen und geigen lernen sollen.« In diesen Erinnerungen an das dramatisch bewegte, echt volksmäßige »Herrgöttlespiel« lag gewiß auch eine Anregung zu den späteren eingehenden literargeschichtlichen Studien Scherrs.

Es weht dort oben um den Rechberg eine reine, würzige, kräftigende, aber oft auch etwas herbe Luft. Und wenn es richtig ist, daß die Naturumgebung und das Klima auch auf Sinnesart und Charakter der Menschen Einfluß haben, so geschah das auch bei Scherr: Höhenluft, der Hauch reiner Gesinnung, atmet dem Leser seiner Werke oft etwas herb entgegen. Er hätte der »Weite des Ausblicks«, von der er sagte, sie sei ihm von Jugend auf in der Seele geblieben, auch die herbkräftige Luft seines Heimatdorfes beifügen können.

Wir brachten die vorstehenden Züge aus der ersten Lebenszeit Scherrs um so lieber, einmal, als sie geeignet sind, die Richtung einer späteren geistigen Art und Arbeit und die Entwickelung seines Wesens und seines Charakters zum Teil wenigstens zu erklären; sodann, weil sie zu dem wenigen gehören, was Scherr selbst schriftlich über seine Jugend, ja über sein ganzes Leben mitgeteilt hat. Er liebte es nicht, in redseliger Breite über die Einzelheiten seines Erdenlaufes sich zu ergehen und ihnen eine besondere Wichtigkeit zuzuschreiben, wie er sich denn gelegentlich satirisch genug über die Kleinkrämerei belustigte, deren in der modernen Zeit so manche in ihren Memoiren sich beflissen. Er hinterließ keine Tagebücher, keine Aufzeichnungen über seinen Lebensgang. Auch die ihm Nahestehenden ließ er nur gelegentlich einen Blick in seine früheren Tage tun, nicht weil er solche Blicke hätte scheuen müssen, sondern weil es ihm zuwider war, sich einen besonderen persönlichen Anschein zu geben. So fließen denn die Quellen über sein äußeres Leben ziemlich spärlich. Und doch war es bis in sein rüstigstes Mannesalter ereignisreich genug. Es stand, wie seine literarische Tätigkeit, vorwiegend unter dem Zeichen des Kampfes.

Weniger der treffliche, allen Anzeichen nach etwas strenge Vater wirkte auf die seelische Entwickelung des Knaben ein, als die gemütvolle, von liebevollem Ernste erfüllte Mutter. Beide Eltern gaben ihm das Vorbild unermüdlichen Fleißes in gewissenhafter Erfüllung der Pflichten, die ihnen die Lebensstellung auferlegte. Arbeit, rastlose Arbeit hieß die Losung, die Scherr von früh auf sich zur Richtschnur machte. Und er wich von ihr nicht ab bis an sein Ende. Ohne das hätte er nicht die reiche Fülle von Werken zu schaffen vermocht, die seinen Namen in weiteste Leserkreise trug und die von der Mißgunst seiner vielen Gegner und Feinde gerne als eine Überfülle bezeichnet wurde.

Wie so mancher Berühmtgewordene seiner Mutter ein Leid dadurch bereitete, daß er nicht nach ihrem Wunsche Geistlicher wurde, so auch Scherr. Als einen »Hairle«, Pfarrherrn, hätte ihn die mütterliche Liebe und der mütterliche Stolz gerne gesehen und bewundert. Es sollte nicht sein, ob auch der Johannes als Chorknabe in Gmünd oft das Rauchfaß schwang. Es tat ihm selbst weh, den Wunsch der innig geliebten Mutter nicht erfüllen zu können. Wann die Entscheidung fiel, ist nicht genau zu bestimmen. Vermutlich damals, als er die Schule zu Ehingen an der Donau besuchte. Das muß eine traurige Zeit für ihn gewesen sein. In der Pension bei dem gelehrten Pädagogen Wurst bekam er so schlechte, ungenügende Nahrung, daß bei seiner Heimkehr in den Ferien die Mutter ein schwerer Schrecken über sein schlechtes Aussehen befiel. An Entbehrungen fehlte es der Jugend Scherrs überhaupt nicht. Der Schulmeister von Hohenrechberg mußte eben mit seiner kinderreichen Familie sich schwer genug durchschlagen. Während der Gymnasialzeit nahm sich dann ein älterer Bruder des Jünglings an, Thomas. Dieser, Taubstummenlehrer in Gmünd, erhielt einen Ruf an die Blinden- und Taubstummenanstalt in Zürich und erwarb sich als ausgezeichneter Pädagoge bald solches Ansehen und solchen Einfluß, daß er mit der Leitung des staatlichen Lehrerseminars in Küsnacht betraut wurde. Die Verdienste Thomas Scherrs um die Hebung des Volksschulwesens im Kanton Zürich, aber auch über dessen Grenzen hinaus, sind bekannt. Unter seiner Aufsicht besuchte der Bruder Johannes das Gymnasium in Zürich. Auch hier brachten ihm die Tage wenig Jugendfröhlichkeit. In einer engen Gasse nahe bei dem Platze, wo später die fast einzig in ihrer Art dastehende Museumsgesellschaft von Zürich das Gebäude für ihre Lesesäle und ihre Bibliothek erstellte, bewohnte der Gymnasiast ein Dachstübchen. Er zeigte in späteren Jahren einmal einem Freunde das Fenster des Stübchens und sagte dabei: »Sieh, ich hatte es in meiner Jugend nicht zu gut; da droben mußte ich oft hungernd und frierend, ohne Gesellschaft und Freunde, lange Winternächte durchstudieren!«

Vom Gymnasium weg kam Scherr auf die Universität zu Tübingen und lag dort während der Jahre 1837 – 40 philosophischen, philologischen und geschichtlichen Studien ob. Von der Theologie als Berufsfach war keine Rede mehr; daß er aber doch auf diesem Gebiete sich tüchtig umgesehen, beweisen manche Ausführungen in seinen Werken. Er war in den biblischen Schriften tüchtig zu Hause. Der wissenschaftliche Geist kritischer Untersuchung, historischer Behandlung des Lehrstoffes auch auf den Lehrstühlen der Theologie durch Männer wie Baur, Schwegler, Strauß mußte den Studenten noch mehr in den freien Ansichten bestärken, die er offenbar schon durch eigene Prüfung im stillen gewonnen hatte. Scherr war zu freiem Denken, zu geistiger Unabhängigkeit von Natur aus veranlagt. Gewiß ging es auch bei ihm ohne innere Kämpfe nicht ab. Es klingt von solchen, wenigstens nach meinem Gefühle, etwas nach dort, wo er katholische Geistliche in seinen Erzählungen schildert oder wo er uns in Bildern aus der Religions- und Kulturgeschichte in das innerste Glaubensleben seiner Gestalten schauen läßt.

Es ging, so erzählte mir meine Mutter, später Scherrs Frau, eine Sage, seine Mutter sei um das Seelenheil des Sohnes sehr bekümmert gewesen, als er nicht Geistlicher werden wollte und als sie von seinen sehr freien Ansichten hörte. Eines Tages habe sie ihn schmerzlich bewegt gefragt: »Aber Hannes, wora glaubst denn au du?« Und er habe geantwortet: »An nix glaub i!« Wenn auch Scherr diese Antwort gegeben hätte, so bedeutete sie keineswegs ein atheistisches Glaubensbekenntnis. Er glaubte zeitlebens an ein Göttliches in der Leben bestimmenden und Leben gestaltenden Wahrheit und Macht des Ideales, etwa im Sinne Schillers, den er als den herrlichsten Propheten dieser Religion des Idealismus verehrte. Aber er glaubte nie an ein Dogma, weder ein religiöses, kirchliches, noch ein politisches, wissenschaftliches oder künstlerisches. Die Mutter aber fügte sich. In dem Buche »Blätter im Winde« berichtet Scherr: »Nicht alle frommen – im besten Sinne frommen – katholischen Mütter sind zugleich so verständig, wie meine eigene herrliche Mutter gewesen ist. Die merkte beizeiten, was für ein kurioser Heiliger von Hairle ich werden würde, und verzichtete aus freier Hand auf die Erfüllung ihres teuersten Lebenswunsches. Ja, beim Zeus, so hätte ich getan, und jetzt wär' ich – es rieselt mir bei dem Gedanken ein kalter Schauder über den Rücken – einer der Unglücklichen, welche so tun, als glaubten sie an unbefleckte Empfängnisse, Syllabuse, Vatikana und dergleichen alleinseligmachende Herrlichkeiten mehr. Vielleicht hätte ich es gar zum Bischof gebracht – wer weiß?«

Wie schon am Gymnasium, mußten wohl auch in den Studienjahren Privatstunden den beschränkten Mitteln ein wenig Zuschuß verschaffen. Scherr war nicht nur Studierender, sondern auch Student, das will sagen, er genoß, soweit es die Mittel gestatteten, die Fröhlichkeit studentischen Lebens mit Kameraden. Angeborener Humor, schlagfertiger Witz machten ihn zu einem guten Gesellschafter. Aber die wissenschaftliche Arbeit erlitt nie Abbruch durch die Fröhlichkeit. Bei dieser Arbeit kamen ihm eine Anzahl von Gaben zu Hilfe, um die ihn mancher beneiden mochte: leichte, rasche Auffassung, sicherer Überblick, philosophischer Weitblick, die Kunst, sich nicht an das Einzelne, an das Kleine und Unbedeutende zu verlieren, und eine ganz außerordentliche Gedächtniskraft. Man wird den Betätigungen und Wirkungen dieser Gaben reichlich in den Werken Scherrs begegnen.

Ausgerüstet mit reichen Kenntnissen, mit Schaffenskraft und Schaffenslust, geschmückt mit dem Doktorhut, verließ Scherr die Universität, um als Lehrer an einer Privatanstalt zu wirken, die sein Bruder in Winterthur gegründet hatte. Thomas Scherr war nämlich 1839 infolge des »Straußenputsches«, der Septemberrevolution in Zürich, als Anhänger der sogenannten Glaubensverächter seines Amtes der Seminarleitung entsetzt worden. Hans Scherr – Hans nannte er sich damals selbst gerne, und so nannten ihn auch die Freunde und Bekannten – unterrichtete die Zöglinge in Literatur und Geschichte. Beide Brüder arbeiteten damals ein gemeinschaftliches Werk aus: »Gemeinfaßliche Geschichte der religiösen und philosophischen Ideen«, ein Buch, das dann Hans Scherr viele Jahre nachher (1855) ganz selbständig umgearbeitet und bereichert als »Geschichte der Religion« erscheinen ließ.

Es war aber dem jungen Manne nicht gegeben, sich nun auf nur lehrhafte und literarische Tätigkeit zurückzuziehen. Er liebte sein deutsches Vaterland und seiner schwäbischen Heimat Volk von ganzer Seele. Er kannte dessen Verhältnisse und Bedürfnisse, sowie die gedrückte Lage der untern Volksschichten. Und da er von früh auf ein Herz hatte für die Gedrückten und um ihre natürlichen Rechte Gebrachten, so trat er für sie ein. Nachdem die revolutionären Ausbrüche von 1830 die Kirchhofruhe der Reaktion doch gestört hatten, ließ sich das Verlangen nach zeitgemäßem Zuständen in Staat und Gesellschaft nicht mehr unterdrücken. Es gärte in den Massen, zumal auch in den Kreisen der Gebildeteren von Beginn des vierten Jahrzehntes an immer kräftiger. Die untern Stände begehrten größere Rechte, stärkere Mitbeteiligung an der Verwaltung des Staates, Erleichterung von so manchen Lasten, die sie hauptsächlich zugunsten der bevorrechteten Stände zu tragen hatten. In einem Bauerndorfe aufgewachsen, hatte Scherr die Leiden des Volkes aus eigener Anschauung kennen gelernt und die Beschwerden eines mit Entbehrung und Not kämpfenden Daseins an sich und den Seinen verspürt. Noch sang er zwar 1841 bei Gelegenheit der 25 jährigen Regierung König Wilhelms von Württemberg dem Herrscher für seine Verdienste um das Land ein Loblied, darin es heißt:

»Du hast, von allen Guten hochbewundert,
Bewiesen stets, daß nie du das Jahrhundert
Verkennen wirst,
Du öffnetest des Königsschlosses Pforten
Dem Geist der Zeit, drum ist es dir geworden:
Zu sein Europas populärster Fürst.

