Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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VI.

Die theatralischen Vorstellungen pflegten damals bedeutend früher zu beginnen als heutzutage, und so blieb nach Beendigung derselben noch Zeit genug zu geselligen Zusammenkünften. Das Haus des Generals von Wimpfen versammelte zu jener Zeit an Gesellschaftsabenden alles, was in Ludwigsburg auf guten Ton Anspruch machen konnte, namentlich auch Künstler und Gelehrte, denn die Frau vom Hause und mehr noch ihre Schwägerin, Frau von Königseck, gefielen sich sehr im Umgang mit Männern, die der Kunst und Wissenschaft ergeben waren. Die mächtige geistige Strömung des Jahrhunderts hatte manche soziale Schranke niedergerissen oder wenigstens überflutet, und da in jenen Tagen die höheren Stande sich es zur Ehre schätzten, zu den Aufgeklärten und Vorschreitenden zu gehören, so stand die Aristokratie der Geburt und des Besitzes, soweit sie überhaupt der Bildung der Zeit teilhaft, der Aristokratie des Geistes noch nicht mit Mißtrauen oder gar mit Haß gegenüber. Damals, wo alle der Gesellschaft von dem Sturm und Drang, welcher in die Zeit gefahren, mehr oder weniger erfaßt waren, hätte man die Konservierung mittelalterlicher Vorurteile sehr lächerlich gefunden. Wir sagen damit nicht, daß in gewissen Schichten diese Vorurteile damals gar nicht vorhanden gewesen wären, sondern nur, daß man sich wohl hütete, in Hegung derselben ein Verdienst zu setzen. Vorwärts! war die allgemeine Losung jener Zeit, und wem sie nicht Sache des Herzens war, dem war sie wenigstens Sache des guten Geschmacks. In Wahrheit, selbst solche, welche den Ideen der Aufklärung und Humanität nur als einer Mode des Tages huldigten, würden sich nicht erkühnt haben, zu glauben, daß nach hundert Jahren in der vornehmen Welt die »Umkehr« zu altem und ältestem Unsinn Mode werden könnte.

Da heute kein großer Empfangsabend war und der General bei Hofe soupierte, hatten sich nur die vertrauteren Hausfreunde im Wimpfenschen Salon eingefunden und unterhielten sich, in Erwartung der Generalin und ihrer Schwägerin, mit Rekapitulation der Scherze und beziehungsweise der Skandale, welche der heurige Karneval gebracht. Schubart, ein hier sehr oft und sehr gern gesehener Gast, und die schöne Baronesse von Türkheim, eine seiner vornehmen Klavierschülerinnen, waren unerschöpflich im Vorbringen von allerlei Schnurren, über welche der dicke Bibliothekar Uriot, welcher die Feste Herzog, Karls im breitspurigsten Kanzleistil beschrieben hat, sich vor Lachen ausschütten wollte. Die Krone dieser Geschichten war die eines Abenteurers, welcher wenige Tage zuvor mit dem Vorgeben, er würde ein Kanonenkonzert geben, das heißt durch das Losschießen kleiner Kanonen von verschiedenem Kaliber Melodien hervorbringen, den guten Bewohnern der Residenz eine hübsche Summe Geldes aus den Taschen gelockt hatte und dann damit verschwunden war, ohne die Ohren der Betrogenen mit seiner ungeheuerlichen Musik zu erfreuen. Derartige freche Geniestreiche gehörten, wie jedermann weiß, keineswegs zu den Seltenheiten in jenen Tagen, wo die Gesellschaft nicht nur von Aufklärern, sondern auch von Wundermännern wimmelte und die Industrieritterschaft eine Bravour entwickelte, die kaum glaublich wäre, wenn wir in unserer eigenen Zeit nicht vielfach eine ähnliche gesehen hätten.

