Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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II.

Ein ungewöhnlich milder Februar hatte einem noch milderen März die Wege gebahnt, den Frühling ungewöhnlich frühzeitig heraufzuführen. Laue Lüfte trieben mit flatternden Wolken ein lustig Spiel, welchem die Sonne, aus tiefblauem Himmel lachend, wohlgefällig zusah. In den Schloßgärten sproßte und knospete es mächtig, und die Linden und Kastanien der herrlichen Allee, welche die eine Seite der langen, vom Schloßplatz zum Stuttgarter Tor hinaufführenden Straße säumt, begannen auszuschlagen. Aber die Bewohner Ludwigsburgs hatten keine Zeit, um des Frühlings Ankunft sich sonderlich zu bekümmern. Sie waren noch viel zu sehr von dem rauschenden Wirbel des Karnevals befangen, welcher seine Zerstreuungen und Feste mit vollen Händen spendete.

Zwar war es nicht mehr die Zeit, wo Herzog Karl in unersättlicher Genußfreude das ganze Jahr zu einem ununterbrochenen Fest gemacht hatte, aber an der glänzenden Feier des Karnevals wurde einstweilen noch festgehalten. Ein wiederholter Aufenthalt in Venedig hatte dem Fürsten eine nachhaltige Vorliebe für diesen südländisch bunten Zeitvertreib eingeflößt. Er hatte denselben nach Ludwigsburg verpflanzt, wo alljährlich von nah und fern ein Schwarm von Fremden zusammenströmte, um den reichen Wechsel der Karnevalsvergnügungen mitzugenießen. Der großartige Hintergrund, vor welchem sich die Szenen des venezianischen Faschings abspielten, fehlte hier freilich. Es war da keine Weltstadt, groß durch tausendjähriges Bestehen, durch eine von heroischen und romantischen Episoden erfüllte Geschichte, durch kolossalen Reichtum und durch den naturwüchsigen Besitz aller Zaubereien der Künste – es war da nur eine kleine deutsche Residenz. Aber soweit diese und andere lokale Vorzüge der Adriastadt, der Markusplatz, die Piazetta, die prachtvolle Palasteinfassung der Kanäle mit ihren Gondeln, durch fürstliche Verschwendung ersetzt werden konnten, war es vollauf geschehen. Das württembergische Versailles hatte seine üppige und frivole Karnevalstracht angelegt. Da gab es Bälle, Konzerte, militärische Paraden, Festinjagden, französische Schauspiele und italische Opern. Heuer begünstigte noch überdies die freundliche Witterung solche Karnevalsfreuden, deren Schauplatz im Freien war, so daß die ganze Menge des fremden und einheimischen Publikums daran teilnehmen konnte, sei es in der Rolle von Mitspielern, sei es in der von Zuschauern.

So jetzt in der breiten Allee. Da waren Buden aufgeschlagen, in welchen Herren und Damen vom Hofe allerlei Galanteriewaren feilboten oder Glückstöpfe hielten oder als Wahrsager und Zigeunerinnen oder als Händler mit Südfrüchten und Likören oder als Waffelbäckerinnen agierten oder zum Klange von Drehorgeln französische Couplets absaugen. Alle waren entweder in vollständigem, zu ihren verschiedenen Rollen passendem Maskenanzug oder trugen wenigstens den Domino und die venezianische Halbmaske vor dem Gesicht. Zu der letzteren mußte sich jung und alt, wer immer die Allee betreten wollte, bequemen, denn das Ganze sollte eine »venezianische Messe« vorstellen. Es war eine höchst belebte Szene. Da wurde kokettiert, intrigiert, satirisiert, und die etwas freien Karnevalsscherze der Kavaliere beantwortete das silberne Lachen der Damen. Es rauschte und wogte in der Allee von Sammet und Seide in scheinbar zwanglosestem Durcheinander. Französische Aktricen und italische Ballettänzerinnen schlüpften durch das Gewühl und verrieten durch freies, neckisches Gebaren, daß sie sich hier so recht in ihrem Elemente befanden, weit mehr als die einheimischen Schönen, denen der deutsche Ernst noch mitunter verwehrte, in der frivolen Atmosphäre einer venezianischen Messe mit souveräner Heiterkeit zu atmen.