O sei, wie du in Jugendjahren
Bekämpft für uns des Erbfeinds Scharen,
Auch jetzt ein Schild
Der deutschen Freiheit und der deutschen Ehre« ...

Aber in der Schrift »Württemberg im Jahre 1843« deckte er die Übelstände in Kirche, Schule und Staat rücksichtslos auf. Der König, dem die Schrift zu Gesicht kam, erwies sich einsichtiger als seine Beamten, die sie der Zensur denunzierten und polizeilich auf sie fahnden ließen. Er befahl die Freigebung des Verkaufes. Ob er wohl anerkannte, daß die Angriffe auf die Regierung auch »aus eines treuen Schwabenherzens Grund« kamen, wie Scherr es von seinem erwähnten Huldigungsliede an dessen Schlusse sagte? Wenn der König auch die Sammlung »Laute und leise Lieder« gelesen hatte, die Scherr 1842 veröffentlichte, so konnte er keinen Augenblick im Zweifel sein, wes Geistes Kind der Dichter sei; von Schmeichelei ist ja in dem Liede nichts zu finden, und das ganze Liederbuch atmet den Geist der Freiheit. Die Widmung des ersten Teiles: »Allen Reaktionären« spricht schon deutlich genug. Man kann in dem Büchlein schon den ganzen Scherr, wie er sich später entfaltete, nach seinen Grundzügen wahrnehmen. Er fühlt sich als einen der Ritter des Geistes, die berufen sind, die Völker aus der Knechtschaft herauszuführen. Jugendliche Begeisterung, unabgeklärt zwar, aber hoffnungsfreudig und glaubenssicher, spricht aus dem Eingangsgedichte, dem folgende Zeilen entnommen seien:

»Was so gewaltig uns entflammet,
Gestärkt zum kühnsten Adlerflug? –
Es ist der Geist, der Gott entstammet,
Der uns zu seinen Rittern schlug.
Der Strahl, der von Prometheus Fackel
Einst seelenschaffend aufgeflammt,
Der von uns nahm den Sklavenmakel,
Dem alles Göttliche entstammt;

Der Himmelsfunke, der einst Mosen
An Horebs Felsenhöhn erschien,
Damit er aus der Knechtschaft Gosen
Vor seinem Volke möge ziehn. –
Der hat sich über uns ergossen
Und hat auch meine Stirn berührt
Und hat, auch mich als Streitgenossen
Zu diesem heil'gen Kampf geführt.

Ich opferte der Jugend Kränze
Auf meines Ideals Altar,
Ich ward in meines Lebens Lenze
Zum ernsten Mann mit grauem Haar.
Des Jünglings träumerisches Sehnen,
Der Freundschaft köstlichen Gewinn,
Der ersten Liebe Lust und Tränen –
Das alles gab ich willig hin.

Ob mich der Mutter Bitten mahnen,
Der Liebsten Aug' von Zähren taut,
Ich stellte mich zu deinen Fahnen
O Freiheit, stolze Männerbraut!
Daß dir nur und der hohen Schwester,
Der Wahrheit, ich verbunden sei,
Daß stets gewaltiger und fester
Die Losung rufe: Wahr und frei!«

In der Tat, Scherr opferte manches, was sonst als Lebensfröhlichkeit und Genuß der Daseinsfreude die Jugend schön macht, um sich die Waffen im Kampfe für seine Ideale, Wahrheit und Freiheit zu gewinnen. Er bebte auch vor einem Bruche der herzlichen Beziehungen in der Familie nicht zurück. Die letzte der mitgeteilten Strophen redet deutlich genug davon. Hatte die Mutter einst in dem Sohne Hans den künftigen Priester gesehen, – er wollte ein Verkündiger der Wahrheit, ein Verteidiger der Freiheit sein.

Unter dem Zeichen des Kampfes, sagten wir, stand Scherrs Leben. Der Ausdruck »Kampf ums Dasein« war in jenen Tagen noch nicht so gebräuchlich wie später. Aber Scherr hätte ihn im ernstesten Sinne des Wortes von seinem damaligen Lose gebrauchen können. Es galt für ihn, einen harten Kampf um das Brot zu führen. 1843 siedelte er von Winterthur nach Stuttgart über, die Liebe im Herzen. Die geschiedene Frau eines Winterthurer Kaufmanns hatte dieses Herz gewonnen, Maria Susanna Kübler, die Tochter eines vortrefflichen Lehrers, im Institut von Niederer, Pestalozzis Mitarbeiter, zu Yverdon tüchtig ausgebildet. An den neu gegründeten Herd nahm er auch zwei Söhne aus der ersten Ehe seiner Gattin mit und hielt sie mit einer Liebe, als wären sie seine eigenen gewesen. Die Arbeit mit der Feder mußte die Mittel für den Unterhalt der Familie einbringen. Eifrige geschichtliche und literarische Studien legten den Grundstock zu den Geschichtswerken, die im folgenden Jahrzehnt erschienen und von des Verfassers ungemeiner Belesenheit, sowie von seinem durchaus unabhängigen und freimütigen Urteil Zeugnis ablegten. Nebenher gingen Übersetzungen von Romanen berühmter ausländischer Dichter und Schriftsteller, entstanden aber auch Schöpfungen der eigenen dichterischen Phantasie, Erzählungen, Novellen und Romane (»Ein Priester«, »Der Prophet von Florenz«, »Reicher Bursch und armes Mädchen«, »Die Waise von Wien«).

Vermöge ihrer tüchtigen fremdsprachlichen Bildung unterstützte Frau Schert den Gatten aufs beste in der Übersetzungsarbeit. Zeitlebens anerkannte er dankbar die treue Hilfe seiner Gattin. Er lag in jener Zeit einmal lange schwer krank danieder. Da griff sie zur Feder, um aus dem Schatze ihres Wissens und Könnens auch Eigenes zu bieten. Und sie führte die Feder gut in Fachzeitschriften für die Frauenwelt, voll tiefen Verständnisses für die ethische und volkswirtschaftliche Bedeutung richtig geführten Hauswesens. Sie führte auch den Zeichenstift und Pinsel gut. Zeugnisse dessen sind ihre trefflichen illustrierten Kinderbücher, die mit ihrer dem kindlichen Sinne wohl angepaßten naiven Plastik der Zeichnung und Farbengebung jetzt noch ihresgleichen suchen. So half sie mit im Kampfe um die Fristung des Lebens. Eine solche Mitarbeiterin an der Seite, blickte Scherr nach seiner Genesung wieder froher in die Zukunft und betrat etwas sorgenloser den Schauplatz des politischen Lebens.

Immer bewegter gestaltete sich dieses vom Jahre 1847 an, und beim Beginne des folgenden gingen die Wellen des öffentlichen Lebens in Württemberg hoch. Die Teuerung führte in Stuttgart zu einem Brotkrawall, Waffengewalt schlug ihn nieder. Die erregte Stimmung machte sich Luft in einer Wählerversammlung zu Stuttgart am 17. Januar, die eine Reihe zeitgemäßer freiheitlicher Forderungen an die Regierung stellte. Als der König nur einiges bewilligte, anderes nur unbestimmt versprach, wurden die Forderungen auf Versammlungen in der Hauptstadt und in Tübingen – hier z. B. auch von Ludwig Uhland – kräftig erneuert. Das Ministerium Schlayer stürzte, das von Römer trat an die Stelle. Es wurde ein neuer Landtag gewählt. Geislingen, das bis dahin durch Römer vertreten war, entsandte Scherr als Abgeordneten in den Landtag. Seine Wahl wurde von der Regierung beanstandet, weil er damals zu den Deutschkatholiken zählte und nach der Verfassung nur Zugehörige einer der drei im Lande anerkannten christlichen Konfessionen wählbar waren. Aber unter stürmischem Beifall der Kammer und der Galerien wurde nach einer Rede Schoders die Wahl Scherrs mit 62 gegen 28 Stimmen anerkannt, nicht zur Freude der Regierung. Denn er zählte zu den Radikalen, zu der Partei, die mit dem zahmen Vorgehen des Märzministeriums unzufrieden war, ebenso mit dem Frankfurter Parlament, weil es zuviele Zeit auf Reden verschwendete, statt schöpferisch fortschrittlich zu wirken. War das nicht der Scherr, der vor nicht langem in einem stürmischen Auftritte das Bildnis des Königs von Preußen, nach einer Erzählung, oder die Asche des verbrannten Bildnisses nach anderer, in den Feuersee bei Stuttgart geworfen hatte? Allem Anschein nach trug sein Gebaren in jenen Tagen etwas Heftiges an sich. Einer seiner liberalen Gegner erzählt (Reyscher, »Erinnerungen«): »Als jüngstes Mitglied saß Scherr (in der Kammer) auf der obersten Bank, und zwar unmittelbar hinter mir, und so ergoß sich über meinem Haupte und dem vor mir in erster Reihe sitzenden Ludwigsburger Abgeordneten Dr. David Friedrich Strauß manche fulminante politische Rede. Scherr war eine frische, begabte, aber noch unvergorene Natur. Besonders gern donnerte er gegen die Nationalversammlung.« Er donnerte auch gegen Strauß, unzufrieden mit dessen zurückhaltender politischen Rolle. Er soll ihn auch in einer Flugschrift bekämpft haben und so geärgert, daß der berühmte Verfasser des Lebens Jesu aus der Kammer austrat. Dem »Landesausschuß« der Volksvereine gehörte er als tätiges Mitglied an. Im Winter 1848 – 1849 trieb er in zündenden Reden im Abgeordnetenhause eifrig Politik für Deutschlands Einheit und größere Machtstellung. Im Laufe des Frühlings spitzte sich der Gegensatz zwischen der liberalen Regierung und der radikalen Partei immer schärfer zu. Die neue Reichsverfassung war endlich unter Dach gebracht. Der König von Preußen schlug die Kaiserkrone aus und schalt sie einen »Reif aus Dreck und Letten«. Die Reichsverfassung anerkannte er auch nicht. Die württembergischen Radikalen drangen um so eifriger auf deren Anerkennung im eigenen Lande. Abgeordnete ihrer Partei traten mit den Aufständischen in der Pfalz und in Baden in Verbindung. Auf der großen Volksversammlung zu Reutlingen an den Pfingsttagen, die sehr weitgehende Forderungen an die Regierung beschloß, war Scherr einer der Hauptredner. Zu den Forderungen gehörte auch die, die Regierung solle sich mit den pfälzischen und badischen Aufständischen verbünden. Ein geheimer Wehrausschuß, in dem auch Scherr saß, sollte die Durchführung dieser Verbündung fördern. Die Sprengung des Rumpfparlamentes am 17. Juni durch den Minister Römer erbitterte die Radikalen aufs äußerste. Es mußte bald zur Katastrophe kommen. Römer war entschlossen, die radikale Partei als eine revolutionäre, vaterlandsverräterische unschädlich zu machen. Die Republikaner galten ihm als Feinde des Landes. Scherr, offenbar schon während seines Aufenthaltes in der Schweiz dafür empfänglich geworden, bekannte sich auch zum Republikanismus. Er sollte verhaftet werden, wurde aber noch rechtzeitig gewarnt. Obgleich das Haus schon von militärischer Wache umstellt war, gelang die Flucht auf der Rückseite, die unmittelbar an einen großen Friedhof grenzte. In einem versteckt bereit gehaltenen Wagen gelangte er glücklich an eine Haltestelle der Eisenbahn nach Friedrichshafen. Hätte es damals in Württemberg schon Telegraphen gegeben, wie kurze Zeit darauf, der Flüchtige wäre wohl nicht entkommen. So aber erreichte er rechtzeitig in Friedrichshafen ein Schiff, das ihn nach der Schweiz in die Freiheit hinüberführte: ein glückliches Geschick zu nennen beim Gedanken daran, daß er wegen angeblichen Landesverrates zu fünfzehn Jahren Kerker auf Hohen-Asperg verurteilt war, dort, wo einst sein Landsmann, der Dichter Schubart, düstere Kerkerjahre vertrauert hatte.

