Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Viertes Buch.

Erstes Kapitel.

Das Winterasyl des Flüchtlings. – »Don Karlos.« – Rückblick. – »Die Qual erlahme an meinem Stolz!« – Ein Gang über den Schnee.

Die bleiche Sonne eines hellen Wintertages lugte durch das Fenster der Hinterstube eines bescheidenen Landhauses, welches etwas abseits von den zerstreuten Häusergruppen des Dörfchens mitten in einem großen, tiefverschneiten Garten lag. Vielleicht wundert sie sich, die Sonne, in dem zu dieser Jahreszeit gewöhnlich einsam stehenden Hause einen fremden Gast vorzufinden, der freilich nicht viel Geräusch machte, sondern in den stillen Räumen ein recht anachoretisches Leben führte, seit Wochen schon. Und ob er gleich ein noch ganz junger Einsiedler war, erfüllte ihn doch die winterliche Einsamkeit mit einem gewissen Behagen. Ihm war zumute wie einem, der sich aus den Gefahren einer stürmischen See in den Hafen gerettet fühlt, und wäre es auch nur ein Nothafen.

Hochherzige Fürsorge mütterlicher Freundschaft hatte dem Flüchtling, den wir aus Stuttgart entweichen sahen, fern von der Heimat eine gastliche Zufluchtsstätte bereitet. Nach den Aufregungen, Nöten und Sorgen eines unsteten Wanderlebens in den Main- und Rheingegenden konnte er sich hier ausruhen und zu neuen Geistestaten sammeln. Die Stille seiner Zufluchtsstätte tat ihm wohl, die Einsamkeit stumpfte den Stachel bitterer Erinnerungen, das Gefühl der Sicherheit milderte die Überspannung der Saiten seiner Seele. Um so mehr, da er wußte, daß ihm in den Umgebungen seines ländlichen Asyls neuerworbene Freunde lebten, auf deren Zuneigung er sich verlassen konnte. Wie in früheren und späteren Perioden seines Lebens, erfuhr der Dichter auch in dieser die schwerwiegende Gunst des Schicksals, edelgesinnte Freunde zu besitzen.

Jene schöne Pietät, welche, wünschen wir, die Deutschen festhalten mögen als eine der hellsten Lichtseiten ihres Nationalcharakters, hat in neuester Zeit das von unserem Dichterflüchtling unter dem Namen eines Doktors Ritter bewohnte Zimmer wieder in seiner damaligen Gestalt hergestellt. Der zum Kultus des Genius sich bekennende Wallfahrer erblickt in dieser Hinterstube, die jetzt nach ihrem einstmaligen Bewohner genannt ist, das bescheidene Mobiliar aus jener Asylzeit des großen Mannes, hauptsächlich bestehend aus einem Lehnstuhl und einem Tische, der auf einem gewundenen Bein mit drei Auslaufsfüßen ruht.

Heute hatte sich der Dichter Tisch und Stuhl an das Fenster gerückt, von welchem die Sonne die Eisblumen weggeschmolzen, so daß der Ausblick auf die nahen Fichtenwälder frei war. Doch schien die Außenwelt den Poeten nicht sehr zu reizen. Er warf nur von Zeit zu Zeit einen zerstreuten Blick durch die kleinen runden Scheiben und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Bald flog die Feder mit jenen energisch deutlichen Zügen, welche Schillers Handschrift charakterisieren, über das Papier, bald griff er aus dem unordentlich durcheinanderliegenden Büchervorrat, womit der Tisch belastet war, einen Band heraus, um eine ihm sich aufdrängende Idee auf den Prüfstein historischer Nachweise zu bringen, bald auch legte er die Feder für eine Weile weg und warf sich in den Lehnstuhl zurück, um mit über der Brust gekreuzten Armen nachzusinnen.

Diese nachdenkliche Stellung des jungen Mannes zeigte das Gewinnende in seiner Physiognomie recht deutlich auf. Die ideale Welt, in welcher er, ganz in sich zurückgezogen, zu dieser Stunde lebte, prägte sich gleichsam in seinen Zügen aus. Wer ihn so gesehen und seine jetzige Erscheinung mit seiner früheren als Regimentsfeldscherer auf dem Stuttgarter Paradeplatz verglichen hätte, konnte nur seinem Jugendfreunde Petersen beipflichten, wenn derselbe sagte, Schillers Geist scheine aus dem Innern in den Körper herausgequollen zu sein; er habe sich in seine Gesichtszüge ergossen und allmählich diese, sowie die ganze Körpergestalt, vorteilhaft verändert. In diesem Augenblick war Schiller schön. Die Schöpferfreude hatte seine blassen Wangen mit einem zarten Rot überhaucht, die feinen Adern an den hohen weißen Schläfen traten deutlich hervor, in seinen zwischen Blau und Lichtbraun spielenden, von starken blonden Brauen überwölbten Augen leuchtete ein sanftes Feuer und um seine halb geöffneten Lippen schwebte ein anmutiges Lächeln, als fühlten sie den Kuß der Muse. Der ganze Ausdruck dieses sinnenden Kopfes war ein zugleich kindlicher und genialer.