An Zuschauern fehlte es nicht. Haufen von müßigem Volk standen die Straße entlang und reckten lange Hälse, um von dem wunderlichen Treiben da drüben auch etwas zu haben. Sie verstanden nicht viel davon, am wenigsten die französischen und italischen Redensarten, welche da umliefen; aber soviel begriffen sie doch, daß es die Vornehmen und ihr Anhang sehr gut hätten auf der Welt. »Ja, sell isch wohr!« sagte ein Bäuerlein in kurzen gelben Lederhosen und weißem Zwillichkittel zu seinem ebenso gekleideten Nachbar. »Sell isch wohr, Hansjörg. Aber's isch g'spässig, die fürnehme Leut' do kommet mer halt doch wie lauter Narra für.« – »Was tut Er davon verstehen, Er Tolpatsch?« schnauzte eine mächtige Baßstimme hinter dem bäuerlichen Kritiker, welcher sich erschrocken umwandte und einen himmellangen Korporal von den Leibgrenadieren des Herzogs, welche Legioner hießen, vor sich stehen sah. Das mochte dem Bauer nicht sehr geheuer vorkommen. Er riß eiligst seinen Nebelspalter vom Kopf und bückte sich tief, der Hansjörg tat ebenso, und beide verschwanden rasch im Gedränge. Dieses Eindrucks seiner majestätischen Persönlichkeit froh, wandte sich der Korporal zu einigen seiner Kameraden, welche in der Nähe waren. Die Legioner hatten es auch gut auf der Welt, wenigstens was das Zuschauen anging, denn sie ragten um eines Kopfes Länge über das übrige gaffende Volk hinweg. Sie standen da, in Größe und Gestalt von Pappelbäumen, unbeschreiblich stolz auf ihre roten Uniformfräcke mit schwarzen Aufschlägen und auf ihre hohen, spitzen, mit gelbem Blech beschlagenen Grenadiermützen, die über steinharten, weit den Rücken hinabbaumelnden Zöpfen saßen.

Es ging derweil gegen Mittag zu, als zwei Herren vom Gasthause zum Waldhorn die Straße heraufkamen. Sie waren in eifrigem Gespräch begriffen und achteten daher des Karnevalstreibens um sie her nur nebenbei.

»Und Sie haben also Ihren Neffen richtig in die Sklavenplantage auf der Solitude abgeliefert, Herr Bechtold?« fragte der eine seinen Begleiter. Der Fragende war ein Mann in den ersten Dreißigen und von quecksilberiger Beweglichkeit. Er schritt rasch aus und schwenkte im Gehen den modischen Chapeau mit der rechten Hand in der Luft. Er war von etwas mehr als mittlerer Statur und von rüstigem, wenn auch hagerem Gliederbau. Auf seiner breiten, hochgewölbten Stirne leuchtete ein Strahl des Genius, welcher auch aus den hellen, unruhigen, feuerwerfenden Augen blickte. Zu der auffallend großen Peripherie des Kopfes stand die Kleinheit und Zierlichkeit der Hände und Füße in angenehmem Gegensatz. Auge, Nase, Mund und Kinn waren sehr nahe zusammengerückt. Zwischen den Brauen lag eine tiefe Furche, die Spur lebhafter Gedankenarbeit. Die Lippen waren ungewöhnlich rot, aber die schlaff gegen das Kinn hinabsinkenden Mundwinkel verrieten, wie das verschlemmt aufgedunsene Untergesicht überhaupt, wenig Charakterfestigkeit. Er trug sich comme il faut, denn er ging in bordiertem Rock, gestickter Weste, kurzer Plüschhose, seidenen Strümpfen und Schuhen mit silbernen Schnallen, den Galanteriedegen an der Seite. Sein frisiertes und starkgepudertes Haar war über jedem Ohr in eine dicke Pavilotte gedreht und im Nacken in einen modisch langen Zopf gebunden. Ein nachlässig über den linken Arm geworfener Domino und die mit ihrem Band an einem Rockknopf befestigte schwarze Halbmaske deuteten an, daß der Mann keineswegs ein Feind der Karnevalsfreuden war. Übrigens lag in seiner ganzen Erscheinung etwas Unsicheres, Schwankendes, eine ebenso schrankenlos offenherzige und gutmütige als unzuverlässige Sanguinität, etwas Poetisches, Virtuosenhaftes, eine ruhelose, fahrige Genialität, die mit sich selbst uneins war.

Sein Begleiter, ein Fünfziger, hager, lang war von viel gesetzterem Wesen. Er hatte nicht gerade ungewöhnliche, aber doch entschieden gescheite Züge. Sein Auftreten machte den Eindruck, als stehe er fest auf den Füßen und habe sich viel in der Welt umgetrieben. Er ging weit einfacher oder wenigstens weit einfarbiger gekleidet als der andere, aber man hätte wetten mögen, er sei gewohnt, eine gutgefüllte Börse in der Tasche zu tragen.