Nur zweimal noch besuchte er später Deutschland, das eine Mal im Jahre 1878, als er sich von dem Leide über den Tod seiner Gattin zu zerstreuen suchte, und das andere, als er einen Ferienaufenthalt in Heiligenberg am nördlichen Ufer des Bodensees machte. Ich habe einigen Grund zu vermuten, daß er von Heiligenberg aus auch einen kurzen Abstecher in seine alte Heimat unternahm und die Stätten wieder betrat, auf denen er einen Teil seiner Jugend verlebt hatte. Er verwand das Heimweh nach seinem Vaterlande nie ganz, so gerne er dankbar anerkannte, die gastliche Schweiz sei ihm zur zweiten Heimat geworden. Von tätiger Politik wandte er sich seit seiner Flucht gänzlich ab, verfolgte aber die Vorgänge in seiner alten Heimat mit teilnehmender Aufmerksamkeit. Und als dann in den sechziger Jahren in Deutschland die Bestrebungen und Ereignisse eine erfreuliche Wendung zur Verwirklichung der deutschen Einheit nahmen, als gar 1871, nach den ruhmvollen Siegen der deutschen Heere über den alten Erbfeind im Westen das neue Reich unter einem neuen Kaiser erstand, da freute er sich von ganzem Herzen mit. So ganz anders freilich war ja das neue Reich gekommen, als die Achtundvierziger, zumal die Radikalen, wie er, seinerzeit es angestrebt hatten; sozusagen durch eine Revolution von oben, die ein ehemaliger grimmiger Feind der Revolution von 1848 – 1849 in die Wege gebracht hatte, der geniale pommersche Junker von vordem, Bismarck. Erfüllten sich auch im neuen geeinten Deutschland lange nicht alle Blütenträume des »Völkerfrühlings«, über den die Stickluft erneuter Reaktion so niederdrückend hereingebrochen, – es war doch eine und die andere Blüte jenes Frühlings nicht ganz geknickt worden und zeitigte jetzt erhebende Frucht. Doktrinäre und Parteifanatiker machten es Scherr zum Vorwurf, daß er sich dieser »Errungenschaften« doch freute, so sehr ihm manches daran auch nicht zusagte. Sie beschuldigten ihn der Untreue an seinen Grundsätzen. Es ist jedoch nicht wahr, daß er ihnen untreu wurde. Er blieb zeitlebens Republikaner. Aber die Zeit und gereifteres Urteil hatten ihn, den Historiker, belehrt, daß er im »Völkerfrühling« eben noch vielfach jugendlich-schwärmerisch in Wolkenkuckucksheim gewandelt war und über dem Wünschbaren das Erreichbare nicht erkannt hatte. Er war unbefangen genug, die Größe der Arbeit auch an politischen ehrlichen Gegnern zu würdigen. Deutschland hatte wieder etwas zu sagen im großen Völkerkonzert, konnte wieder rüstig arbeiten an der hohen Kulturmission, die ihm nach Scherrs guter Überzeugung in der Weltgeschichte zufiel; an dieser Tatsache labte sich Geist und Gemüt des Mannes, der sein Volk und Vaterland so heiß liebte. Mit seiner Freude über diese Wendung der Dinge befand er sich in guter Gesellschaft, in bester sogar. Die Briefe im Buche »Blätter im Winde« bekunden, wie diese Freude ihn nicht hinderte, auch die Gebrechen des neuen Reiches rücksichtslos aufzudecken.

Doch zurück zur Gestaltung seines Lebens in seiner »zweiten Heimat«. Bis 1852 hielt er als Privatdozent Vorlesungen an der Universität zu Zürich, Dann siedelte er nach Winterthur über und hielt dort in demselben Hause, wo er einst mit seinem Bruder Thomas an dessen Erziehungsanstalt gearbeitet hatte, eine Pension für junge Leute, die er und seine Gattin unterrichteten. Seit 1856 zog er sich ganz auf schriftstellerische Arbeit zurück, erteilte aushilfsweise auch einige Zeit Unterricht in den alten Sprachen am Gymnasium der Stadt und besorgte eine Weile die Redaktion des »Landboten«, einer politischen Zeitung, für deren Spalten mancher witzige Artikel seiner Feder entfloß. Die Hauptbeschäftigung aber blieb, seit der Flucht in die Schweiz, literarischer Art. Ihr entstammten: »Der Student von Ulm«, ein Zeit- und Sittengemälde aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, die Novelle »Graziella«, »Die Pilger der Wildnis«, »Nemesis«, »Die Tochter der Luft«, »Michel«, die Geschichte eines Deutschen unserer Zeit, die kulturgeschichtliche Novelle »Schiller«, »Rosi Zurflüh« und andere erzählende Dichtungen, sowie die Werke: »Deutsche Kultur- und Sittengeschichte«, »Allgemeine Geschichte der Literatur«, »Geschichte der deutschen Literatur«, »Geschichte der englischen Literatur«, »Geschichte der Religion«. Eine gewaltige Summe von Arbeit steckt in diesen Büchern. Der unermüdliche Fleiß, der Schaffensdrang Scherrs brachte sie zustande. Sein bewundernswertes Gedächtnis unterstützte ihn dabei. Außer seiner eigenen damals schon umfangreichen Bibliothek bot ihm die reiche, wohlgeleitete Stadtbibliothek von Winterthur treffliche Hilfsmittel. Das Beste und Schönste aber, was er in diesen Jahren geschrieben, war die Festgabe auf die Jahrhundertfeier der Geburt des großen schwäbischen Dichters, das Buch: »Schiller und seine Zeit«. Hat auch die Quellenforschung seither zum Bilde des Dichterkönigs noch diesen und jenen beleuchtenden, bereichernden und berichtigenden Zug beigebracht, das Bild, das Scherr von ihm auf dem klar gezeichneten Untergrunde der damaligen Zeit entwarf, tritt in plastischer Deutlichkeit hervor. Alle Züge sind wohlgetroffen. Sie spiegeln das innere Leben und Wesen des Dichters und seine kampfreiche Entwickelung leichtfaßlich wieder. Das Buch ist mit feiner, tiefer Seelenkenntnis, mit voller Herzenswärme geschrieben, ohne alle Überschwenglichkeit, mit einer Begeisterung, die auch den Leser mit warmer Begeisterung erfüllt. Der Verfasser hätte von dem Dichter mit Wahrheit sagen dürfen: »Deines Geistes hab' ich einen Hauch verspürt«. So war er denn auch der geeignete Mann, an der Schillerfeier die Festrede zu halten. In Winterthur waltete von jeher ein reges geistiges Leben. Es gab dort immer Männer, die in ihren Anschauungen und Bestrebungen mit den Forderungen der Zeit Schritt hielten. Scherr gewann sich dort eine Anzahl wohlgesinnter Freunde und Bekannter, mit denen er gerne gesellschaftlich zusammenkam, so den trefflichen, feurigen Karl Morell, Geschichtschreiber und begabten Dichter, so den Maler und vorzüglichen Dialektdichter August Corrodi, ferner Theodor Kirchner, den feinsinnigen Komponisten und immer noch zu wenig gewürdigten »Klavierdichter«, den kunst- und literaturfreundlichen Großkaufmann Salomon Volkart und andere geistig Strebsame. In den Familien der Geschwister seiner Gattin fühlte er sich heimisch, und so erleichterten ihm gemütliche Beziehungen den Kampf mit der Sorge um das äußere Leben, den er um so angestrengter fort und fort zu führen hatte, als ihn zweimal fallit gewordene Verleger um den Lohn seiner Arbeit brachten.

Das Jahr 1860 erfüllte Wunsch und Hoffnung, die Scherr immer gehegt hatte. Es stellte ihn ins höhere Lehramt. Er wurde zum Professor der allgemeinen Geschichte am eidgenössischen Polytechnikum zu Zürich ernannt. Da befand er sich nun gerade am rechten Platze. Der Präsident des eidgenössischen Schulrates, Kappeler, würdigte Scherrs umfassende geschichtliche Gelehrsamkeit, er berücksichtigte aber auch die besondere Art, in welcher an einer technischen Hochschule Geschichte vorgetragen werden muß, nämlich zunächst nicht für solche Hörer, die später selbst gelehrten Studien im Fache obliegen wollen, sondern für solche, zu deren allgemeiner Bildung auch ein Einblick in die geschichtliche Entwickelung der Völker gehört. Die Vorlesungen über Geschichte sollten im Studiengange der jungen Techniker ein Gegengewicht bilden gegen die Einseitigkeit und Ausschließlichkeit des Stoffes der Fachstudien. Sie mußten wohl belehrend, aber auch anziehend wirken. Scherr erfüllte seine Aufgabe ganz nach den Absichten der Behörde. Solange er an der Anstalt wirkte, konnte er vor einem vollen Hörsaale vortragen. Sein Vortrag fesselte immer durch Inhalt und Form. Er trug stets frei vor, ob er auch die Vortragshefte, bis ins einzelne schriftlich sauber ausgearbeitet, auf das Katheder mitnahm. Er beherrschte Stoff und Sprache gleich sicher. Es war keine elegante, aber eine um so kräftiger eindringende Beredsamkeit, die den reichen Inhalt in geeigneten Ausdruck kleidete. Ob er Abschnitte aus der neuen und neuesten Geschichte behandelte, was er aus gutem Grunde mit Vorliebe tat, oder Bilder aus dem Mittelalter entrollte, oder große Gestalten des Altertums vor den Hörern wieder lebendig werden ließ, immer lag ein tiefer ethischer und erzieherischer Ernst zugrunde. Daß er ihn etwa durch den Humor einer guten, selbst derben Anekdote oder witzigen satirischen Bemerkung unterbrach, machten ihm Neider und Gehässige zum Vorwurf. Sie entblödeten sich denn auch nicht, einmal einen heftigen Sturmlauf gegen ihn zu unternehmen. Freimütige Bemerkungen Scherrs über gewisse Eigenschaften der Völker im Balkan hatten diesen zugehörige Studierende erzürnt. Die jungen Leute wurden gehetzt und zur Klage bei der Schulbehörde veranlaßt, Scherr mißbrauche sein Lehramt und trage unwahre und unziemliche Dinge vor. Eine genaue Prüfung der Angelegenheit durch die Behörde führte aber zu einer Abweisung der Klage, und die Feinde, die schürend hinter den Anklägern standen, erreichten das Ziel der Absetzung des verhaßten Kollegen nicht. Der Vorfall ging dem Angefeindeten tief zu Herzen, aber es tröstete ihn auch, die Tatsache, daß eine große Zahl seiner Zuhörer – meist befanden sich auch schon greise, wissenschaftlich gebildete Männer unter ihnen – mit allem Nachdrucke für ihn einstand. Die haßerfüllten Neider mußten ihn fortan in Ruhe lassen. Scherr gewann sich als Lehrer manchen treuen Schüler und Anhänger. Solchen, die Geschichte um des Faches selbst willen eingehender studierten, stand er gerne mit seiner umfassenden Kenntnis und mit trefflichen Anleitungen und Ratschlägen zu Diensten. Diese Beratenen, sowie überhaupt alle Unbefangenen, wußten auch die wissenschaftliche Bedeutung wie der hervorragendsten Werke, so der lehramtlichen Tätigkeit Scherrs wohl zu schätzen.