Während Schiller sich wieder nach dem Tisch vorbeugt, um zu schreiben, begehen wir eine jener Indiskretionen, wie sie dem Novellisten erlaubt sind. Wir sehen zwar dem arbeitenden Dichter nicht zudringlich über die Schulter, aber wir sind neugierig genug, folgendes Fragment eines Briefes zu lesen, welcher, frischgeschrieben und zum Zusammengelegt werden bereit auf einer Ecke des Tisches liegt:

»... Über ein neues Stück bin ich mit mir einig. Um meines langen Hin- und Herschwankens zwischen Imhof und Maria Stuart los zu sein, hab' ich beide bis auf weiteres zurückgelegt und arbeite nunmehr entschlossen und fest auf einen Don Karlos zu. Ich finde, daß diese Geschichte mehr Einheit und Interesse zum Grunde hat, als ich bisher geglaubt, und mir Gelegenheit zu starken Zeichnungen und erschütternden oder rührenden Situationen gibt. – Ich stelle mir vor, jede Dichtung ist nichts anderes als enthusiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unseres Kopfes, und so gestehe ich Ihnen, lieber Freund, daß ich meinen Karlos gewissermaßen statt eines Mädchens habe. Ich trage ihn auf meinem Busen, ich schwärme mit ihm durch die Gegend. Wenn er einst fertig ist, so werden Sie mich und Leisewitz an Don Karlos und Julius von Tarent abmessen, nicht nach der Größe des Pinsels, sondern nach dem Feuer der Farben, nicht nach der Stärke auf dem Instrument, sondern nach dem Ton, in welchem wir spielen. Karlos hat, wenn ich mich des Maßes bedienen darf, von Shakespeares Hamlet die Seele, Blut und Nerven von Leisewitz' Julius und den Puls – von mir. Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen, in der Darstellung der Inquisition die prostituierte Menschheit zu rächen. Ich will – und sollte mein Karlos dadurch auch für das Theater verloren gehen – einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, an die Seele stoßen – –«

So wissen wir denn, was die Gedanken des Dichters in seiner winterlichen Einsamkeit hauptsächlich beschäftigte. Es waren die Vorarbeiten zu jenem berühmten Trauerspiel, mit dessen Schöpfung Schiller den Übergang von der ersten Phase seiner Dichtung zur zweiten vollzog. »Don Karlos« wurde für ihn, wie jedermann weiß, die Brücke von der naturalistischen Sturm- und Dranggenialität hinüber zur bewußten Künstlerschaft. Indem er diese Brücke überschritt, wurde er dem großen Prinzip, welches all sein Leben und Dichten beseelte, nicht abtrünnig: – es war dies für ihn überhaupt eine Unmöglichkeit. Aber während die Freiheitsidee in seinen drei Erstlingsstücken in wilden Sturzwellen grundaufmühlend himmelan brandete, begann sie im »Don Karlos« als ein klarer Schönheitsstrom dahinzufließen. An die Stelle des schrankenlosen Titanismus mit seinen grotesken Auswüchsen trat die ruhige Macht und Größe des Humanitätsgedankens. Was aber später der eigentliche Inhalt von Schillers ganzer Tätigkeit wurde, die Überzeugung, daß des Dichters höchste Mission sei, die Menschheit mittels der Schönheit zur Freiheit zu erziehen, das verdrängte, wenn auch vorerst noch nicht zu völliger Reife gediehen, allmählich den unsicher tastenden kraftgenialen Ungestüm aus seiner Seele und er begann einzusehen, daß der Fortschritt der Gesellschaft weit mehr, unendlich weit mehr durch die stille aber unwiderstehliche Macht der Bildung ganzer Volker als durch den subjektiven Weltverbesserungsdrang einzelner Individuen bedingt sei.