»Was wollen Sie doch mit Ihrer Sklavenplantage, Herr Schubart?« entgegnete Bechtold seinem Begleiter. »Ich habe in der militärischen Pflanzschule auf der Solitude nichts wahrgenommen, was diese schlimme Benennung rechtfertigte.«

»Oh, – das glaub' ich,« versetzte der Poet und Musikus Christian Friedrich Daniel Schubart, dermalen Organist an der Ludwigsburger Stadtkirche, mit Lachen. »Wenn einer über das Weltmeer herüberkommt, um einen neuen Zögling zu bringen, so wird man natürlich alles aufbieten, sich im günstigsten Lichte zu zeigen.«

»Mein lieber Magister, ich bin lange nicht eitel genug, zu glauben, daß man sich meinetwegen besondere Mühe gegeben habe. Der Herzog hat mich allerdings sehr gnädig empfangen –-«

»Natürlich, ganz natürlich! Ich wette, er schwelgt jetzt bereits in dem Gedanken, daß Sie seinen Ruhm drüben in der neuen Welt ausposaunen werden. Ich will verdammt sein, in meinem Leben nie mehr etwas anderes zu hören als Zillingsche Predigten, wenn der Herzog im Notfalle nicht den Herostrat spielen würde, nur um von sich reden zu machen.«

»In diesem und in jedem Falle hätte er sich in meiner Person ein schlechtes Sprachrohr ausgewählt. Aber Sie müssen mir schon erlauben, lieber Freund, Ihre etwas, wie soll ich sagen? – etwas poetische Ansicht von der Sachlage auf das prosaische Maß der Wirklichkeit zurückzuführen. Wir Amerikaner, denn einen solchen darf ich mich ja wohl nennen, wir lieben das Reelle. Nun sehen Sie, es ist, amerikanisch gesprochen, ein Fakt, das sich in dieser langen Reihe von Jahren, seit ich als junger Springinsfeld mit meinen Eltern die schwäbische Heimat verließ, hier manches und vieles sogar zum Besseren gewendet hat. Auch gestehe ich, daß es mir wohlgefiel, den Fürsten inmitten der dreihundert Zöglinge seiner Pflanzschule so zwanglos und verständig sich bewegen zu sehen, als wäre die Pädagogik sein eigentliches Element.«

Schubart nahm eine Priese aus der dargebotenen Dose seines Begleiters, zog dann die Mundwinkel höhnisch herab und versetzte:

»Ja, ganz recht, mein werter Herr und Gönner, die Pädagogik ist jetzt das Element, in welchem er lebt und webt; denn –

Weil Dionys von Syrakus
Aufhören muß
Tyrann zu sein,
So ward er ein Schulmeisterlein.«

»Ei, lieber Magister,« sagte Bechtold lächelnd, »mit der Tyrannei muß es doch nicht so gar viel auf sich haben, wo man solche blutige Sarkasmen ausgehen lassen darf.« »Ausgehen lassen? Gott behüte mich! Da käme man schön an! Aber es ist meine verdammte Gewohnheit, wenn ein Impromptu mir auf die Zunge schlüpft, dasselbe abzuschnellen – Doch einerlei! – Wunderlich kommt es mir immerhin vor, daß ein Amerikaner, der noch dazu ein englischer Lord ist, seinen Sohn in eine von Herzog Karl gestiftete Erziehungsanstalt herübersenden mochte.«

»Ei, mein Lieber, die Sache ist nicht so wunderlich, wie Sie sich vorstellen. Mein seliger Schwager Raleigh, welcher übrigens kein Lord, sondern nur ein schlichter, wenn auch großer Grundbesitzer und Kaufmann am Potomak war, mein Schwager Raleigh, sage ich, hatte eine große Vorliebe für die deutsche Art. Ich darf wohl sagen, daß meine gute Schwester ihrem Gatten diese Vorliebe eingeflößt hat, denn sie ist eine vortreffliche Frau. Als er, viel zu früh für seine Familie, dahingegangen, fand sich in seinem Testamente die Bestimmung, daß von seinen zwei Söhnen der ältere in Amerika, der jüngere aber in Deutschland erzogen werden sollte. Jener, um fünf Jahre älter als dieser, befindet sich jetzt auf dem College Cambridge bei Boston. Mit meinem jüngeren Neffen hab' ich mich als Vollstrecker des letzten Willens meines Schwagers nach Europa und Deutschland aufgemacht. Ich beabsichtigte zuerst, den Knaben im Philanthropinum zu Dessau unterzubringen; allein ich muß gestehen, daß mir das dortige Treiben nicht gefiel und daß ich bezweifle, es werde diese spielende, breiweiche Methode Männer erziehen, welche den Geschäften und Stürmen des Lebens gewachsen wären. Basedow selber, der große Pädagog und Philanthrop, von welchem ich in London auf meiner Herreise Wunder gehört hatte, mißfiel mir ganz entschieden –«