Gerade die letztere regte ihn immer wieder zur Schaffung neuer Werke an. So entstanden, nachdem 1860 die »Geschichte der deutschen Frauen« vorangegangen, die bedeutenden Werke: »Blücher. Seine Zeit und sein Leben« (1862), »1848-1851. Ein weltgeschichtliches Drama« (1868), »Menschliche Tragikomödie« (1874, eine Sammlung geschichtlicher Essays), »1870–71. Vier Bücher deutscher Geschichte« (1879), »Germania. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens« (1878). Nebenher erschienen in einzelnen Büchern, wie »Größenwahn«, »Blätter im Winde«, »Heidekraut«, »Hammerschläge und Historien«, Studien und Aufsätze über Stoffe aus dem Gebiete der allgemeinen, der Kultur- und der Literaturgeschichte. Es war außer der angeborenen Begabung dafür die zurückgezogene Lebensweise und die genaue Einteilung der Zeit, welche Scherr diese schriftstellerische Fruchtbarkeit ermöglichten. Bei ihm hieß es auch: »Nulla dies sine linea«, kein Tag ohne Arbeit, Er sprach gerne vom »Evangelium der Arbeit« als einer ersten sittigenden und sittlichen Macht und hielt sich selbst getreulich daran; jeder, der es nicht tat und doch von den anderen zehren wollte, galt ihm für verächtlich und keiner Unterstützung wert; dem würdigen armen Arbeitsamen aber hielt er Herz und Hand offen. Die Bequemlichkeit und die Unfähigkeit warfen ihm gerne Überfülle seiner schriftstellerischen Arbeit vor und suchten mit ihr deren allgemeine Minderwertigkeit zu begründen. Es ist darüber vor Billigdenkenden kein Wort zu verlieren. Scherr wußte noch besser als die liebe neidige Impotenz, daß nicht alle Erzeugnisse seiner Feder auf gleicher Höhe standen; aber das wußte er auch, daß er mehr und Besseres vermochte als die Neidgrünen. Er hat ihnen darum auch in diesem und jenem kräftigen satirischen Ausfall gehörig heimgeleuchtet.

Von seiner Übersiedelung nach Zürich an pochte die Nahrungssorge nicht mehr an Scherrs Türe. Bei seinen bescheidenen Ansprüchen an Lebensgenuß gewährte ihm Lehramt und Arbeit die Mittel zu einem behaglichen Dasein. Herzliche Freundschaft verband ihn bald mit einigen seiner Kollegen, besonders mit dem Chemiker Bolley, Direktor des Polytechnikums. An Samstagabenden kamen die Freunde im Café Merz beim Polytechnikum zusammen, und die Gesellschaft sprudelte von Laune und Witz, und Scherr und der geniale Semper gaben sozusagen den Ton an. Eine Ironie des Lebens lag darin, daß auch der Sohn des Herausgebers der »Freitagszeitung«, die einst wütend mitgeholfen hatte im »Straußenputsch« und bei der Sprengung des Seminardirektors Thomas Scherr, sich an Johannes Scherr enge anschloß und ihm bis zum Tode ein treuer Freund blieb. Einen Teil der Sommerferien brachte Scherr regelmäßig zur Stärkung seiner leiblichen Kräfte an einem schön gelegenen Kurorte der Schweiz zu. Ragaz, Stachelberg, Interlaken, der Weißenstein bei Solothurn, Schönfels auf dem Zugerberg waren seine bevorzugten Aufenthalte. Die Freude der Erholung hätte ihm nur als eine halbe gegolten, hätte sie seine Gattin nicht mit ihm geteilt. Besonders die novellistischen Arbeiten Scherrs verraten, welch ein begeisterter Freund schöner Natur er war. Die Alpen taten es ihm immer und immer wieder an. Er unternahm manche Wanderung in denselben, bis in die Mitte seiner fünfziger Jahre eine rüstige Gestalt, etwas über mittelgroß, gleichmäßig gebaut, über der stark gewölbten Brust ein kräftiger Hals, der einen ebenmäßig gebauten Kopf mit hoher Stirne und von Willensstärke sprechenden, scharf geprägten Gesichtszügen trug. Etwas derb geformt, aber nicht unschön, ließen Nase und Mund auf unter Umständen auch etwas derbe Art schließen. Das Auge blickte offen, treu und frisch. Die sehr mäßige Lebensweise erhielt diese Gestalt lange bei Kräften, und die frische Luft der Berge verjüngte diese jeweilen. Auch in späteren Jahren noch erwachte in ihm angesichts der Majestät der Alpennatur eine andächtige Stimmung, ähnlich wie damals, als er in jungen Tagen zum erstenmal auf Rigikulm stand und zu den Versen angeregt wurde:

»O Herr, du hast mit jedem Zauberreiz
Geschmückt dein liebstes Erdenkind, die Schweiz,
Und segnend hauchet drüber hin dein Odem;
Hier fühlt sich innig dein Zugegensein,
Ob uns umduften Alpenlüfte rein,
Ob uns umdampft der Schlüfte Brodem.«

(»Laute und leise Lieder«, S. 56.)

Und wie er die Natur als Ganzes liebte, an ihr und in ihr sich gerne erhebend und erbauend, so auch einzelne ihrer Gestaltungen, wie Blumen und Haustiere. Seine Wohnung mußte in einem Garten stehen, und in dem Garten erging er sich gerne, wenn die angestrengte geistige Arbeit ihn ermüdet hatte. Erst die letzten Jahre seines Lebens wohnte er in einem Hause ohne Garten. Doch boten die Fenster eine herrliche Aussicht auf Parkanlagen, den Zürichsee und die Alpen. Er wartete gerne eines Kanarienvogels oder eines anderen gefiederten Sängers in der Wohnstube, und solange es die Verhältnisse der Wohnung gestatteten, hielt er einen Hund und eine Katze, die regelmäßig beim Essen am Tische saßen und für die von ihm dargereichten Spenden mit gesittetem und manierlichem Benehmen dankten. Es war eine traute Häuslichkeit, die ein geordnetes, regelmäßiges Arbeiten erleichterte. An Besuchen von Einheimischen und Auswärtigen fehlte es nicht. Unter den letztern befanden sich ausgezeichnete Männer von literarischem Rufe und politischem Ansehen, die mit dem freimütigen Schriftsteller gerne eine Verbindung anknüpften und ihre Ansichten austauschten. Und wenn ab und zu ein alter Achtundvierziger einkehrte, dann gab es ein fröhliches Wiedersehen und ein Auffrischen von Erinnerungen an die Tage des gemeinsam durchlebten und kampfreichen »Völkerfrühlings«. Häufig stellte sich aus Leipzig der Hauptverleger von Werken Scherrs ein, der rührige Otto Wigand, durch gleichartige Anschauungen und Gesinnungen mit Scherr in edler Freundschaft verbunden. Die mit Wigand in der Schweiz verlebten Tage zählte Scherr immer zu den schönsten. Daß er einen ziemlich ausgedehnten Briefwechsel mit bedeutenden Männern und auch Frauen führte, so sehr er sonst die Arbeit unterbrechende Briefschreiberei gerne vermied, erklärt sich aus der Stellung und Bedeutung Scherrs von selbst. Leider ist von den Briefen anderer an ihn wenig, sehr wenig vorhanden, und es schwebt über dieser Tatsache ein gewisses Dunkel. Es wäre aber für einen Biographen sehr dankenswert, wenn ihm Scherrs Briefe an Freunde, Bekannte oder auch Feinde zugestellt würden. Es könnte daraus wohl mancher schätzenswerte Beitrag zur Zeichnung seines Bildes gewonnen werden. Von denen, mit welchen er regelmäßiger Briefe wechselte, seien außer Otto Wigand besonders der gehaltvolle Dichter Julius Mosen und der Dichter und Ästhetiker Moritz Carriere genannt.

Im Februar 1873 beugte ihn ein harter, schwerer Verlust danieder. Seine Gattin wurde ihm infolge eines Schlaganfalles binnen wenigen Stunden durch den Tod entrissen, Scherr trat sonst mit seinen innersten und vertraulichsten Empfindungen nicht gerne vor ein großes Publikum. Aber damals ließ er es in einem herzbeweglichen Nachruf in der »Gartenlaube« weiteste Kreise wissen, wieviel er an dieser trefflichen Frau verlor, die ihm durch manche Jahre der Sorge und Not als eine unverzagte Mitkämpferin und Mitarbeiterin zur Seite gestanden hatte. Er schloß sich nun um so inniger an die Verwandten der Entschlummerten an, zumal an die noch lebenden Söhne aus ihrer ersten Ehe, denen er von Anfang an eine treu besorgte, wahrhaft väterliche Liebe zugewandt hatte. Erst einige Jahre später entschloß er sich mit Rücksicht auf das nahende höhere Alter und dessen Bedürfnisse, eine zweite Ehe einzugehen. In Maria Lüthy von Solothurn fand er wieder eine Lebensgefährtin, die ihm eine neue angenehme Häuslichkeit zu schaffen verstand. Er nahm seine Lehrtätigkeit und seine schriftstellerische Arbeit mit erneutem frischem Mute wieder auf. Ein Sohn und eine Tochter aus der zweiten Ehe brachten zu seiner herzlichen Freude wieder junges Leben in den Haushalt. Aber schon machten sich Spuren des höheren Alters in Krankheitsanfällen öfter bemerkbar, was ihn bewog, 1880 sein Testament aufzustellen. Ein Ohrenleiden – solches war in der Familie heimisch; den Bruder Thomas befiel in seinen letzten Jahren Schwerhörigkeit bis fast zur Taubheit – quälte ihn immer schmerzlicher. Eine schwere peinvolle Operation (1884) befreite ihn zwar davon; aber seine Gesundheit blieb von dieser Zeit an schwer erschüttert, nachdem schon ein Jahr zuvor eine heftige Lungenentzündung an seinen Kräften gerüttelt Hütte. Zunehmende Herzschwäche ließ den Körper immer weniger widerstandsfähig werden gegen neue Krankheitsanstürme. Im Mai 1886 erfolgte ein heftiger in Gestalt einer Rippenfellentzündung. Sie brach die Kraft des Mannes, der noch so gerne seines Amtes und seiner Arbeit treu und gewissenhaft gewartet hätte, wie er es bis dahin, oft unter heftigen Schmerzen getan hatte, und der im Hinblick auf das zarte Alter der Kinder und auf die Zukunft der Gattin noch so gerne länger gelebt hätte. Ein bemitleidenswertes Siechtum fesselte ihn den Sommer über an das Lager. Er machte willensstark einige Male den Versuch, in sein geliebtes Arbeitszimmer hinüberzugehen, die Schwäche zwang ihn jedoch, wieder davon abzustehen. Die opferwillige Pflege der Gattin, die Beweise herzlicher Teilnahme von nah und fern erfreuten ihn. Mit Besuchern unterhielt er sich gerne, ungebrochenen Geistes bis zuletzt. Anfälle schwerer Atemnot ließen ein nahes Ende voraussehen. Er sah ihm mit philosophischer Ruhe und Ergebung entgegen. Unerwartet schnell trat es dann am 21. November 1886 ein. Mit einem Seufzer atmete er das Leben aus, nachdem er eben eine Tasse Tee zum Frühstück genossen. Seine Hoffnung erfüllte sich also nicht, in Bälde seinen Sohn, der ihm einzig aus der ersten Ehe geblieben war und damals in Chicago sich eine schöne Stellung erkämpft hatte, noch einmal zu sehen. Es blieb ihm aber damit auch erspart, den wenige Jahre darauf erfolgten Tod des scheinbar blühenden Mannes betrauern zu müssen. Die hohe Gesinnung Scherrs spricht sich mit wenigen Worten aus in dem Satze seines Testamentes: »Meinen Kindern hinterlasse ich meinen Segen, meinen Freunden mein Andenken, meinen Feinden meine Verzeihung und meinem Vaterlande meine innigsten Wünsche.«

