Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Der Flüchtling, ein verwirklichtes Gedicht.

»Herrlich steht sie und hält den Rebenstab und die Tanne hoch in die seligen, purpurnen Wolken empor« – hat ein genialster und unglücklichster Sohn des alten Schwabenlandes von Stuttgart gesungen, als er die Stadt eines sonnigen Herbsttages in ihrem Prachtbette von Reblaub daliegen sah. In Wahrheit, wer zur Herbstzeit von der Höhe der Feuerbacher Heide oder noch besser auf der entgegengesetzten Seite von der Höhe der alten Eßlinger Steige herab auf die Stadt blickt, dürfte jenen Ausruf kaum zu überschwenglich finden. Etwas unbeschreiblich Wohliges, Heimeliges ist dann dem alten Stuttgart eigen, wenigstens in den Augen des Schwaben, und ein echter wird sich dieses Bild der Stadt in der Ferne nie zurückrufen, ohne daß ihm leises Heimweh die Seele rührte.

Ja, Stuttgart zur Herbstzeit ist schön, umringt von seinen in den feurigsten Tinten prangenden Rebhügeln. Aber im September 1782 war ein übriges geschehen, um der Stadt auch im Innern ein recht stattlich Aussehen zu verleihen. Wenn die Fürsten Besuch bekommen, putzen sich die Residenzen kokett heraus. Ein Schalk, wie der Sammetdoktor, würde sagen, das geschehe, damit die Fürsten den fremden Potentaten dadurch beweisen könnten, wie wohlhäbig glücklich und schönheitsinnig ihre Untertanen seien.

Die erwarteten hohen Gäste waren eingetroffen mit einem zahlreichen Gefolge, und Stuttgart und Ludwigsburg hatten sich mit gegen fünfhundert fürstlichen, gräflichen und freiherrlichen Besuchern gefüllt, die von nah und fern gekommen, den in Aussicht gestellten Festen anzuwohnen. Ihre Erwartungen wurden nicht getäuscht. Im Herzog Karl war wieder einmal die alte Prunkliebe in voller Stärke erwacht. Der Gedanke schmeichelte ihm, dem Gemahl seiner Nichte, Rußlands künftigem Zaren, zu zeigen, wie ein Herzog von Württemberg fürstliche Gäste zu bewirten imstande sei, und er hatte demzufolge seine Anstalten getroffen. Die Paläste der beiden Residenzen sowie die Lustschlösser Solitude und Hohenheim öffneten ihre weiten Prachträume, welche, in Verbindung mit den herzoglichen Gärten und Wildparken, einer Reihe rauschender Feste zu Schauplätzen dienten. Jagden, Bankette, Konzerte, Opern und Bälle, die in wohlberechnetem Wechsel sich ablösten, erzeugten einen Rausch von Zerstreuung und Vergnügen, welcher zwei Wochen lang währte. Die Krone der Festlichkeiten sollte eine Hirschjagd in den Umgebungen der Solitude bilden. Aus allen Revieren des Landes hatte man zu diesem Zwecke sechstausend Hirsche in den Forst zusammengetrieben, welcher das Jagdhaus am Bärensee, das sogenannte Bärenschlößchen, umgibt. Tausende von fronenden Bauern mußten den Wald Tag und Nacht umzingelt halten, um die Tiere am Durchbrechen zu verhindern. Die Jagd war darauf angelegt, den schließlich ungeheuren Hirschrudel eine steile Anhöhe hinab und in den See zu jagen, wo die edlen Tiere dann von einem eigens zu diesem Zweck erbauten Pavillon aus von den vornehmen Schützen mit aller Bequemlichkeit erlegt werden konnten. Auf dieses fürstliche Vergnügen sollte am Abend, während die Herrschaften im Festsaale der Solitude bankettierten, eine allgemeine prachtvolle Illumination des Schlosses und seiner Gärten folgen.

Aber wir haben die festbeschreibende Kurialfeder des dicken Bibliothekars Uriot nicht geerbt und müssen daher darauf verzichten, ein Bild dieser pomphaften Hoffeste dem geneigten Leser vorzumalen. Mag er uns nicht ungerne zu stilleren Szenen folgen!