»Er ist ein Zyniker, hörte ich.«

»Ein entschiedener, ein solcher, daß ich mich versucht fühlte, auf den berühmten Mann unser gutschwäbisches Wort Schweinigel anzuwenden –«

»Aber doch, bitt' um Verzeihung, ein genialer Mann. Es hat keiner den Rousseau so gut verstanden wie Basedow, keiner sich so energisch bemüht, der Rousseauschen Reform der Erziehung in Deutschland Raum zu schaffen.«

»Das mag sein; aber sehen Sie, Wertester, es ist mit dem Rousseau doch eine gar eigene Sache. Mein trefflicher Schwager war ganz begeistert von des Mannes Schriften und ließ nicht ab, bis auch ich, der ich sonst von Büchern meist nur die Comptoirbücher zur Hand nehme, die Rousseauschen las. Sie umnebelten auch mir anfangs den Kopf nicht schlecht, doch wurde ich früher wieder nüchtern als mein guter Schwager, der ein hochherzigster und heißblütigster Virginier war. In Amerika ist aber nicht der Boden, wo die Schwärmerei für das Naturevangelium Rousseaus in die Länge gedeihen kann.«

»Wie, in den Urwäldern, in den Savannen, unter den harmlosen Indianern nicht? Und warum denn nicht?«

»Weil man dort mit der Natur und mit den harmlosen Indianern, wie Sie dieselben charakterisieren, viel zu viel zu schaffen und zu kämpfen hat, als daß man nicht bald zur Erkenntnis gelangte, es seien, um mit beiden fertig zu werden, ganz andere Mittel vonnöten als Rousseausche Ideen.«

»Das klingt nicht sehr poetisch.«

»Ist aber desto wahrer. Amerika, lieber Freund, braucht Männer, praktische Männer statt poetischer Träumer. Wir haben dort keine Zeit zum Phantasieren.«

»O weh!«

»Keineswegs. Die Wirklichkeit, die bare Wirklichkeit bietet dort Bedeutendes und Großes genug. Eine neue Welt, ein neuer Staat ist dort im Werden, und gerade jetzt sind die bestimmtesten Anzeichen da, daß die nordamerikanischen Kolonien reif und entschlossen sind, von dem Gängelbande Englands sich loszumachen. Doch davon red' ich Ihnen ein andermal, bevor ich die Rückreise antrete. – Ich fand also die Basedowsche Erziehungsmethode für meinen Neffen und Mündel nicht passend, und da ich ihm ohnehin das Heimatland seiner Mutter zeigen wollte, ging ich über Leipzig und Frankfurt, wo ich Geschäfte hatte, hierher. Allenthalben auf meinem Wege hört' ich viel Rühmliches von der herzoglichen Anstalt auf der Solitude. Ich besuchte sie, sie gefiel mir, und so hab' ich ihr meinen Georg anvertraut.«

»Und Sie glauben, der Knabe werde dort befähigt werden, dereinst ein freier Amerikaner zu sein?«

»Ja, denn wer wahrhaft frei sein will, muß die Disziplin kennen und achten lernen. Glauben Sie mir, ich habe die Sache mit aller Gewissenhaftigkeit überlegt; denn da ich selber kinderlos bin, liebe ich die Söhne meiner Schwester, als wären sie die meinigen. Den Ausschlag für meinen Entschluß gab übrigens der glückliche Umstand, daß ich meinen Neffen auf der Solitude in der Nähe einer befreundeten Familie weiß.«

»Was ist das für eine?«

»Die des Hauptmanns Schiller, welcher die Aufsicht über die Gärten des herrlichen Lustschlosses hat. Ich habe in ihm zu meiner großen Freude einen Freund aus der Jugendzeit ganz unvermutet wiedergefunden. Er ist ein tüchtiger und würdiger Mann.«

»Allerdings, daneben freilich ein Pedant.«

»Hm, ihr Herren Poeten habt darüber Ansichten, die ein Geschäftsmann nicht immer unterschreiben kann. Mein Freund, der Hauptmann, wird mit seiner Frau –«

»Ach, das ist ein liebes Weibchen! Hat eine poetische Ader, sag' ich Ihnen, und dabei viel Humor. Der kleine Fritz, der hier am Lyzeum studiert, hat was von der Mutter abbekommen. Ist ein verteufelt aufgeweckter Junge, der Fritz. Macht lateinische Verse, daß es eine Art hat. Und dabei hat der Bursche so etwas in seinem Auge, so etwas wie Genie.«