Das überaus zahlreiche Geleite, das die Studentenschaft, die Lehrerschaft, Freunde und Bekannte aus den Bewohnern Zürichs und aus der Ferne, und auch Gegner und Feinde sogar dem Manne zu seiner letzten Ruhestätte gaben, bezeugte, daß ein bedeutender Mann zu Grabe getragen wurde, ein Kämpfer, der seine Waffen nicht umsonst geführt hatte.

II.

Wesen und Bedeutung der schriftstellerischen Arbeit Scherrs erschöpfend zu beurteilen, dazu reicht der Raum nicht aus, der dieser einleitenden Skizze gewählt ist. Wir müssen uns auf die Darstellung einiger besonders kennzeichnenden Merkmale beschränken, und laufen auch dabei noch Gefahr, Widerspruch hervorzurufen. Denn Scherrs schriftstellerische Art ist so ausgeprägt eigentümlich, daß sie nicht jedem zusagt und nur von demjenigen billig und gerecht gewertet werden kann, der sie aus Scherrs innerstem Wesen heraus zu verstehen sucht. Von ihm gilt, was vom Dichter: »Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen.« Es gilt von jedem originellen Schriftsteller überhaupt. Daraus ergibt sich allein eine richtige Kritik, eine wahrhaft objektive, an der es nur zu oft mangelt. Wie manche beurteilen einen Schriftsteller nicht nach den Maßstäben, die sein eigenstes inneres Wesen, seine Eigenart erfordert, sondern nach der Schablone, die sie sich von schriftstellerischen Erzeugnissen ein für allemal zurechtgemacht haben und die nur ihren eigenen engen persönlichen Anschauungen entspricht. Da wird dann diese Schablone aus dem kritischen Schubfache herausgenommen, an die Werke des Schriftstellers abmessend hingelegt und bei Mißfallen gesprochen: »Paßt nicht. Schlecht. Verwerflich. Nichts wert!« Wie häufig geschah das an Scherrs Arbeiten. Der Verfasser dieser Zeilen ist auch durchaus nicht mit allem einverstanden, was Scherr schrieb, in Rücksicht auf Inhalt wie auf Form. Scherr machte auch gar nicht den Anspruch auf die unbedingte Zustimmung seiner Leser; er wünschte nur lebhaft, gehört zu werden mit seinen Ansichten, mit seiner überzeugten Auffassung von Menschen und Dingen als einer auch wohlbegründeten. Er war in seinem geistigen Wesen durchaus ein Originalmensch, ein »Eigener«, der, was er wußte, dachte und kannte, auch eigenartig zum Ausdrucke brachte. Das Lächerlichste, was heftige Feinde gegen ihn vorbrachten, war die Behauptung, seine Originalität sei eine gemachte, gesuchte, erkünstelte. Warum nicht gar! Wenn je eine Feder urwüchsig geschrieben hat, was urwüchsig gedacht und gefühlt war, so diejenige Scherrs.

Das vorangestellte Bild seines Lebens hilft schon sein Schaffen zum Teil erklären und verstehen. Gemäß seiner angeborenen Anlage und gemäß den Einwirkungen der ihn umgebenden Außenwelt mußte sich seine Kampfnatur herausbilden. Wenn an einem, so erwahrte an ihm sich das Wort: »Leben heißt Kämpfer sein«. Drei heilige Güter leuchteten ihm auf seinen Waffengängen als Leitsterne voran: Recht, Wahrheit, Freiheit! Wo diese drei mißachtet oder unterdrückt waren, da empörte sich sein Herz. Das Gefühl sprach in all seinem Tun und Schaffen ein ebenso gewichtiges Wort mit, als die verstandesmäßige Einsicht die erworbene Gelehrsamkeit. Die Stärke des Gefühls hatte ihn darum auch zum Politiker verdorben, wie sein »hitziges« Benehmen im »Völkerfrühling« bewies. Wenn die württembergischen Radikalen ihn wirklich als Minister in Aussicht nahmen, – es wäre keine glückliche Wahl gewesen, und der Gewählte hätte sich gewiß bald genug unglücklich gefühlt in Regionen, wo man mit idealen Begriffen wie Recht, Wahrheit und Freiheit so oft nur gauklerische Eiertänze aufführte.

In lehrhafter Luft, sozusagen, wuchs der Knabe auf. Sein Vater bewährte sich als ein tüchtiger Lehrer. Der ältere Bruder, unter dessen erzieherischer Leitung unser Scherr lange stand, erwarb sich als Lehrer und Erzieher von tüchtigen Volksschullehrern einen glänzenden Ruf. Auch in Hans Scherr steckte ein Lehrer, als welcher er sich nicht nur in der Unterrichtung seiner Pensionäre in tüchtigster Art erwies, sondern auch auf dem akademischen Lehrstuhl. Und durch seine ganze Schriftstellerei geht ein ausgeprägt lehrhafter Zug, ob er als Geschichtschreiber vor die Lesewelt trete, oder als Essayst, oder als Verfasser von Romanen und Novellen. Er wollte als Geschichtschreiber in bewußter Absicht belehren, aufklären, erziehen. Er legte in seine geschichtlichen Arbeiten seine Persönlichkeit hinein und erachtete die Subjektivität in Geschichtswerken durchaus für berechtigt, ja von der Geistesnatur des Menschen notwendig bedingt und darum unvermeidlich. So setzte er sich denn unverblümt mit den vermeintlich »Objektiven«, mit Ranke und dessen Richtung und Anhängern auseinander. Entrüstungslose Kühle in der Geschichtsbetrachtung widerte ihn an. Es kam ihm vor, sie entseele, sie entgeiste die Geschichte. Und in allem Gewoge und Getriebe der Völkergeschicke sah er geistige Kräfte und Mächte walten, die die Menschheit bestimmten Zielen höherer Entwicklung entgegentreiben. Beachten wir, wie er im Hörsaal sich aussprach: »Ich stehe nicht an, zu sagen, daß die idealistische Anschauungsweise unserer Phantasie und unserer Vernunft wenigstens etwas Vorstellbares an die Hand gibt, indem sie alles Werden, Wachsen und Sein in der Natur wie in der Gesellschaft auf eine denkende und wollende Endursache, auf eine Ursubstanz zurückführt, auf eine causa movens, mit Spinoza zu sprechen, auf ein geheimnisvolles unergründliches Etwas, welches die Menschen mit den verschiedensten Benennungen, als da sind Schicksal, Verhängnis, Vorsehung, sittliche Weltordnung oder Gott zu bezeichnen Pflegen. Die erleuchtetsten Geister, die reinsten Gemüter aller Völker haben mit Ergründung dieses Geheimnisvollen sich abgemüht. Vergebens! Aber nur Leute, welche mit den Rätseln unsers Daseins kurzweg sich dadurch abzufinden wähnen, daß sie die dazu noch sehr häufig von Narren und Gaunern ausgegebenen Stich- und Modewörter des Tages gedankenlos nachplappern, vermögen sich selbst und andern vorzuschwindeln, es sei unwahr, daß in jedem gesund organisierten Menschen in dieser und jener, je nach seiner Bildungsstufe gemodelten Form die Ahnung von Überirdischem lebe, die Ahnung von einem Ewigen, Unfaßbaren, Unerforschlichen, welches nicht fassen, nicht begreifen zu können selbst der größte, redlichste, unerbittlichste Denker des modernen Weltalters, Kant, in großartiger Bescheidenheit eingestanden hat.

In diesem Ewigen, Unnahbaren, Unerklärten, Unerforschten und Unerforschlichen erkennen wir die Zentralsonne der geistigen, der moralischen Welt, den Grundintellekt, das Urideal. Wir denken uns, daß von diesem die einzelnen Urideen, die einzelnen Ideale ausgehen wie die Licht, Wärme und Leben bringenden Strahlen von der physischen Zentralsonne unseres Planetensystems.«

Ein andermal: »Die Weltgeschichte ist ein rastloser Kampf zwischen Licht und Finsternis. Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Freiheit und Sklaverei. Jeder, selbst der unbedeutendste Mensch, muß so oder so an diesem Kampfe sich beteiligen, und jeder ist verantwortlich für die Art und Weise, wie er kämpft.« – »Die echte Geschichtswissenschaft hat nicht allein die Aufgabe, die Menschen mit den Tatsachen des Entwicklungsprozesses der Menschheit bekannt zu machen, sondern auch ebenso die, das Unrecht zu brandmarken und das Recht zu verteidigen, die Lüge zu entlarven und die Wahrheit zu verkünden, die verletzte Freiheit zu rächen und die Tyrannei zu bekämpfen. Ihr Amt ist also ein wesentlich sittlich-soziales.«

In diesem Sinne nun schrieb Scherr unerschrocken Geschichte. Er stand noch lange nicht »jenseits von Gut und Böse«. Er ging beiden in der Geschichte nach, dem Guten und dem Bösen, freudig dem erstem, mit gewissenhafter Pflicht auch dem letztern als dem, wohl noch häufigern. Man beschuldigte ihn, er habe mit Vorliebe nur das Häßliche, Gemeine, Böse in der Weltgeschichte aufgesucht, ja er habe mit niedrigem Vergnügen im »Kehrichtfaß« der Weltgeschichte gewühlt. Die Beschuldigung wäre komisch, wäre sie nicht gar so töricht und unwahr. Die Wahrheit und Wahrhaftigkeit verlangt, daß zur Vermeidung falscher Vorstellungen, verderblicher Vorurteile auch das Böse, Schlechte, Gemeine oben und unten in der Gesellschaft aufgezeigt werde, ob das den schwachen oder den berechneten Seelen gefalle oder nicht. Es verdient nur Lob, daß der Historiker Scherr kein Blatt vor den Mund nahm, manche Dinge, die der süße und der saure Pöbel nicht gerne hört, frischweg beim Namen nannte, Schurken in der Weltgeschichte als das hinstellte, was sie waren, Heuchlern jeder Art die Maske vom Gesichte riß und keine Schönfärberei im Dienste irgend einer Partei kannte. Er stand über den Parteien und beugte sich vor keiner Größe, wenn sie nicht der Achtung und Ehre wert erschien. Lag es an ihm, daß soviel Schwarzes in dieser Menschheit sein unbestechliches Geistesauge traf? Der äußere Schein täuschte ihn nicht. Er suchte den innersten Grund der geschichtlichen Ereignisse und Gestalten auf, und es ist ihm auch oft aufs überzeugendste gelungen, ihn aufzuzeigen. Mit überraschender Klarheit entwirft er Zeitbilder und die Züge der bestimmenden Persönlichkeiten, z. B. das Bild der Kultur des 18. Jahrhunderts, Friedrichs des Großen, Napoleons I., Blüchers, Schillers. Meisterlich versteht er es, in gedrungener Verdichtung Wesen und Erscheinung einer Gesellschaftsklasse mit wenigen Zügen markig zu kennzeichnen, wie z. B. in der »Deutschen Kulturgeschichte« die Jesuiten. In den Studien und Essays »Menschliche Tragikomödie« begegnet man Darstellungen von geschichtlichen Entwickelungen und Menschen, wie sie in solcher Kraft und innerlichster Erfassung des Stoffes nur dem berufenen Geschichtschreiber gelingen. Vorzügliche Charaktergemälde aus den Reihen der Dichter seiner eignen und fremder Nationen entwarf er in Büchern wie »Blätter im Winde«, »Hammerschläge und Historien«, »Heidekraut« und anderen, z. B. von Nikolaus Lenau, Julius Mosen, Grabbe, Rabelais.