Ein Diener öffnete die Flügeltüren des Salons, und die Versammelten stellten sich in zierliche Parade, um die Damen vom Hause zu begrüßen. Das war ein leises Knarren der Schuhe mit hohen Absätzen auf dem blanken Parkett, ein Rauschen der Seidenkleider und Sammetröcke, ein Nicken und Neigen der bizarr geformten Damenfrisuren, ein spaßhaftes Schwänzeln der Herrenzöpfe, abgemessene, menuettartige Bewegungen, devotes Chapeauschwenken, anmutiges Fächerspiel. So eine Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts war von der tristen Uniformität unserer jetzigen Versammlungen weit entfernt. Der farbenhelle Luxus des Männerkostüms und der bei aller Barockheit dennoch graziöse Frauenputz boten, verbunden mit dem reichvergoldeten Schnörkelwerk des Mobiliars, einen Anblick dar, dessen Glanz und Reichtum durch die verschwenderisch in die Wände eingelassenen großen Spiegel bei heller Beleuchtung märchenhaft vervielfacht wurde.

In den beiden Damen, welche die Begrüßungen ihrer Freunde und Freundinnen erwiderten, konnte man ohne Gesuchtheit die Manieren, Ideen und Strebungen von damals verkörpert finden. Die Generalin, eine noch frische, lebhafte Brünette, repräsentierte in ihrer ganzen Erscheinung den französischen Konversationsstil, die nach Pariser Mustern geformte Eleganz der exklusiven Sozietät, mit Beimischung jedoch einer guten Dosis Bonhomie. Ihre Schwägerin dagegen, Frau von Königseck, in ihrem Äußern eine schöne Blondine mit schmachtenden Veilchenaugen, war in ihrem Innern lauter Güte, Idealität und Empfindsamkeit, ein vollkommener weiblicher Typus der Werther- und Siegwartsperiode, wo »Ossian den Homer verdrängte« und mit Freundschaftsschwärmerei ein so überschwenglicher Luxus getrieben wurde.

»Ah, das ist also der vom Himmel gefallene Engel?« rief die Baronesse Türkheim aus und bemächtigte sich eines etwa sieben oder achtjährigen Mädchens, welches an der Hand der Frau von Königseck in den Salon gekommen war.

Während die Baronesse das Kind mit stürmischen Liebkosungen überschüttete und die Generalin für den alten General Bouwingshausen, einen hartnäckigen, wenn auch mehr als halbtauben Lebemann, für den dicken Bibliothekar und zwei Damen von etwas zweideutigem Alter, deren Gesichter einen großen Aufwand von Schminke und Schönpflästerchen zeigten, den Whisttisch ordnete, sah Schubart fragend auf das Kind und dann auf die Frau von Königseck.

»Nicht wahr, es ist wirklich ein Engel?« sagte die blonde Schöne mit jenem flötenden Lispeln, welches damals eine unerläßliche Eigenschaft einer sentimentalen Dame war, bei dem weichen Alt der Fragerin jedoch ganz allerliebst klang.

»In der Tat, Gnädigste,« versetzte der Poet, »man könnte wähnen, das Kind sei wirklich vom Himmel gefallen. Es ist ja ein wahres Wunder von Schönheit, und dabei hat es so etwas Seltsames, Fremdartiges, ich möchte sagen Abenteuerliches«.

»Warum nicht gar etwas Zigeunerhaftes?« bemerkte die hinzugetretene Generalin lachend. »Aber das muß ich sagen,« fuhr sie fort, mit Schubart und ihrer Schwägerin in eine Fensternische tretend, »unser Herr Poet hat eine feine Nase. Er wittert sogleich Ungewöhnliches. Raten Sie einmal, woher der schöne Fremdling komme.«

»Das zu erraten vermag ich nicht. Aber,« setzte Schubart hinzu, einen zugleich ehrfurchtsvollen und feurigen Blick auf Frau von Königseck heftend, »ich begreife, daß er kam. Wo schon Engel wohnen, kehren andere ein.«

»Schmeichler Sie! Sehen Sie doch, wie meine Schwägerin errötet. Aber das muß ich sagen, die deutschen Poeten scheinen den französischen allmählich einige galante Komplimente abzulernen, wenn auch sonst nicht viel anderes. Indessen kann ich nicht umhin, Ihre poetische Schwärmerei mit etwelcher Prosa zu versetzen, wenigstens in Beziehung auf das Kind, welchem unsere gute Türkheim dort mit ihrer Zärtlichkeit so beschwerlich fällt. Lauretta –«