»Freut mich, das zu hören, Herr Schubart. Ich hab' dem jungen Schiller einen Gruß von seinen Eltern zu sagen, und daß sie ihn heute besuchen werden. Die Frau Hauptmännin will ihrem Sohne eine Extrafreude machen, weil das letzte Zeugnis so gut ausgefallen. Er wohnt, warten Sie, ich hab' mir's notiert –«

»Lassen Sie Ihre Notiztafel nur stecken. Der Fritz wohnt bei dem Präzeptor Winter, und der Buckel des armen Jungen hat, wie ich weiß, schon oft und schmerzlich empfunden, was das für ein grimmiger Schulfuchs und Haustyrann ist. Ich zeige Ihnen das Haus. – Aber hören Sie doch, wie pläsierlich es da drüben in der Allee zugeht.«

In der Tat klang helles Lachen aus der Allee herüber, wo die verschiedenen »Pläsiers« einer »venezianischen Messe« im vollen Gange waren.

Die beiden Männer blieben stehen, und Herr Bechtold hätte es seinem Begleiter leicht ansehen können, daß derselbe gar zu gerne in das muntere Gewühl sich gemischt hätte.

»So etwas haben wir freilich nicht in unserem Amerika,« sagte der amerikanisierte Deutsche. »Es geht dort durchweg ernst und nüchtern zu, und sogar bei den Vergnügungen dominiert eine gewisse puritanische Steifheit, insbesondere in den nördlichen Kolonien, in den eigentlichen Neu-England-Staaten.«

»Das muß aber allmächtig langweilig sein,« bemerkte Schubart. »Für einen Mann, der wie Sie an das rauschende Leben einer europäischen Residenz gewöhnt ist, allerdings. Indessen hat das Leben in Amerika auch seine eigentümlichen geselligen Reize und bei uns, in Virginien, ist alles zwangloser als in Neu-England, wenn auch die Grenzen ehrbarer Sitte überall streng eingehalten werden.«

Trommelwirbel schallte vom Schloßhofe herauf.

»Ah,« sagte Schubart, »die Schloßwache tritt ins Gewehr: unser Durchlauchtigster wird also die Bewohner seiner guten Stadt mit seiner Erscheinung beglücken.«

Von der Allee her kam in diesem Augenblick eine Dame in elegantester Karnevalstoilette über die Straße. Sie war von schönem Wuchs, und unter ihrem weitbauschigen Rocke kamen ein paar niedliche Füße zum Vorschein, welche in Schuhen von blauem Sammet mit zollhohen roten Absätzen staken. Indem sie an den beiden Männern vorüberging, erwiderte sie Schubarts tiefen Bückling mit einer Art majestätischer Herablassung. Sie hatte die Halbmaske abgenommen und enthüllte Züge, welche von Augen voll südlichen Feuers belebt waren, allein im übrigen trotz meisterhaft angewandter Schminkkunst doch ziemlich verlebt und veraltet aussahen. Diesseits der Straße blieb sie stehen und schaute, wie alle Welt, erwartend gegen das Schloß hinab.

Von dorther kam die herzogliche Equipage die Straße herauf. Vorreiter in gelb und schwarzer Livree sprengten vor dem von acht Schimmeln gezogenen Wagen her. Leibjäger in grünen goldbesetzten Röcken ritten rechts und links am Schlage, ein halb Dutzend Leibhusaren in prächtigen, mit kostbarem Pelzwerk verbrämten roten Wämsern begleiteten den Wagen, in welchem Herzog Karl mit dem Oberst von Montolieu, einem seiner Adjutanten, saß. Man sah dem Fürsten, welcher in der Mitte der vierziger Jahre stand, seine wild verlebte Jugend nicht an. Eine außerordentlich robuste Gesundheit hatte ihm über die Folgen eines Wandels hinweggeholfen, welcher einen andern geistig und körperlich hätte ruinieren müssen.

Karl war noch immer ein schöner Mann. Sein blaues Auge leuchtete von Geist, und wie er so dasaß im offenen Wagen mit seinem goldbortierten, dreieckigen Hütchen, seiner mit »Haarlocken« versehenen gepuderten Frisur mit einem Zöpfchen, seinem kirschroten Rock, seiner gelben Pattenweste und hohen Stiefeln, hatte seine Erscheinung etwas Imposantes, obwohl dieser Aufzug unserem veränderten Geschmacke barock genug vorkommen mag.