Man hört oft klagen, der düstere, herbe, pessimistische Grundton verbittere einem den Genuß von Scherrs Werken; er tauche bei seinen Geschichtsgemälden wie bei seinen Skizzen und gelegentlichen Betrachtungen über Welt und Zeit den Pinsel allzustark in schwarze Farbe; in griesgrämiger galliger Stimmung setze er gerne zu sehr herab, wer und was ihm nicht zusage, und sehe Schlechtes auch da, wo es nicht sei. Richtig ist, daß Scherr Pessimist war, so ausgesprochen, wie nicht viele Schriftsteller, richtig, daß er leicht zu düster sah. Aber sein Pessimismus war nicht derjenige der Verneinung von Welt und Leben, nicht der des mattherzigen Weltleides und der Weltschmerzelei, darin sich im 19. Jahrhundert manche Byronisierende gerne ergingen, sondern jener kampffreudige, der das Schwert für Recht, Wahrheit, Freiheit tapfer führt, im Glauben, es geschehe nicht umsonst. Es war nicht der Pessimismus der Verzweiflung, sondern der tiefen Mißstimmung. Ich wiederhole hier, was ich unter anderm bei der Beerdigungsfeier über Scherrs sterblicher Hülle sprach: »Ein scharfer Hauch der Verbitterung und des Pessimismus weht durch manche Blätter der Schriften Scherrs, weshalb sich viele von ihnen abgestoßen fühlten. Woher dieser Charakterzug? Er wurzelte in seinem unbesiegbaren Glauben an das Ideale und dessen Wahrheit, an die Macht des Guten und Schönen. In den Dienst dieses Glaubens stellte er das Schwert seines starken Geistes, durchglüht von grimmem Zorne gegen allen rohen und gemeinen Materialismus, der die Welt entgöttert und entgeistet. Seinem Lieblingsdichter Schiller folgend, flüchtete er immer wieder gern in die »Heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen«. Doch nicht etwa, um zurückgezogen selbstgenügsam sich für sich allein an den Ideen der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit zu erquicken und über die rauhe Wirklichkeit der Dinge im Schmollwinkel sich hinwegzutrösten, nein, vielmehr um mit neuer Kampfesfreudigkeit in seinen zahlreichen Schriften und als Lehrer für eben die Güter einzutreten und zu wirken, die er als die edelsten erkannt hatte, feind aller Halbheit und Mattherzigkeit... Es ist wahr, ein Gläubiger im Sinne irgend einer Kirche wollte er nie sein, aber jede aufrichtige und duldsame Religiosität achtete er hoch. Es ist wiederum wahr, er kämpfte oft grollend unter dem Feldzeichen eines düstern Pessimismus. Aber wer ihn recht gelesen und verstanden, der merkte ja wohl, daß sein Pessimismus nur ein Ausdruck des Schmerzes war darüber, daß alle die Ideale sich so langsam verwirklichten, an die er felsenfest glaubte. Hinter der rauhen und bittern Schale lag ein edler goldener Kern. Manche schmerzliche Erfahrung und Enttäuschung hatte eben einen bleibenden Stachel in seinem Herzen zurückgelassen. Wer aber keinen solchen je verspürt, gibt sich das bedenkliche Zeugnis, daß er nie schwer gerungen und heiß gekämpft habe. Es ist ferner wahr, daß mancher wuchtige Streich, den er geführt hat, den Gegner unnötig verletzte oder auch unverdient traf. Doch erhob er nie Anspruch auf Unfehlbarkeit in der Führung seiner Waffe. Das ist gewiß, daß er mit ihres Stahles Schärfe nicht nur Wunden geschlagen, sondern auch fruchtbaren Grund wie mit einer Pflugschar aufgebrochen hat für eine ideale Saat, die allen Feinden zum Trotze später noch eine gute Ernte bringen wird.«

Ein Mann von so lebhaftem Gemüte, wie Scherr, wird auch leicht sehr wechselnden Stimmungen unterworfen sein. Auf solchen Wechsel stößt man denn auch nicht selten in seinen Schriften. Es finden sich da Stellen, in denen die reinste Begeisterung, glücklichste Befriedigung, Freude an der Welt, dem Leben und den Menschen das Wort führen, und auch wieder andere, welche übertreibender Unmut, hypochondrische Laune, grillenhaftes Trübsehen ihm in die Feder fließen ließen. Das erweckte den Anschein der Ungleichartigkeit, des Widerspruches in seinem Wesen, Aber gerade starke Geister werden oft von den widersprechendsten Stimmungen befallen, die denn auch dem Ausdrucke nicht nur gesprochener, sondern geschriebener Worte die Farbe und das Gepräge der Stunde geben. Und gerade geistvolle Menschen beugen sich manchmal nur zu willig unter die Gewalt der Laune. In seinem innersten Wesen, in seinen Anschauungen von Welt und Leben, in der Grundanlage seines Gemütes blieb Scherr immer sich selbst treu. Die Widersprüche liegen nur auf der Oberfläche, sind nur scheinbar. Der Grund seiner Kernnatur blieb von den wechselnden Wellenschlägen der jeweiligen Gemütserregung unberührt. Und wo wäre der bedeutende Mensch zu finden, der keine Schwankungen in seinen Werken aufwiese, keine Verschiedenheiten, die aber mehr nur der Schale als dem Kerne angehören? Findet sich etwa bei Goethe, Schiller, Shakespeare, Lessing eine unwankbare Einheitlichkeit, ein starres stabiles Gleichgewicht der Anschauungen? Tote Seelen wären solche zu nennen, die, auch wenn einmal zu ausgereifter Männlichkeit gelangt, in einer unerschütterlichen Gleichmäßigkeit des Denkens und Fühlens beharren könnten und wollten. Man liebte es seinerzeit, unter sein Bildnis einen kennzeichnenden Ausspruch zu setzen, ein Losungswort. Scherr schrieb unter sein Bild aus den vierziger Jahren: »Gradaus!« Kein gerecht Urteilender wird ihm das Zeugnis verweigern, daß er diesen Wahlspruch allezeit befolgt hat, wie in seinem ganzen übrigen Tun und Wirken, so auch in seiner Schriftstellerei. Geradeaus, offen und ehrlich sprach er immer seine Ansichten aus gegen Freund und Feind. Er kannte keine Rücksichten, weil er über den Parteien stand. Das nahmen ihm politische Parteien sehr übel, aber auch religiöse und konfessionelle. Katholiken zürnten ihm, daß er die Gebrechen und Sünden ihrer Kirche schonungslos beleuchtete, Protestanten, daß er auch die Schwächen ihrer Konfession aufdeckte und Luther nicht nur im Glorienscheine der Bewunderung ansah. Er ist wohl der Größe des Reformators nicht in allem gerecht geworden; aber seine Beurteilung stimmt doch besser zu den geschichtlichen Tatsachen als die Verhimmelung, die auf protestantischer Seite an Luther vollzogen wurde unter möglichster Vertuschung seiner Schwächen. Geradeaus, ohne Vermäntelung und Schönfärberei, wo Verkehrtes und Schlechtes im Bilde der Geschichte sich zeigte, so bemühte sich Scherr auch als Historiker zu sein. Er war ein Geschichtschreiber von ungewöhnlicher Eigenart; nicht ein Geschichtsforscher, der in staubigen Archiven nach neuen protokollarischen Akten neuen Stoff zu gewinnen suchte, aber einer, der eine außerordentliche umfassende Belesenheit im Archiv der Tatsachen der Weltgeschichte besaß, nach den Zusammenhängen, nach dem innersten Wesen der geschichtlichen Entwicklung forschte, sie zu erfassen und in seiner Darstellung organisch wieder zu gestalten vermochte, Scherr lebte voll mit und in der Gegenwart, die er aus seiner reichen und genauen Kenntnis der Vergangenheit begriff und ergriff. Daher eben auch das Bewegte, das scheinbar Schwankende, die vermeintlichen Widersprüche in seinen Äußerungen, wovon schon die Rede war. Professor Julius Stiefel sagte in seinem Nachrufe sehr richtig: »Das Anrecht des Historikers auch auf die Gegenwart hat Scherr in ausgedehntestem Maße zur Geltung gebracht, das Interesse für moderne Geschichte, für die Erfassung der Zeit in eminenter Weise geweckt... Ja, wie Börne, Heine und Gutzkow hatte er den Mut, auch das Werdende, Gärende, Unfertige einer selbst unfertigen Zeit in Rede und Schrift aufzufangen. Er erscheint so häufig, namentlich in seinen Essays – ungleich mehr als Publizist und Journalist, als Verkündiger und Verbreiter zeitgenössischer Bewegungen und Strebungen, denn als Historiker; wie er in seinen strengen geschichtlichen Werken, denen ein bedeutendes populär-historisches Gewicht nicht abgesprochen werden kann, den Journalisten auch nie ganz verleugnet.«

Und nun ein Blick auf Scherrs Schreibweise. Da gilt das Wort: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«. Scherrs Sprache wurzelt durchaus in seiner geistigen Anlage. Sie ist eigenartig, naturwüchsig, ein Werkzeug für den Ausdruck des Denkens und Fühlens in der Hand eines Sprachmeisters, dem alle Färbungen und Abtönungen der Sprache zu Gebote stehen. Bald fließt sie bei ruhigerer objektiver Betrachtung ruhig und gemessen in wohllautendem Rhythmus dahin wie ein mächtiger lauterer Strom, dessen Schönheit erfreut, wie z. B. in »Schiller und seine Zeit«, in literarischen Charakterbildern, in Naturschilderungen der Romane und Novellen; bald wieder erscheint sie bewegt und erregt, ja stellenweise leidenschaftlich glühend, wo der Gegenstand und die Subjektivität des Verfassers es mit sich bringen. Entrüstung und Zorn gestalten sie zuweilen herb, harsch. Satzbau und Stil sind ungemein klar und faßlich. Da verrät sich kein mühsames Ringen um den richtigen Ausdruck; nichts Verschwommenes macht dem Leser Mühe, und keine Weitschweifigkeit lähmt den Flug der Gedanken. Ethos und Pathos verleihen seiner Sprache Kraft und Saft. Sie langweilt nicht, immer gedanklich inhaltreich, gesättigt. Wenn der vorhandene Wortschatz ihm seine genügenden Ausdrucksmittel bot, so schuf Scherr frischweg neue Wörter, oft von glücklichster Erfindung und Gestaltung, zuweilen freilich auch seltsam und allzukühn. Manche dieser Neuprägungen faßten ganze Zeitrichtungen, geschichtliche Entwicklungen, Charaktere der Menschen wie in einer Sammellinse zusammen und warfen auf die Sachlage ein scharf beleuchtendes Schlaglicht. Man fühlt sich an Fischart erinnert, sowohl nach seite von dessen Vorzügen, als auch der nicht immer vermiedenen Gefahr der sich wiederholenden Manier. Aber an kräftiger Anregung fehlt es nie. Vor allem weisen auch die satirischen Arbeiten Scherrs die Lust am Gebrauche ungewöhnlicher und neuer Wortschöpfungen auf.