»Lauretta?«

»Nun ja, so heißt sie. Lauretta ist keineswegs vom Himmel gefallen, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes hinter einer Hecke aufgelesen worden, und zwar in ziemlich unsauberer Gesellschaft. Haben Sie denn nicht von der Strolchenbande gehört, deren Nest man neulich im Schurwalde droben ausgenommen?«

»Doch, meine Gnädige; aber wie –«

»Fragen Sie nicht zuviel; ich dürfte Ihnen nicht antworten. Es ist,« fuhr sie mit schelmischem Lächeln fort, »sozusagen ein Staatsgeheimnis.«

»Ein Staatsgeheimnis?«

»Ja, wenn Sie wollen. Sie wissen doch, Ludwig der Vierzehnte pflegte zu sagen: L'état c'est moi.«

»Aha, gnädige Frau, jetzt bin ich auf der Spur.«

»Meinen Sie? Aber haben Sie die Augen des Kindes bemerkt?«

»Freilich. Wie ist mir denn? Es fiel mir sogleich eine frappante Ähnlichkeit mit – mit –«

»Wir wollen bei den Augen des Kindes stehen bleiben. Es sind –«

»Durchlauchtige Augen, meine Gnädigste.«

»Schlaukopf Sie! – Aber haben Sie nie von der schönen Sängerin und Tänzerin Pastori aus Palermo gehört?«

»Doch, sie beherrschte vor Jahren die herzogliche Oper und das Ballett und –«

»Und?«

»Und trug auch für eine Weile blaue Schuhe.«

»Boshafter Mensch, was Sie nicht alles wissen! – Nun, die Pastori hieß Laura, man nannte sie aber gewöhnlich Bella und mit vollem Recht. Es war ein schönes, aber wildes Geschöpf. Jetzt ist sie tot, und elend genug war ihr Tod.«

»Und dieses Kind?«

»Fragen Sie nichts mehr! Alles, was ich weiß, ist, daß eine Person, deren Wünschen die Frau des Generals Wimpfen nachzukommen hat, mir dieses Kind anvertraut hat, bis die Einrichtungen zur Eröffnung der Ecole des Demoiselles im alten Schlosse in Stuttgart vollendet sind. Dorthin soll dann Lauretta.«

»Wie, in die weibliche Abteilung der Sklavenplantage?«

»Pfui, wer darf so von einem Institut sprechen, welchem die würdige Majorin von Seeger vorstehen wird.«

»Allen Respekt vor dem Herrn von Seeger auf der Solitude und auch, vor seiner Frau Gemahlin. Aber dieses pädagogische Experimentieren ist mir nun einmal in der Seele zuwider. Der gute Rousseau! Es sind jetzt zehn Jahre her, seit sein ›Emil‹ erschien. Wenn er die pädagogische Seuche geahnt hätte, welche dieses Buch grassieren machte und macht, er würde das Manuskript sicherlich ins Feuer geworfen haben.«

»Aber, lieber Freund,« sagte Frau von Königseck sanft, »der Segen, welchen die neuen Erziehungsgrundsätze verbreiteten, ist doch zu groß und schön, als daß Sie Ihre Augen im Ernst davor verschließen wollten.«

Schubart wollte antworten, allein seine und der Damen Aufmerksamkeit wurde in diesem Augenblick durch das fremde Kind abgezogen.

Es war begreiflich, daß die lebhafte und zärtliche Frau von Türkheim an Lauretta großen Gefallen fand. Das Kind war wirklich wunderbar schön. Seine elfenhaft zarte und feine Gestalt lief in einen Kopf von edelster Form aus. Außerordentlich reiches und feines Haar, schwarz und von einem bläulichen Schimmer überhaucht wie die Fittiche des Raben, fiel ihm auf die Schultern nieder und rahmte ein Gesichtchen ein voll Kraft zugleich und Anmut. Die Wölbung der Stirne, der Schnitt von Mund, Nase und Kinn, der Schwung der dunkeln Brauen, alles war vollendet, und aus dem Marmorweiß dieses Gesichts strahlten große blaue Augen –

»Wie Alpenblumen leuchten aus dem Schnee.«

In Wahrheit, diese Augen konnten mit nichts passender verglichen werden als mit dem dunkeln und intensiven Blau der Genziane, welche in den Hochalpen hart neben dem Gletschereise blüht. Oder auch glichen sie, die Farbe abgerechnet, den Augen von einem gefangenen Reh. Gerade so scheu und wildmelancholisch wie diese blickten sie.