Wir führen ihn nach dem kleinen Graben, in die ihm schon bekannte »Höhle«, wo es heute in der Tat noch höhlenmäßiger unordentlich aussah als gewöhnlich und auch noch leerer, so daß es schien, es müsse da eine Art Ausräumung kürzlich stattgefunden haben. Auf dem Stubenboden lagen Papierfetzen und sonstiger Trödel umher, und auf dem Tische sah man gar ein Paar Pistolen, die aber bei näherem Betrachten nicht sehr gefährlich erschienen, denn der einen dieser Waffen fehlte die Zündpfanne, der anderen das beste Stück vom Hahn.

Der Dichter, in seiner Feldschereruniform, lehnte am Schreibpult, von wo aus er durch das Fenster auf die stille Gasse sah. Denn still war sie, still wie die ganze Stadt, die man für ausgestorben halten konnte. Alles, was Beine hatte oder wenigstens seine Beine in beliebiger Richtung in Bewegung setzen konnte, war den Hasenberg hinauf nach der Solitude geströmt, um je nach Stellung oder Gunst des Zufalls etwas von dem großen Jagdfest, das heute da droben im Gange war, abzubekommen.

In der Frühe des Tages war Schiller auch droben gewesen. Er hatte dem Vater gegenüber, dem er verhehlen wollte und mußte, was er der Schwester schon früher mitgeteilt hatte und jetzt auch der Mutter mitzuteilen sich gedrungen fühlte, eine peinlich bange Stunde verlebt. Zum Glück war der Hauptmann Schiller in Dienstgeschäften abgerufen worden, noch bevor er mit Aufzählung aller der Herrlichkeiten, welche heute die Solitude zum geräuschvollsten Ort im Deutschen Reich machen sollten, zu Rande kam, und so hatte der Dichter mit den beiden Frauen ungestört noch eine schmerzlich süße Stunde verleben können. Als der gute Streicher, der seinen Freund begleitet hatte, endlich die Bemerkung machen mußte, es sei jetzt Zeit, nach der Stadt zurückzukehren, da waren in der bescheidenen Wohnung der Schillerschen Familie heiße Tränen geflossen und nicht nur aus weiblichen Augen.

Jetzt war es Abend, und über den Gassen der stillen Stadt schwebte schon jenes bleiche Licht, welches in Städten eintritt, sobald die Sonne zur Rüste geht.

Der einsame Dichter ist, nach einem an widerwärtigen Sorgen und Aufregungen reichen Tage, jetzt damit beschäftigt, eine Rhapsodie zu Papier zu bringen, deren Idee ihm aufgegangen, als er vormittags mitten durch das Gedränge von Wagen, Reitern und Fußgängern hindurch, welches sich nach der Solitude wälzte, vom Hasenberg in den Stuttgarter Talkessel herabgestiegen.

Bald wirft er eine Strophe aufs Papier, bald geht er, von innerer Unruhe verzehrt, hastig in der Stube hin und her.

Eben hatte er die Verse hingeschrieben:

Wie hoch aus den Städten die Rauchwolken dampfen,
Laut wiehern und schnauben und knirschen und stampfen
Die Rosse, die Karren;
Die Wagen erknarren
Ins ächzende Tal.
Die Waldungen leben
Und Adler und Falken und Habichte schweben
Und wiegen die Flügel im blendenden Strahl –

als es an der Türe klopfte und auf ein ungeduldiges Herein! die ungeschlachte Figur des Kurierschützen Kronenbitter erschien.

»Nun, was soll's?«

»Hab' dem Herrn Doktor zu melden, daß der Koffer zu Witfrau Streicherin geschafft ist, und daß selbige Witfrau den Herrn Doktor zum Vesperbrot erwartet.«

»Gut.«

»Hab' ferner zu melden, daß mir der Herr Leutnant Kapff in der Rothenbühlstraße begegnet ist und dem Herrn Doktor sagen läßt, er solle machen, daß er bald nachkomme. Die andern seien schon nach der Solitude voraus.«

»Freilich, freilich. Aber du, Kronenbitter? Möchtest du nicht auch gerne hinauf, das Spektakel zu sehen? Ich hab' dich heute nicht mehr nötig.«

»Sehr wohl. Aber 's ist halt wägerle 'ne leidige Sach', wissen's, Herr Doktor. Wenn ich 'nen Berg hinaufgehe, krieg ich justement immer einen ganz erschrecklichen Durst und – und – hm – ja, 's ist 'ne leidige Sach'.«

»Aha, ich verstehe«, sagte der Dichter, zog den Geldbeutel und gab dem Kurierschützen ein Stück Geld.