Ja, diese Satiren! Sie trugen ihrem Verfasser grimmigsten Haß, wütende Schmähungen ein. Er zog in ihnen gegen alles zu Felde, was ihm lächerlich, verkehrt, gemein, ein Hemmnis der Menschheit auf dem Wege zum Guten, Schönen, Wahren, zur Freiheit erschien, gegen Scheinheiligkeit, Heuchelei, Pfaffentum in Religion, Politik, Wissenschaft, Verjüdelung der Gesellschaft, Protzentum des Kapitals, ideallosen wissenschaftlichen und Genußmaterialismus, Strebertum, Götzenkultus mit Menschen, Mittelmäßigkeit, die sich aufbauscht und für etwas Großes hält und ausgibt, Kleinkrämerei, die an Bedeutungslosem und Unwichtigem mit gespreiztem Gelehrttun klebt und hochmütig auf alle herabsieht, die in ihren Fündlein nicht welterschütternde Entdeckungen zu erkennen vermögen. Aristophanische Kühnheit und Derbheit erreichen diese Satiren oft, in denen Scherr so seltsame und burleske komische Gestalten geschaffen hat, wie den Zachäus Zirbeldrüse, Rafael Spruhzius, Wimmerle und Wusele und andere. Und sich selbst hat er ja auch nicht vergessen und hat sich ironisiert im Doktor Jeremias Sauerampfer. Grob konnte er werden, »göttlich« grob, wie man es ja nördlich des Mains den Schwaben so gerne nachsagt, nicht ganz ohne Grund; aber man versteht im Norden ebenfalls, wenn auch vielleicht »feiner«, grob zu sein. Welche Art man vorziehe, ist ja Geschmacksache. Nicht mit eleganter Klinge rückte Scherr auf seine Gegner los; er trat ihnen »hemdärmelig« entgegen, wie ihn Theodur Vischer einmal charakterisierte. Und Jak. Mähly, der ihm einst einen ebenso schönen als gerechten Nachruf widmete, erklärte: »Er schlug nicht mit dem gemeinen Dreschflegel drein; der Kolben war aus Ebenholz.«

Aber noch ist eine Seite der literarischen Tätigkeit Scherrs nicht gewürdigt: sein dichterisches Schaffen, Was meiner Ansicht nach bis dahin zu wenig an ihm geschätzt wurde, das ist der Dichter in ihm. Auch sein poetisches Können und Vermögen bekundete er in der ihm eigenen Art. Er versuchte sich als Lyriker und als Epiker, und was er als solcher bot, war ja, als sein poetischer Genius zu den ersten Flügelschlägen sich erhob, noch jugendlich unabgeklärt und mehr nur anempfunden; später aber gestaltete es sich durchaus selbständig. Er besaß ein ungemein sicheres und feines Gefühl für echte Dichtung. Das schönste Zeugnis davon gibt sein Buch »Bildersaal der Weltliteratur«. Das ist ein ganz einzig in seiner Art dastehendes Werk, Nur jemand, der eine so umfassende Kenntnis der Dichtungen aller Völker und Zeiten sich erworben, wie er, vermochte diese großartige Blütenlese aus allen Dichtergärten der Erde darzubieten. Sie ist eine prächtige Erweiterung gleichsam von Herders »Stimmen der Völker in Liedern«. Voran stehen ihr als Motto Rückerts Worte: »Die Poesie in allen ihren Zungen ist dem Geweihten eine Sprache nur.« In der Einleitung sagt er: »Die Reichhaltigkeit dieser Sammlung darf ich, ohne gegen die konventionelle Bescheidenheit zu verstoßen, wohl selber hervorheben. Schon in meinen Studentenjahren schwebte mir der Gedanke meines Buches vor. Vierzig und mehr Jahre hindurch habe ich es niemals ganz außer acht gelassen; nicht aus Hunderten, aber aus Tausenden von Büchern und Zeitschriften hab' ich dafür gesammelt. Wissende werden auch leicht erkennen, daß ich hinsichtlich der Übersetzungen sorgsam wählerisch verfuhr.« Scherr errichtete mit dem Werke zugleich der deutschen Übersetzungskunst ein glänzendes Denkmal. Kein anderes Volk vermochte bis dahin eine solche dichterische Blütenlese aus aller Welt in eigener Sprache zusammenzustellen. Scherr bewies aber auch, daß er unbefangen objektiv zu sein vermochte: denn er fragte bei seiner Auswahl weder nach Richtung noch Partei der Dichter, sondern nach ihrem Gehalt und Wert. Und nur wer selbst Dichter ist, kann sein Volk mit einer solchen Gabe bescheren.

Scherrs lyrische Ader war ziemlich spröde. Das zeigte sich schon in der Sammlung aus seiner Jugend »Laute und leise Lieder«. Sie sind mehr auf das Gedankliche gestimmt, schlagen mehr den Ton der pathetischen Freiheitsdichtung um 1830 – 48 an, als den der Natur- und Stimmungslyrik der Romantik. Und was er in spätern Jahren in Verse faßte, stammte meistens aus der Begeisterung der Entrüstung und des Zornes und erklang in meist herben und schrillen Tönen der Satire. Und doch beseelte sein Herz auch tiefe Empfindung, und doch gelangte sein reiches Gemüt und Gefühl auch zu innigster Mitteilung. Wir mögen es uns nicht versagen, folgende »Vision«, wie das Gedicht betitelt sein könnte, aus den »Sauerampfiana« des Buches »Hammerschläge und Historien« (1878) als Probe zum Abdruck zu bringen:

»Des Jahres Hochpracht liegt jetzt auf der Erde,
Heiß wie das Abendrot dort auf dem See
Nach schwülem Tag, und in der Abendstille
Glaubt man von fern die tausend Katarakte
Droben im Hochgebirg rauschen zu hören.
Da drunten in der Stadt ist auch allmählich
Verstummt des Lebens tausendfach Geräusch
Und allum breitet sich der Dämmerfriede,
Als hüllte sich die müdgeschaffte Welt
In ihre Schlummerdecke, um behaglich
Die Glieder streckend sich der Nacht zu freun.
In solcher Stunde hebt im Menschenherzen
Die Nachtigall Erinnerung ihr Lied
Zu singen an, den Sang von alledem,
Was schön und gut und lieb dereinst gewesen,
Und wie du mir, du Unvergessene,
Weil Unvergeßliche, am Fenster hier
An solchen Abenden zur Seite saßest
Und wir des wundersamen Augenblicks
Mitsammen harrten, wo vom Firnschneehaupt
Des Glärnisch jählings fiel ein Silberblick
Ins Dämmergrau der Talgebreite rings.
Wir kannten das: es war ein Gruß, dem Riesen
Von seinem Freund, dem Monde zugeworfen,
Wann dieser in der Fülle seines Lichtes
›Still und bewegt‹, ein Goethesches Gedicht,
Im Osten kam herauf ... Auch heute kam er
Und grüßte seinen alten Freund, den Glärnisch,
Und goß verschwenderisch die Silberfülle
Auf Land und See, auf Blatt und Blüte nieder.
Und als, von tiefem Sehnen angefaßt,
Nach dir, der unvergeßlich Unvergessnen,
Ich träumend in das bleiche Lichtmeer schaute,
Da regte sich's darin wie Händewinken,
Wie zärtlich Händewinken, und ein Flüstern
So sanft und süß, als wär's des Mondlichts Stimme,
Floß in die Seele mir: ›Ich bin bei dir!‹«

Phantasie und Begeisterung müssen dem Dichter eigen sein. Beide besaß Scherr, beide ließ er auch an seinen geschichtlichen Arbeiten teilhaben. Es ist weniger die Bildlichkeit des sprachlichen Ausdruckes, in der seine dichterische Kraft sich zeigte, als die Art und Weise seiner Auffassung des Stoffes, seiner Anschauung und Behandlung. In einem Gespräche mit dem Schreiber dieser Zeilen über Scherr sagte Bertold Auerbach einmal: »Was mir ein besonderer Vorzug Scherrs als Geschichtschreibers erscheint und mir den Genuß seiner Darstellungen erhöht, das ist die ποιησισ darin.« Die Poesie, mit der er den Stoff durchdringt und ausgestaltet, verleiht Scherrs größern geschichtlichen Werken in der Tat einen besondern Reiz. Sie zeigt sich auch in der Anordnung und Gliederung des Stoffes; diese ist künstlerisch gedacht, sie steht unter der Herrschaft einer leitenden Idee, doch nicht etwa so, daß um ihretwillen den geschichtlichen Tatsachen ein Zwang angetan, daß die Geschichte etwa nach einem System, wie in der Hegelschen Schule zum Beispiel, »konstruiert« wurde. Vielmehr gab erst die leitende Idee, die Scherr in den großen Entwickelungen der Geschichte wirksam sah, ihm den Anstoß, an sie anschließend auch seine Darstellung mit einer beherrschenden Idee zu beseelen. Und daraus entsprang die künstlerische Gestaltung; das regte zum schaffensfreudigen Formen an, dem dann des Dichters Begeisterung für das Große und Schöne an den dargestellten Ereignissen und auch die des Hasses gegen das Schlechte und Gemeine die eindringliche Kraft verlieh. Scherr bedeutete die Weltgeschichte wie seinem großen Landsmanne Schiller das Weltgericht; er verstand sie aber auch als ein großartiges Weltgedicht. Dieser dichterische Sinn, diese Auffassung, führte ihm, bei eingehendster Versenkung in den Stoff und genauen Kenntnis bis in die Einzelheiten, die Feder. Werke wie »Blücher, seine Zeit und sein Leben«, »1848–1851«, »1870–71, vier Bücher deutscher Geschichte«, bestätigen das Gesagte. Schon in den Überschriften der einzelnen Abschnitte kündigt sich manchmal die dichterische Auffassung an. Bald wogen die Ereignisse vor den Blicken des Betrachters mächtig dahin in erhabenem Strome wie in einem Epos, bald entwickelt sich dramatisch bewegtes Leben, Exposition, Verwickelung, Peripetie, Katastrophe laufen vor dem Betrachtenden ab wie ein ergreifendes, fesselndes Schauspiel auf der Weltbühne, dem, wie in der Kunst Shakespeares, auch die Beimischung des Komischen, der zuweilen sogar groteske Humor nicht fehlt. Welche Wucht des Stiles, welche Kraft der Farbengebung in so mancher Schilderung der Ereignisse, welche Deutlichkeit und Sicherheit in der Zeichnung der Charaktere! Die Gemälde, die Scherrs Kunst aus dem großen Drama Menschheitsgeschichte darstellt, verdienen oft die Benennung meisterlich. Es ist bezeichnend für ihn, daß er eine Sammlung von Studien »Menschliche Tragikomödie« betitelte. Es wäre aber irrig, daraus den Schluß zu ziehen, er habe das Drama der Weltgeschichte nicht mit dem dieser angemessenen Ernste aufgefaßt. Weht uns doch aus der ganzen Geschichtsdarstellung Scherrs ein elegischer Hauch der Trauer an, die sich oft genug bis zur trüben Pessimismusstimmung steigert. Aber hinter den Wolken bricht die Sonne der Freude an dem Großen und Erhebenden in der Geschichte der Menschheit immer wieder hervor. Wie des echten Dichters Auge, sah das seine das Licht nicht nur, sondern auch die Schatten. Es ist durchaus nicht richtig, ihn nur als einen polternden Schwarzseher zu bezeichnen.