Das Kind ließ sich die Liebkosungen der schönen Baronesse gefallen, ohne sie zu erwidern. Ja, die Generalin hatte sogar richtig gesehen, wenn sie bemerkte, daß diese Zärtlichkeiten dem Gegenstand, an welchen sie verschwendet wurden, lästig seien. Lauretta entzog sich zu verschiedenen Malen widerwillig den Armen der zärtlichen Dame und wollte dieselbe durchaus nicht küssen. Es war überhaupt etwas Störriges in dem Kinde. Man merkte, daß es ihm höchst unbehaglich sei. Erst als die Baronesse Lauretta an den Wiener Flügel zog, welcher im Salon stand, und mit geübter Hand eine muntere Melodie anschlug, wurde das Kind zahmer und ließ seine spröde Zurückhaltung allmählich fahren. Man sah, wie es die Töne mit Entzücken einsog.

»Kannst du singen, Schätzchen?« fragte die Baronesse.

Lauretta nickte.

»Ach, so sing' mir doch einmal eins! Willst du?«

Die Kleine ließ sich nicht lange bitten. Mit einer Stimme, frisch, voll und klar wie Lerchenschlag, sang sie:

»Bei der Windmühl'
Geht der Weg 'naus,
Nacher Mannheim –
In das Zuchthaus –«

Ein schallendes Gelächter vom Spieltisch her unterbrach die Fortsetzung dieses damals sehr bekannten Gaunerliedchens. Auch die Baronesse, die Generalin und Schubart lachten. Frau von Königseck jedoch lächelte bloß flüchtig und schlug dann die Augen schwärmerisch zur Decke auf, als betete sie zu Gott um Rettung dieser jungen Seele.

Lauretta aber wurde durch diese unerwartete Wirkung ihrer Kunstleistung wieder vollständig verschüchtert oder vielmehr völlig störrig gemacht. Sie zog die Brauen zusammen, warf den kleinen Mund trotzig auf, ergriff Frau von Königseck, zu welcher sie das meiste Vertrauen zu haben schien, bei der Hand und sagte kurz und trocken: »'s ist Leili, ich will johschen gehen.«

»Fi donc, Lauretta,« versetzte die Generalin, »sprichst du schon wieder dein affreuses Jenisch? Sprich doch lieber italienisch, du kannst es ja, wenn du willst.«

Das Kind schaute die Sprecherin zornig an mit seinen wildschönen Augen.

»Dormire! Dormire!« rief es dann, mit seinen Füßchen aufstampfend.

Die Damen setzten sich, nachdem eine Dienerin das Kind weggebracht hatte, um einen Tisch, auf welchem eine kleine Kollation aufgestellt war, und baten Schubart, ihnen Gesellschaft zu leisten, da auf die Spieler am entgegengesetzten Ende des Zimmers nicht zu rechnen war. Der Tee übte über die Abendgesellschaften von damals, wenigstens in Süddeutschland, noch lange nicht seine spätere souveräne Herrschaft, und wenn auch der Teekessel auf dem Tische summte, so war es doch etwas Selbstverständliches, daß die Generalin ihrem poetischen Hausfreund sofort ein Glas Rheinwein einschenkte, von einer Sorte, welche er, wie sie wußte, mit besonderem Behagen trank. Dabei sagte sie:

»Eigentlich sollte ich Sie zur Strafe des Ihnen verhaßten Teetrinkens verurteilen, lieber Freund, weil Sie mir mit Ihrem Klopstock einen so argen Possen gespielt haben.«

»Einen Possen, gnädige Frau?«

»Nun ja, als Sie mir neulich die Leistungen der deutschen Poeten so überzeugend anpriesen und mir in hellster Begeisterung den ›Messias‹ zum Lesen empfahlen, da meinte ich, es müsse doch etwas dahinter sein, denn Sie gelten ja hier in Sachen des Geschmacks für ein Orakel. »Wenigstens,« setzte sie schalkhaft hinzu, »meine Schwägerin Königseck nimmt Ihre Aussprüche so gläubig hin, als kämen sie direkt von dem Dreifuß zu Delphi.«

Schubart warf einen feurigen Blick auf die schmachtende Blondine, welche über und über errötete und in einer Weise die Augen niederschlug, die dem leidenschaftlichen Manne unbeschreiblich wohltat.