Der Bursch riß die Augen weit auf, dankte und drehte sich mit einem unbeschreiblichen Kratzfuß zur Türe hinaus.

Der Dichter machte eine Bewegung, ihn noch einmal zurückzurufen, denn er empfand das Bedürfnis, dem Burschen all dem Ärger zum Trotz, welchen ihm derselbe verursacht hatte, noch ein gütiges Wort zu sagen; aber er besann sich und ließ ihn gehen.

Er schüttelte den Inhalt der Börse, die er noch in der Hand hielt, auf den Tisch aus und zählte das Geld.

»Dreiundzwanzig Gulden!« sagte er mit einem Seufzer. »Mein ganzes Vermögen! Und dazu haben die Mutter und das arme Phinele ihren letzten Sparpfennig gesteuert. Streicher wird ungefähr gerade soviel haben – hm, eine hübsche Kriegskasse, um den Feldzug gegen das Schicksal zu eröffnen!«

Die Kehrseite seines Vorhabens wandte sich in ihrer ganzen Bedrohlichkeit seinem inneren Auge zu. Er durchmaß unruhig das Zimmer, trat zum Schreibpult, ergriff die Feder, warf sie wieder weg, faßte sie dann abermals und schrieb unter die vorhin mitgeteilte Strophe diese beiden weiteren:

Den Frieden zu finden,
Wohin soll ich wenden
Am elenden Stab?
Die lachende Erde
Mit Jünglingsgebärde
Für mich nur ein Grab!

Steig empor, o Morgenrot, und röte
Mit purpurnem Kusse Hain und Feld!
Säusle nieder, Abendrot, und flöte
Sanft in Schlummer die erstorbne Welt!

Morgen – ach, du rötest
Eine Totenflur,
Ach, und du, o Abendrot, umflötest
Meinen langen Schlummer nur.

Mit diesem Schluß steht das Gedicht unter dem Titel »Der Flüchtling« in der Sammlung von Schillers Werken. Es ist nur ein Bruchstück ohne alle Einheit: es gibt abgerissene, in klagenden Molltönen verhauchende Klänge einer leidenschaftlichen Stimmung. Hast und Unruhe sprechen aus jeder Zeile.

Der Dichter wollte weiter schreiben, aber es ging nicht mehr. Der Gedanke, welcher ihn zu dieser Stunde am meisten quälte, wurde laut, als er jetzt vor sich hinmurmelte:

»Nein, was ich auch immer dem Herzog zutraue, das traue ich ihm doch nicht zu, daß er es meinem Vater entgelten lassen werde. Es wäre schnöder Undank von mir, wenn ich den Fürsten für so gemein halten wollte. Nein, nein, und – im Notfall kann ja der Vater sein Ehrenwort geben, mit dem besten Gewissen von der Welt, daß er von meinem Vorhaben nichts gewußt habe –«

Es klopfte wieder draußen, aber Schiller war so in seine sorgenvollen Gedanken vertieft, daß er es überhörte.

»Richtig!« sagte der eintretende Streicher. »Da haben wir's! Er ist an seinem Schreibpult, das heißt auf dem Parnaß, und hat meiner Mutter Vesperbrot und die späte Stunde und den Kutscher und alles vergessen. Dacht ich mir's doch!«

»Ah, Sie sind's, lieber Freund? Entschuldigen Sie meine Nachlässigkeit. Haben Sie sich hinsichtlich der Torwache vergewissert? Wie ist's mit Scharffenstein?« ,

»Alles in Ordnung. Er hat die Wache. Aber wir müssen uns sputen.«

»Gut. Sie sehen, ich bin völlig bereit. Will nur noch meine Brieftasche und die Pistolen da einstecken. So, jetzt ein Lebewohl dir, alte Räuberhöhle!«

Um zehn Uhr abends rollte eine Haudererchaise, auf deren Rückbrett zwei bescheidene Koffer gepackt waren, dem Eßlinger Tore zu, über welches die Stadt seither weit hinausgewachsen ist, denn der Platz, wo es in der Nähe des Waisenhauses stand, ist jetzt sozusagen der Mittelpunkt von Stuttgart oder wenigstens von demselben nicht weit abgelegen.