Scherr bewährte seine Begabung für dichterisches Schaffen hauptsächlich auf dem Gebiete der Erzählungskunst, in Romanen und Novellen. Die Beschäftigung mit Geschichte führte ihm Ereignisse und Personen vor den schauenden Blick, die seine lebhafteste Gemütsanteilnahme erweckten, vor seiner klaren Anschauung sich plastisch gestalteten und seine Phantasie so beschäftigten, daß er das innerlich Geschaute auch nach außen herausarbeiten mußte. Auch ihm wohnte jener Drang der Dichter inne, das, was Geist und Herz bewegte und erfüllte, auszusprechen. In den Gaben seiner Erzählungskunst liegen auch manche Selbstbekenntnisse vom Sinnen und Minnen, von Lust und Leid, von Liebe und Haß des Gebenden. Ihr Inhalt ist erlebt, sei es, daß Scherr ihm tatsächlich Begegnetes zur Darstellung bringt, sei es, daß er wie eben eine echte Dichternatur sich in anderes Leben so versenkt, daß er es wie eigenes miterlebt und mit all seinem Glücke oder Schmerze mitempfindet. Das gibt diesen Dichtungen einen besonderen Wert, eine eigentümliche Kraft, einen eigenartigen Reiz.

Ihre Entstehung erstreckt sich über die Dauer von Jahrzehnten, und es erscheint daher nur natürlich, daß zwischen den frühern und spätern ein Unterschied besteht. In jenen stellt sich mehr die Außenwelt und das Außenleben dar, in diesen mehr inneres Leben und Weben und die Eigenwelt. Es war die Zeit einer hohen Blüte des Romanes in den europäischen Literaturen, sowie in der nordamerikanischen von der Zeit der Romantik an. Das »Epos der modernen Zeit«, wie man den modernen Roman genannt hat, entsprach als Kunstform dem Charakter und den Bedürfnissen dieser Zeit, in welcher die Individualität eine so ungleich größere Bedeutung besitzt und so ungleich größere Rechte, als in früheren Tagen. Das alte volksmäßige Epos besaß seine besondere Kraft in seiner Objektivität, der moderne Roman dient vorwiegend der Subjektivität und der Richtung aus irgendwelchem Gebiete zum Sprachrohr, bald nur leise und zurückhaltend, bald stärker, bald auch einseitig leidenschaftlich eine belehrende Tendenz verfolgend. So geschah es bei Goethe und den Romantikern, so im »Jungen Europa« überhaupt, so auch im »Jungen Deutschland«, so geschah und geschieht es jetzt noch im modernsten Realismus und Naturalismus und neuestens im Symbolismus. Eine Zeitlang erfreute sich der historische Roman besonderer Pflege und Beliebtheit, Walter Scott und Bulwer in England fanden eifrige Leser und Nachahmer. Coopers ethnologische amerikanische Romane beschäftigten lange Zeit die Phantasie der in Büchern Unterhaltung Suchenden mindestens so lebhaft wie einst die Robinsonaden. Mitten ins Leben der Gegenwart hinein griff mit seinen erzählenden Werken Dickens. Ein Victor Hugo trieb die Romantik des Furchtbaren in seinen Romanen oft auf die Spitze, ein Dumas befriedigte den Heißhunger nach Effekten und Sensationen, eine George Sand schlug starke soziale Töne an. Der Roman bot ein Spiegelbild der Vergangenheit und der Gegenwart mit ihren Wollungen und Strebungen. Daß nun ein dichterisch veranlagter Schriftsteller wie Scherr, der Historiker, unter dem Einflusse der literarischen Zeitströmung und von Romandichtern wie die soeben genannten stand und mit Vorliebe im historischen Roman sich versuchte, ergab sich von selbst. Insbesondere berührte er gerne Sitten, Kultur und Literatur der Zeit seiner Helden und ließ die Personen seiner Erzählung davon sprechen und darüber urteilen, ähnlich wie es die Romantiker vielfach getan. Doch vermied er weitschweifiges Ästhetisieren. Der Verlauf der Handlung wird nie zu stark unterbrochen, der epische Ton möglichst gewahrt. Aus weiter zurückliegender Zeit ist der Stoff genommen in den Romanen »Der Prophet von Florenz«, »Der Student von Ulm«, »Die Pilger der Wildnis«, »Schiller«, mehr aus der Gegenwart oder mitten aus ihrem Leben heraus in »Ein Priester«, »Rost Jurflüh«, »Die Tochter der Luft«, »Nemesis«, »Michel« und in den Novellen »Brunhild«, »Werther-Graubart«, »Die Jesuitin«, »Gottlieb Rapser«, »Rafael Spruhz«, »Die rote Dame«.

Auch in seiner Erzählungskunst erscheint Scherr durchweg eigenartig wie in seinem Geschichtsstil. Er macht es keinem der Vorbilder in der Romankunst seinerzeit nach. Selbständig ist die Zeit in seinen historischen Romanen erfaßt, und selbständig ist die Darstellung. Er läßt die Personen aus dem Geiste ihrer Zeit handeln und deren Sprache sprechen. Die Bilder aus der Vergangenheit sind treu, naturwahr und nicht modern gefärbt. Es wird beim Leser keine umfangreichere Vorkenntnis der geschichtlichen Verhältnisse vorausgesetzt. Er läßt die Personen und Dinge aus ihrer eigenen Anlage und Natur sich entwickeln, ein Haupterfordernis, um dem geschichtlichen Roman Wert und Bedeutung für weitere Kreise und auch spätere Zeit zu geben. Wie klar und anschaulich entrollt sich im »Schiller« das Gemälde der örtlichen Umgebung und der Gesellschaftskreise, in denen der Dichter aufwuchs. Man würde sich ganz modern ausdrücken: das Milieu sei ausgezeichnet dargestellt und erkläre den Menschen und Dichter, der daraus hervorging. Dasselbe gilt von den »Pilgern der Wildnis«. Mit der Kraft dichterischer Intuition sind hier Land und Leute geschaut, diese tapfern, im Kampfe um Leben und Freiheit gestählten Puritaner, diese Pioniere der Unabhängigkeit und des modernen Rechtes der Individualität. Und mit welcher Seelenkenntnis und objektiven Treue vermag sich Scherr das Glauben und Empfinden, die innerste religiöse Natur dieser Menschen zu erklären und sie zu achten. Ein fesselndes Zeitgemälde aus der Mitte des 19. Jahrhunderts entrollt der Roman »Michel«. Edelstes Menschliches, aber auch Verwerflichstes, wie es eine raffinierte Kultur erzeugt, bewegt oder empört die Seele des Lesenden. Die Nachtseiten des Industrialismus und Mammonismus werden rücksichtslos aufgedeckt. Den furchtbaren Ernst des Bildes mildert aber wieder stellenweise ein lächelnder Humor. Nicht umsonst hat das Buch mehrfache Auflagen erlebt. Es ist die beste, kraftvollste belletristische Leistung Scherrs. Neben ihr steht an Wert »Rosi Zurflüh«. Ergreifend wirkt in diesem Werke die Darstellung, wie ein von Natur gut veranlagter Mensch, ein gesundes Naturkind, in der Berührung mit sittlicher Fäulnis in der Gesellschaft verdirbt, ergreifend die Seelengröße der Heldin, die das Wort herrlich zur Erfüllung bringt: »Alles menschliche Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit.« Erschütternde Tragik waltet in der Dichtung »Nemesis«; sie bestätigt den Dichterspruch: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.« Bei andern der Novellen, wie »Brunhild« und »Werther-Graubart« liegt das Schwergewicht mehr in der innern Entwicklung der Personen, als in der äußern Handlung. Seelische Probleme werden da ausgeführt, die nicht so auf der Oberfläche liegen. Doch genug der Andeutungen über den Inhalt einzelner dieser dichterischen Gaben Scherrs.

Wer in ihnen auch rührend Sentimentales als vermeintlich notwendige Zubehör zu Roman und Novelle sucht, kommt nicht auf die Rechnung, Sentimentalität lag Scherrs Wesen so fern. Der Griffel, mit dem er zeichnet, ist von kräftigem, kernigem Stoffe. Aus der Sprache auch seiner dichterischen Arbeiten glaubt man den frischen, zuweilen herben Hauch seines heimatlichen Berglandes zu spüren. Nirgends Weichlichkeit, nirgends gezierte und erklügelte, in Bildern schwelgende Künstelei, nirgends ermüdende, langweilende Breite. Jedes Kapitel soll etwas Tüchtiges sagen, das Ganze ohne aufdringliches Moralisieren dem Leser eine bedeutsame Idee zur Beherzigung nahe legen. Wo es darauf ankommt, die umgebende Welt, die Natur in ihren Erscheinungen, in ihrem anmutigen, majestätischen, segnenden oder furchtbaren Walten zu schildern, da versagen dem Dichter die entsprechenden Worte nicht. Und wenn es ihm die Naturschönheiten des Alpenlandes, besonders aber der Schweiz angetan haben, so erklärt sich das leicht aus seinen Bergfahrten und aus seinem hochentwickelten Sinn für die Natur.

Ihre Schwächen haben Scherrs Romane und Novellen selbstverständlich auch. Es gibt ja überhaupt kein vollkommenes Werk menschlichen Schaffens. Und was dem einen gefällt, das spricht den andern nicht an; was dieser lobt, das tadelt jener. Doch will uns bedünken, die Werke werden ja nicht nur geschaffen, um unter das kritische zergliedernde oder gar zerfetzende Seziermesser genommen zu werden, sondern zunächst, um genossen zu werden in dem Guten und Schönen, das sie bieten und über dem man das in den Kauf nehmen kann, was einem nicht zusagt. Scherrs Weltanschauung, eine gewisse herbe pessimistische Stimmung, eine starke Neigung zu scharfer Satire, machen ihn solchen weniger angenehm, die es nicht vermögen, »in des Dichters Lande zu gehen«, um ihn zu verstehen. Die erwähnten Eigentümlichkeiten machen sich auch da und dort in seinen dichterischen Arbeiten geltend und lassen nicht immer zum ungetrübten Genusse eines reinen Kunstwerkes gelangen. Das aber ist sicher: Scherr war ein fesselnder, kraft- und gehaltvoller Erzähler, der das Leben aus weiten Gesichtspunkten anschaute, von einem tiefen Ethos getragen. Er entläßt den Leser nicht, ohne ihn zu ernstem Nachdenken, zu bedeutsamen Fragen über Welt und Leben angeregt zu haben.

Er nimmt einen Ehrenplatz ein auf dem deutschen Parnaß, allem Widerspruche zum Trotz. Seine Bedeutung und sein Werk sind zwar viel umstritten, Schon das beweist aber, daß er etwas zu sagen hatte, er, ein tüchtiger Mann und wirksamer Schriftsteller. Sollte aber jemand finden, die Pietät habe in diesen Zeilen zu sehr die Feder geführt, so muß eben der Pietät auch ihr Recht zugestanden werden. Sie ist wohl kaum weit von der Wahrheit abgekommen.

Otto Haggenmacher.



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