»Aber, meine Liebe,« sagte Frau von Königseck, ihre Verlegenheit bemeisternd, »du hast doch die ersten Gesänge des ›Messias‹ mit Interesse gelesen.«

»Sage, mit Ungeduld,« entgegnete die Generalin. »Ich meinte, es müsse doch endlich zu einer Verwickelung, zu einer Passion, kurz, zu etwas Rechtem und Klappendem kommen, aber da fand ich mich schön angeführt! Mir verging der Atem in dieser dünnen Luft einer Erhabenheit, welche im überirdischen Blau umhernebelt, und ich wurde ganz dumm von dem ewigen Singsang der Engel und Heiligen. Das sind fürchterlich langweilige Geschöpfe.«

»Will ich aufrichtig sein,« bemerkte die Baronesse Türkheim, »so muß ich sagen, daß es mir mit der Lektüre des berühmten Gedichtes nicht besser ergangen. Ich gestehe sogar, daß die einzige Figur darin, welche mir ein lebhafteres Interesse abgewann, der – Gott steh mir bei! – nun ja, der Satan war.«

»Lästerung!« lispelte die Königseck.

»Da lobe ich mir doch die Franzosen,« sagte die Generalin. »Bei ihnen steht man stets auf festem Boden und kann die brillanten Feuerwerke ihres Esprits mit ansehen, ohne fürchten zu müssen, plötzlich in der leeren Luft zu schweben.«

»Das, meine Gnädigste,« warf Schubart ein, »riskiert man bei den französischen Poeten allerdings nicht, dagegen kann man bei denselben gelegentlich recht tief in die Gosse fallen. Übrigens haben wir einen deutschen Dichter, der an Esprit, Witz und Grazie kecklich mit den Franzosen wetteifern kann; aber freilich, er ist nur ein Schwabe, und der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande.«

»Sie meinen wahrscheinlich Wieland. Mein Mann liebt ihn sehr, ich jedoch kenne seine Sachen nicht, und ich habe die Gräfin von Hohenheim sagen hören, er sei abscheulich indezent.«

»So,« entgegnete der Poet gereizt, »die Donna Schmerg – bitt' gehorsamst um Entschuldigung – die Gräfin von Hohenheim findet Wieland indezent? O gewiß, ihr steht es an, sich über seine Indezenz aufzuhalten! Du lieber Gott, wie doch unsere Vornehmen sind! Was ein Gresset, ein Grecourt, ein Voltaire ausgehen läßt, und wäre es auch eine ›Pucelle‹, das alles findet man löblich über alle Maßen; sagt aber ein Deutscher dasselbe, nur harmloser, besser und vielleicht auch graziöser, so schreit man über Indezenz.«

»Ei, wer schreit denn!« sagte die muntere Baronesse. »Nur die Duckmäuser. Ich verhehle es gar nicht, daß ich mich an Wielands komischen Erzählungen höchlich und herzlich ergötzt habe.«

»Es lebe Ihre Aufrichtigkeit!« versetzte Schubart. »Indessen bin ich ein zu warmer Klopstockianer –«

»O Klopstock!« flüsterte Frau von Königseck mit zartem Enthusiasmus und warf dem Poeten einen dankbaren Blick zu.