Ein solcher Läuterungsprozeß des Geistes geht aber nicht ohne Schmerzen vor sich, um so weniger, wenn er sich inmitten äußerlicher Bedrängnisse vollziehen muß. Diese hatten dem Dichter seit seiner Flucht aus der Heimat wahrlich nie gefehlt. Schon das zweideutige Benehmen des Freiherrn von Dalberg, auf welchen er ein so großes Vertrauen gesetzt und welcher den Flüchtling ängstlich von sich ferngehalten hatte, hätte hingereicht, einer minder energischen Seele die Hoffnung auf die Zukunft zu rauben. Aber die Federkraft von Schillers Geist bewährte sich unter dem Drucke der Not, die mitunter zu gänzlicher Entblößung sich gesteigert hatte. »Die Qual erlahme an meinem Stolz!« hatte der Dichter in den »Räubern« seinen Karl Moor sprechen lassen: er fand jetzt Gelegenheit, diesen Satz zur Wahrheit zu machen, und er tat es. Während seines flüchtigen Weilens in Mannheim, Frankfurt, Worms, Oggersheim hatte er den »Fiesko« für die Bühne umgearbeitet und »Kabale und Liebe« vollendet. Damit war Schillers erste Dichter-Periode abgeschlossen und, wie Zelter viele Jahre nachher treffend an Goethe schrieb, das Chaos der Schillerschen Schöpfungen überwunden. Der durch Schwan in Mannheim unternommene Druck des »Fiesko« hatte dem Dichter die spärlichen Mittel geliefert, seine Verbindlichkeiten in Oggersheim zu tilgen und von da, nach schmerzlichem Abschied von dem treuen Streicher, die Reise nach dem gastlichen Winterasyl zu unternehmen, wo wir ihn wiedergefunden, einsam, in Studien versenkt, deren Resultate unter dem Titel »Don Karlos« später so unzählige Herzen rühren, erschüttern und erheben sollten.

Aber die Sonne langte immer schmeichelnder an die Fensterscheiben, drang herein, malte zitternde Goldkringeln auf Bücher und Papiere und lockte stummberedt:

»Laß die Arbeit ruhen und komm heraus zu mir!«

Nun stehen, wie männiglich bekannt, Sonne und Dichter in ganz eigenen freundschaftlichen Beziehungen zueinander. Die Allbeleberin ist den Poeten keineswegs ein »seelenloser Feuerball«, sondern noch immer, wie in den Tagen Homers und Pindars, das Symbol des Musengottes. Kein Wunder daher, daß Schiller der schmeichelnden Lockung folgte und, zu einem weiteren Spaziergang gerüstet, hinaustrat in den schönen Wintertag.

Es war einer jener Januartage, wo der Winter seine ganze Strenge, aber zugleich auch seine ganze Majestät entfaltet, wo er nicht stürmt und wütet, sondern lächelt, wie eben der Winter lächeln kann. Ein klingender Frost hatte den Boden mit einer festen, von Milliarden Diamanten blitzenden Schneebahn überzogen, über welche der Dichter leicht hinwegschritt, mit Wohlbehagen die herbe, aber reine und stählende Luft einatmend.

Er ging, nachdem er in einem halben Bogen das kleine Dorf umschritten, dem Bergwald zu, welcher in einem fast regelmäßigen Kreise die Talmulde umschloß. Hinter den fichtenbedeckten Hügeln stiegen ringsum höhere Berge empor, und so erhielt die kleine Landschaft den Charakter tiefer Abgeschlossenheit.

Auf einem Vorsprung am Saume des Waldes stillestehend, betrachtete sie der Dichter. Gerade unter sich sah er die zerstreuten Häuser des Dörfchens, und dort funkelte im Sonnenschein das Fenster, hinter welchem er schon so manche Nacht einsam gesonnen und geträumt, geforscht und gedichtet. Aus den Rauchfängen stieg der Rauch kerzengerade in die Luft und zerfloß oben in rötliche Wölkchen. Die Fichtenwälder legten einen dunkeln Kranz um die dörfliche Feldmark, und von diesem Kranze schnitten sich die dahinterliegenden Berge scharf ab, schimmernd in ihrem blendenden Schneeschmuck. Über dem ganzen Landschaftsbild lag die klare, blasse Himmelsbläue, an den Rändern des Horizonts von jenem Rot angehaucht, welches zu dieser Jahreszeit schon um Mittag das Kommen eines harten Nachtfrostes verkündigt.

Der einsame Wanderer wurde tief bewegt von der feierlichen Stille rings um ihn her. Hatte er doch erst während seines Aufenthalts in dieser Abgeschiedenheit die Natur so recht verstehen und lieben gelernt. Aber je mehr er mit ihr vertraut geworden, nur um so weniger war er in weichliche Naturschwelgerei versunken. Sein wesentlich philosophischer Geist trieb ihn an, die Erscheinungen des Naturlebens stets mit etwas Höherem, mit dem Menschen, in Beziehung zu setzen, und so bildete sich in ihm jene eigentümliche Naturbetrachtung aus, die später in einem seiner schönsten Gedichte, im »Spaziergang«, so herrlich sich manifestierte.