Er hatte eins jener so wirkungsreichen Mittel, womit Fürsten die Menschen zu bezaubern vermögen, all sein Lebenlang vollkommen in seiner Gewalt: ein äußerst leutseliges Gebaren gegen die Menge. Auch heute machte er von diesem Mittel reichlichsten Gebrauch, indem er die untertänigen Reverenzen, welche ihm rechts und links dargebracht wurden, mit freundlichem Lächeln erwiderte. Nur einmal fuhr eine Wolke über sein Gesicht, als ihn beim Vorüberfahren die Dame, deren wir erwähnten, in sehr graziöser und unterwürfiger, aber dabei auffallender Weise mit dem Fächer grüßte, Karl wandte sich ab, ohne diesen Gruß einer Erwiderung zu würdigen, und der Wagen rollte dahin.

Nun rings ein Gemurmel und Geflüster, wie man es eben nur von Residenzbewohnern bei solchen Gelegenheiten hören kann:

»Wie gut Se. Durchlaucht aussehen!« – »Wo fährt er hin? Nach der Solitude oder bloß nach dem Salon!« – »Will er die Gräfin von Hohenheim besuchen?« – »Er ist halt doch ein scharmanter Herr und einen zweiten Karl gibt's in der Welt nicht.« Die Dame jedoch schien den Herrn nicht sehr »scharmant« zu finden. Sie murmelte etwas zwischen den Zähnen, was auf ein Haar einem mit echt italischem Akzent gesprochenen Maledetto! glich, kehrte um und verschwand mit eiligeren Schritten, als sie ihrer vornehmen Tournüre eigentlich zukamen, in einer Seitenstraße.

Schubart sah ihr mit schallendem Gelächter nach.

Herr Bechtold blickte ihn verwundert an und fragte:

»Was war denn das?«

»Ein Wechsel, ausgestellt auf die Erinnerung an vergangene Schäferstunden, aber nicht akzeptiert!« erwiderte der Poet, noch immer lachend.

»Ich verstehe Sie nicht ganz. Wer ist die Madame?«

»Die Madame? Ja, das war vorzeiten ihr offizieller Titel, und es hatte derselbe eine ganz andere Geltung als der Titel ,Ihre herzogliche Durchlaucht', welchen die Baireuther Prinzessin Elisabeth Friederike Sophie, die Gemahlin unseres Durchlauchtigsten, führt. Die Madame, welche Sie dem Herzog so ungeschickt sich ins Gedächtnis zurückrufen sahen, ist keine geringere Person als Augusta Gardella, Tochter eines venezianischen Gondoliers oder Lastträgers, vormals Tänzerin an der herzoglichen Oper, dann in ihren schönen Tagen Favoritsultanin unseres allergnädigsten – Sultans. Schon seit lange ist sie aber eine gefallene Größe. Haben Sie nicht bemerkt, daß die alte Närrin noch immer blaue Schuhe trägt?«

»Blaue Schuhe?«

»Nun ja. Haben Sie denn nie gehört, daß in Karls pompösesten Tagen seine offiziellen Odalisken das vielbeneidete Vorrecht hatten, blaue Schuhe zu tragen? Es waren freilich meist italische und französische Füße, welche in solchen Schuhen staken, aber ich könnte Ihnen doch mehr als eine württembergische Mutter von vielen Ahnen namhaft machen, welche viel darum gegeben hätte, die Füße ihrer Tochter mit blauem Sammet oder Atlas bekleidet zu sehen. Die privilegierten Schuhe der Gardella sind jedoch so unreparierbar ausgetreten, daß sie dieselben auf den nächsten besten Komposthaufen werfen sollte. Sic transit gloria mundi sandaliorumque! Was meinen Sie?«

»Ich meine, den Leuten in Amerika würde so ein Schuhevorrecht noch unleidlicher vorkommen als die Privilegien der englischen Krone. Das ist ja eine beispiellos freche Verhöhnung von Sitte und Anstand.«

»Beruhigen Sie sich, mein Wertester. Wir sind jetzt darüber hinweg, über die blauen Schuhe nämlich. Seit die tugendsame Donna Schmergelina die Stelle einer Coeurkönigin eingenommen, ist es mit der exzentrischen Galanterie so ziemlich vorüber, vielleicht für immer.«

»Donna Schmergelina? Es gibt dermalen wunderliche Namen in Alt-Württemberg.«

»O, mein Lieber, was diesen Namen angeht, so ist er sozusagen eine Erfindung ihres gehorsamen Dieners. Aber Sie wissen doch, wen ich damit meine?«