»Ja, ich bin ein zu warmer Klopstockianer,« fuhr Schubart fort, sich geschmeichelt verbeugend, »um nicht der Meinung zu sein, daß der hochbegabte Wieland einen falschen Weg eingeschlagen. Zwar das ist sein Verdienst, sein großes Verdienst, daß er uns Deutschen bewies, man könne in deutscher Sprache die Franzosen in ihrer eigenen Manier übertreffen. Allein diese Manier ist an und für sich eine falsche. Wir müssen aus der Konvenienz und aus dem Regelzwang zurück zur Freiheit, zur Natur, Ursprünglichkeit. Die Engländer, ein Milton, ein Thomson, haben uns die richtigen Wege gezeigt und nicht vergebens. Die schweizerischen Kritiker, ein Bodmer, ein Breitinger, haben den großen Pedanten und Mistifax in Leipzig, den Gottsched, diesen Schildhalter der Gallomanie, aufs Haupt geschlagen. Der Sänger des Messias ließ uns darauf in erhabenen und herzergreifenden Tönen vernehmen, wie die deutsche Dichterharfe klingt, wenn der Sturm wahrer Begeisterung sie durchfährt. Unser Lessing seinerseits zeigte mit seiner tiefeinschneidenden Kritik, wo es unserer Literatur noch fehlt und wie ihr zu helfen ist, und der fordernden Theorie die erfüllende Praxis gesellend, gab er uns das erste vollendet schöne deutsche Drama, die ›Minna von Barnhelm‹. Nun regt es sich strebend und schaffend an allen Ecken und Enden Deutschlands. Der feurige Herder tritt in die Fußtapfen Lessings; in Göttingen hat sich ein Kreis von begeisterten Jünglingen zusammengetan, die sich an ihrem hochverehrten Meister Klopstock zum edlen Dichterberuf herausbilden; in den Rhein- und Maingegenden ist eine andere Genossenschaft von jungen Poeten tätig, und ich habe mir sagen lassen, daß besonders von einem dieses Kreises, einem gewissen Goethe aus Frankfurt, Großes zu erwarten sei. Käme nur allen diesen Strebungen überall die rechte Empfänglichkeit entgegen! Aber daran fehlt es leider nur zu sehr.«

Frau von Königseck hörte dem eifrigen Sprecher mit großem Wohlgefallen zu, die Generalin unterdrückte ein leises Gähnen, die Baronesse bemerkte:

»Sie sprechen vortrefflich, mein teurer Lehrer und Freund. Aber Sie wissen, ich habe die traurige Eigenschaft, ernste Gespräche in die Länge nicht ertragen zu können. Bitte, machen Sie uns ein bißchen Musik. Ich weiß, Sie haben mehrere neue Lieder gedichtet und komponiert – bitte, lassen Sie uns eins derselben hören.«

Die lebhafte Schöne zog den nur leicht Widerstrebenden schmeichelnd zum Flügel. Die Generalin und ihre Schwägerin folgten.

Schon das erste Anschlagen der Tasten verriet den Meister. Er spielte einige Stücke mit herzgewinnendem Ausdruck, ging dann in eine gefühlvolle Melodie über und begleitete damit den Vortrag des zartesten seiner Lieder:

»Wenn aus deinen sanften Blicken
Wonne für mein Herze fließt
Und dein holder Mund Entzücken
In mein Innerstes ergießt:
O, so tadle nicht die Triebe,
Die dein Reiz in mir erregt,
Du verachtest sonst die Liebe,
Die sich schwer zu rächen pflegt.

Lange streitet in der Stille
Die Vernunft und Leidenschaft –
Seh' ich dich, so wird mein Wille
Und mein Vorsatz hingerafft,
O, dies Zweifeln, dies Bemühen
Raubt mir alle meine Ruh'.
Soll ich hoffen, soll ich fliehen?
Wenn ich liebe, lieb' auch du!«

Das Auge des kühnen Mannes haftete, als er so sang, brennend auf dem Antlitz der Frau von Königseck.

Die Generalin, während ein Lächeln des Spottes flüchtig ihre Lippen kräuselte, stieß die Baronesse mit dem Ellenbogen an und blickte auf ihre Schwägerin, welche sich hastig und errötend abwandte.

Dieses Abwenden der geliebten Frau, dieses Lächeln der Generalin schnürte Schubarts Herz zusammen. Er wurde blaß, brach sein Lied ab, raste wild in die Klaviatur, sprang dann plötzlich auf, daß die Saiten in einem gellenden Mißton auszitterten, und stürmte ohne Wort und Gruß wie ein Wahnsinniger aus dem Zimmer.


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