Auch jetzt schon, auf diesem Gang über den Schnee wurden in einem Selbstgespräche des Dichters Anklänge dieser Art und Weise, die Natur aufzufassen, laut.

»Bewundernswert,« sagte er, »ist mir doch immer die erhabene Einfachheit und dann wieder die reiche Fülle der Natur. Ein einziger und immer derselbe Feuerball hängt über uns, und er wird millionenfach gesehen von Millionen Geschöpfen und von denselben Geschöpfen wieder tausendfach anders. Er darf ruhen, weil der menschliche Geist sich statt seiner bewegt – und so liegt alles in toter Ruhe um uns her, und nichts lebt als unsere Seele. Und wie wohltätig ist uns doch wieder dieses gleichförmige Beharren der Natur! Wenn uns Leidenschaft, innerer und äußerer Tumult lange genug hin und her geworfen, wenn wir uns selbst verloren haben, so finden wir sie immer als die nämliche wieder und uns in ihr. Auf unserer Flucht durch das Leben legen wir jede genossene Luft, jede Gestalt unseres wandelbaren Wesens in ihre treue Hand nieder, und wohlbehalten gibt sie uns die anvertrauten Güter zurück, wenn wir kommen und sie wiederfordern. Wie unglücklich wären wir, wir, die es so nötig haben, auch die Freuden der Vergangenheit haushälterisch zu unserem Eigentum zu schlagen, wenn wir diese fliehenden Schätze nicht bei unserer unveränderlichen Freundin in Sicherheit bringen konnten. Unsere ganze Persönlichkeit haben wir ihr zu danken; denn würde sie morgen umgeschaffen vor uns stehen, so würden wir umsonst unser gestriges Selbst wieder suchen.«

Unser gestriges Selbst! Der Dichter hatte Mühe, im Spiegel der Vergangenheit die eigenen Züge wiederzuerkennen. So kräftig und nachhaltig waren die wechselnden Eindrücke gewesen, welche die Erlebnisse der letzten Monate auf ihn hervorgebracht hatten. Sein Zusammenleben mit dem wilden Kapff, die burschikosen Symposien der »Bande« im Ochsen zu Stuttgart, die kraftgenialische Unbändigkeit seiner Erstlingsdichtungen, das alles kam ihm schon recht fremd vor, das alles lag wie Schlacken hinter ihm. Mit größerer Teilnahme dachte er der gewaltsamen Lösung seines Verhältnisses zu Herzog Karl, welchem seine große Seele Gerechtigkeit widerfahren zu lassen um so mehr geneigt war, seit er wußte, daß der Fürst keineswegs kleinlich genug gedacht hatte, seine Eltern die Flucht ihres Sohnes irgendwie entgelten zu lassen. Mit Wärme erinnerte er sich seines transatlantischen Freundes und des bizarren, einst so geliebten Wesens, welches ihm zuletzt zu Hohenheim im mondbeglänzten Parke so plötzlich erschienen und entschwunden war.

»Seltsam,« sprach er bei sich, »ich dachte, die weite Erde könnte nur ein solches Geschöpf beherbergen, und doch sollt' ich es erleben, daß mir so bald ein zweites begegnete. Diese Doppelgängerin Laurettas! Meine Augen sagen mir, daß sie nicht halb so schön ist wie jenes wunderliche, wunderbare Kind, und doch geht von ihr ein fast noch größerer Zauber aus. In den Augen dieser Frau ist Laurettas Blick. Ich meine, er müsse auf den Grund meines Herzens dringen und dort eine zitternde Unruhe wahrnehmen. Ist sie ein Ideal, und wenn ein solches, ist sie das meinige? Wer mir die richtige Antwort, wer mir Gewißheit gäbe! O, meine Mutter, ich bin deiner Warnungen, deiner liebevollen Lehren nicht uneingedenk; aber, du Gute, hast keine Ahnung von der Magie, welche ein solches Frauenauge auf eine Dichterseele übt. Ob sie mich wohl heute erwartet, die Fee im verschollenen Schloß? Gleichviel, ich will zu ihr!«

Er lenkte die Schritte waldeinwärts und verfolgte rüstig einen schmalen Holzschlittenpfad, der höher und höher klimmend das Hügelgewinde des verschneiten Forstes hinanführte.


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