»Nein.«

»Nun, wen anders als die Franzel, vulgo Franziska, Reichsgräfin von Hohenheim, denn dazu hat sie das Gold ihres Liebhabers und die Gefälligkeit des kaiserlichen Hofes gemacht. Es ist ihr nicht an der Wiege gesungen worden. Ich kenne ihre Familienverhältnisse wohl, denn sie ist unweit von meiner Vaterstadt Aalen zu Hause und ist die Tochter des Herrn von Bernardin, eines armen Schluckers von Edelmann, dem ein kleiner Teil des Gutes Adelmannsfelden gehörte. Sie ist aber schon als junges Mädchen sehr gescheit gewesen, und so gelang es ihr, obgleich sie nie, selbst in ihrer ersten Blüte nicht, eine blendende Schönheit war, einen reichen Gemahl zu erobern, den baireuthischen Kammerherrn von Leutrum, welcher freilich ein Ungeheuer von Häßlichkeit war, ein Kamel im figürlichen Sinn nicht nur, sondern auch im wörtlichen, denn er war mit einem ansehnlichen Höcker ausgestattet. Karl lernte die Frau von Leutrum auf einem Ausfluge nach Pforzheim kennen, wo sich der Adel der Umgegend zur Begrüßung des Herzogs versammelt hatte. Die Baronesse tat's ihm auf der Stelle an. Er fing Feuer wie vielleicht noch nie, und das will viel sagen. Da hat er denn auch sogleich seine Maßregeln getroffen. Er ernannte den Leutrum zu seinem Reisemarschall, was dem Baron die Verpflichtung auferlegte, dem heimreisenden Herzog vorauszueilen, während seine Gemahlin ihren Platz in Karls Kutsche fand, welche bei der Ankunft in Ludwigsburg nicht vor dem Schlosse, sondern vor dem Lustschlößchen La Favorite drunten im Parke hielt. Während sich der Herzog dort mit der Baronesse verständigte, blähte sich der Herr Reisemarschall im Gefühl seiner neuen Würde in den Gemächern des Schlosses, natürlich zum großen Ergötzen der Hofleute, deren Flüstern und Lächeln er sich anfangs nicht zu deuten wußte. Da indessen seine Anwesenheit unbequem zu werden anfing, erhielt ein munterer Kammerherr den Auftrag, dem Herrn Reisemarschall die erstaunliche Neuigkeit zu erzählen, es sei in Ludwigsburg ein seltenstes Wundertier angelangt, ein Dromedar, dem auf der Herreise plötzlich Hörner gewachsen. Da endlich merkte der Arme, welche Stunde die Glocke geschlagen, und fand für gut, sofort auf seine Güter zu verschwinden. Seine Frau Gemahlin jedoch hielt es nicht für angemessen, dieses Beispiel nachzuahmen. Die Weiber haben, wie Sie wissen, ihre eigenen Launen, und es gefiel der Baronesse in unserer Residenz und deren Umgebungen so gut, daß sie beschloß, ihren bleibenden Aufenthalt bei uns zu nehmen.«

Herr Bechtold, dessen Geschmack weder die erzählte Geschichte noch der frivole Ton zusagte, in welchem sie vorgetragen wurde, schwieg nachdenklich. Schubart fuhr fort:

»Der Herzog hatte es bei der Entführung der Baronesse ohne Zweifel nur auf eine der zahllosen Liebesepisoden seines Herrscherlebens abgesehen. Aber da hatte er die Rechnung ohne den Wirt oder vielmehr ohne die Wirtin gemacht. Donna Schmergelina verstand es, den losen Vogel festzuhalten. Sie wußte die Empfindsame und Tugendhafte zu spielen, und das hatte und hat noch jetzt für den Herzog den Reiz der Neuheit. Es verleidete ihm die frechen welschen Kurtisanen. Franziska ist jetzt Reichsgräfin, und Hofleute, welche mit den Wetterzeichen bei Hofe genau vertraut sind, behaupten, Karl würde seine Geliebte in aller Form heiraten, wenn ihm nur die Herzogin den Gefallen tun wollte, das irdische Jammertal mit den himmlischen Freuden zu vertauschen.«

»Alle diese Verhältnisse,« sagte Herr Bechtold, »wollen sich schlechterdings nicht in die Anschauungen einfügen, welche ich seit dreißig Jahren gewonnen habe. – Indessen hörte ich nicht nur in Württemberg, sondern auch anderwärts in Deutschland, daß die Beziehungen des Herzogs zu der Gräfin von Hohenheim einen günstigen Einfluß auf den Fürsten geübt hätten. Selbst ein so streng denkender Mann wie mein Freund, der Hauptmann Schiller, äußerte sich in dieser Weise.«

»Der Hauptmann Schiller,« warf Schuhart ein, »ist der Diener des Herzogs und ganz und gar von dessen Gnade abhängig.«

»Aber auch die Frau Hauptmännin, doch gewiß eine durch und durch ehrbare Frau, war des Lobes der Gräfin voll. Diese sei, wie sie mir sagte, voll edelster Herzensgüte und voll seltener Anmut im Benehmen gegen hoch und niedrig.«