Der Soldat vom Gablenzischen Infanterieregiment, welcher unter der Torwölbung auf Posten stand, trat, um nach damaligem Brauch die Abreisenden anzuhalten, dem Wagen entgegen und rief den Korporal heraus.

»Wer sind die Herren?« fragte dieser, an den Schlag tretend.

»Doktor Ritter und Doktor Wolff,« klang es in ziemlich schüchternem Ton aus dem Wagen. »Wohin?«

»Nach Eßlingen.«

»Passiert!«

»Higg!« machte der Kutscher, seine Pferde antreibend.

Während sie langsam anzogen, glitt auf der dem Stehpunkt des Korporals und des Soldaten entgegengesetzten Seite des Wagens eine männliche Gestalt rasch an den Schlag, steckte den Kopf hinein, flüsterte die geflügelten Worte: »Glück und Segen über dich, teurer großer Fritz, und vergiß draußen nicht ganz deiner Freunde daheim!« und huschte wieder rasch in das Offizierswachtzimmer zurück, woher sie gekommen.

Als der Wagen das Tor hinter sich hatte, fuhr er noch eine Strecke weit auf dem Wege nach Eßlingen hin. Dann schaute der Hauderer vorsichtig rückwärts und lenkte sofort das Gefährt linkshin auf einen Feldweg. Es währte nicht sehr lange, bis die Reisenden wieder glatteren Chausseeboden unter den Rädern fühlten.

»So,« sagte der Hauderer rückwärts in den Wagen hinein, »das ging ja wie geschmiert. Da sind wir auf der Ludwigsburger Straße.«

Auf dieser rollte der Wagen, nachdem der erste jähe »Stich« der Galgensteige überwunden war, rasch in die Nacht hinein.

Nachdem es etwa eine Stunde oder mehr so fortgegangen, hielt der Hauderer seine Pferde an und sagte:

»Sehen Sie doch, meine Herren, da droben ist's wie im Himmel!«

Ein bewunderndes Ah! schallte aus dem Wagen, und zwei jugendliche Männerkopfe bogen sich heraus.

Links droben brannte der Gipfel des Waldberges, von welchem die Solitude in die Ebene schaut, in dem Lichtmeer einer feenhaften Illumination. Die edlen Linien des Schlosses hoben sich von dem dunkeln Hintergrund in voller Klarheit ab. Es schien in der Luft zu schweben, und das blendende Licht, welches von ihm ausstrahlte, übergoß den ganzen Scheitel der Anhöhe mit märchenhaft zauberischen Reflexen.

»Das ist wundervoll!« sagte der eine der beiden Reisenden, mit kindlicher Fröhlichkeit in die Hände klatschend. »Wir können uns einbilden, das alles sei uns zu Ehren veranstaltet.«

Sein Reisegefährte gab keine Antwort, sondern blickte unverwandt hinauf, aber nicht nach dem Mittelpunkt des prächtigen Bildes, nicht nach dem Schlosse, sondern nach einem der kleinen weißen Häuschen, die hell aus dem Schatten mächtiger Linden und Kastanienbäume hervortraten.

»O, meine Mutter!« seufzte er dann tiefbewegt auf und schlug die Hände vors Gesicht. Halbersticktes Schluchzen hob seine Brust, und zwischen den seine Augen bedeckenden Fingern rollten große Tränen hervor.

Mit dem sicheren Takt liebevollen Zartgefühls unterließ es der andere, diesen Moment des Schmerzes durch einen Trostversuch zu stören. Er versagte es sich sogar, dem Gefährten die Hand zu drücken, wie er doch gar zu gerne getan hätte, und gab nur dem Hauderer ein leises Zeichen, die Pferde wieder in Gang zu bringen.

So fuhr der Wagen weiter, und im Flammenschein versank die Heimat hinter dem fliehenden Dichter.


 << zurück weiter >>