»Das letztere, ja, das muß man ihr lassen. Gewiß, zu benehmen weiß sie sich, die Donna Schmergelina.«

»Sie scheinen ihr nicht hold zu sein, lieber Freund. Und doch sei sie, wie ich hörte, auch durch ihre ungewöhnliche Bildung vor vielen Frauen ausgezeichnet.«

»Bah, bah! Lauter Schein und Scheinheiligkeit, hinter welcher sich die ungemessene Herrschsucht versteckt. Wer nicht devotest nach ihrer Pfeife tanzt, dem weiß sie's einzutränken.«

»Aber es soll doch Tatsache sein, daß der Herzog seit seiner Verbindung mit dieser Frau die Übung seiner Pflichten gegen das Land ernster sich angelegen sein lasse, daß er das Gute fördere, für die Hebung der Landwirtschaft und des Unterrichts sorge und überdies die rasende Verschwendung seiner früheren Jahre bedeutend ermäßigt habe.«

»Sultanslaunen, wertester Herr und Gönner, Sultanslaunen, weiter nichts. Ei, ja freilich, er hat eingesehen, daß die Schafe keine Wolle mehr geben würden, wenn man nicht einigermaßen für ihre Bedürfnisse Sorge trüge. Ist diese Einsicht etwa ein Verdienst? Und was die Ermäßigung der verschwenderischen Hofwirtschaft angeht – na, Sie werden, meine ich, seit Ihrem Hiersein nicht sehr viel Sparsamkeit wahrgenommen haben.«

»Allerdings nicht, und da ich sagen darf, daß ich von Geldsachen etwas verstehe, so muß ich meiner Verwunderung Ausdruck geben, wie das Württemberger Land imstande war und ist, die ungeheuren Summen aufzubringen, welche ein so glänzender Hofhalt notwendig verschlingen mußte und noch verschlingen muß.« »O, Herr Bechtold, das Württemberger Land ist unerschöpflich und schier nicht zum Umbringen. Der Herzog kennt die Hilfsquellen desselben perfekt. Sehen Sie, da drüben an der Straßenecke stand bis vor wenigen Jahren die Bude, in welcher der infame Wittleder, einer der Schätzeheber des Herzogs, alle Ämter und Stellen von den höchsten bis zu den niedrigsten öffentlich versteigerte. Damit ist's jetzt vorbei, weil zuletzt niemand mehr sein gutes Geld in die Bude tragen wollte, da die armen Tröpfe, welche es getan, gar zu schmählich angeschmiert waren. Nein, damit ist nichts mehr zu machen. Allein unser Allergnädigster hat noch andere Prägestöcke – ich meine nicht die in der Münze zu Stuttgart. Ist mir recht, so kann ich Ihnen noch heute einen der absonderlichsten zeigen. Freilich, das Bild hinkt oder entspricht vielmehr der Sache ganz und gar nicht. Es wäre tunlicher, den Herzog als eine neue Art von Viehzüchter darzustellen. Sie müssen nämlich wissen, daß häufig Mynheers aus Holland zu uns heraufkommen, um Vieh einzukaufen. Allmählich hat nun ihr Geschmack am schwäbischen Fleisch eine höchst abnorme Richtung genommen, indem er vom tierischen auf das menschliche überging.«

»Sie sind ein Mann von Humor, lieber Schubart.«

»Sie meinen, ich scherze, Wertester? Aber diesmal täuschen Sie sich ganz und gar. Nein, nein! Und wenn auch uns miserabeln Deutschen nichts mehr geblieben sein sollte als der bittere Sarkasmus und das verzweiflungsvolle Lachen, eher doch möge meine Zunge verdorren, als daß ich soweit käme, über diese bodenlose Schmach zu scherzen und zu lachen.«

Bechtold sah verwundert auf.

Der da neben ihm herging, war nicht mehr der leichtfertige Poet und Musikus, sondern der zürnende Patriot. Schubart hatte sich hoch aufgerichtet, und seine Augen sprühten Feuer unter den finster zusammengezogenen Brauen hervor.

»Sie sind bewegt, werter Freund,« sagte Herr Bechtold teilnehmend.

»Wer auch sollte darob unbewegt bleiben können?« entgegnete Schubart und setzte, nach seiner wetterwendischen Art rasch wieder in einen leichteren Ton fallend, hinzu: »Ich wette, auch Ihre Kaltblütigkeit, Ihre alt- oder neuenglische Ruhe hält nicht stand gegenüber der Karnevalsszene, welche ich Ihnen heute noch zeigen zu können hoffe oder vielmehr fürchte. Doch sehen Sie, da kommt gerade der Bub' Ihres Freundes daher, der junge Schiller.«


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