Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

»Meiner Heimat Berge dunkeln, flutend ob der Wälder Grün.« – Ein Stück klassischen Bodens. – In der Einsiedelei auf dem Bernhardusberg. – Der Lebenslauf eines Philosophen in der Eremitenkutte. – Getäuschte Liebe, Verzweiflung und Ehrgeiz.– Die ewige Roma. – Ein Schafott. – Kämpfe des Zweifels. – Quietismus. – Ein evangelisches Wort. – Geheimbündisches. – Ein Scheiterhaufen. – Flucht in die Bergeinsamkeit.

Von den Talniederungen der beiden kleinen, dem Neckar tributären Flüsse Fils und Rems eingeschlossen, erhebt sich ein Hügelland, an dessen Abfällen hüben und drüben die Städte und Städtchen Gmünd, Aalen, Heidenheim, Geißlingen und Göppingen liegen, den Höhepunkt seiner Naturschönheit und seiner geschichtlichen Bedeutung erreicht diese Landschaft zwischen der zuerst und der zuletzt genannten Stadt. Hier ragen auf einem mannigfach von Wald und Tal, Schlucht und Bach durchschnittenen Plateau die drei Kalksteinbergkegel, Rechberg, Staufen und Stuifen in die Luft, wie die Winkel eines unregelmäßigen Dreiecks einander gegenübergestellt. Sie gewähren dir einen schönen Anblick, wenn du, von Ulm herkommend, das Filstal zwischen Geißlingen und Göppingen auf der Eisenbahn hinabdampfest. Aber um sie recht zu würdigen, mußt du sie besteigen.

Wähle den Hohenrechberg: er bietet die weiteste Rundsicht von allen dreien. Du übersiehst hier, was patriotische Schwaben nicht mit Unrecht ein Stück klassischen Bodens zu nennen pflegen. Dieser Fleck Erde ist die Heimat des hohenstaufischen Kaiserhauses, welches die Geschichte und das Unglück mit einem doppelten Nimbus von Poesie umgeben haben. Sieh dort drüben in gerader Linie mit der Burgruine unter dir, dem Stammsitz des alten Geschlechtes Rechberg-Rothenlöwen, gipfelt der Hohenstaufen, von welchem Friedrich der Rotbart in die kleine Dorfkirche herabstieg, die Messe zu hören, und auf dessen Höhe Konradin zum letztenmal seiner Väter Land überblickt, bevor er auszog nach Welschland, um nimmer wiederzukehren. Die stolze Kaiserburg ist bis auf den letzten Stein verschwunden, und der Berg steht jetzt mit seiner kahlen Spitze wie ein Ausrufungszeichen hinter dem ewig wiederkehrenden Satze von der Vergänglichkeit menschlicher Macht und Größe. – Der gefällige Pfarrherr, welcher auf dem Rechberg seinen Wohnsitz hat – ich setze voraus, es hause noch immer, wie vorzeiten, dort ein gefälliger Pfarrherr – wird dir seinen Tubus auf ein altes Bauwerk richten, welches am nördlichen Fuße des Hohenstaufens beim Flecken Wäschenbeuren steht. Das ist das Wäscherschlößchen,

Wo seinen Ursprung nahm der Kaiserstamm...

Er wird dir auch drunten im Remstale auf einem Hügel das Kloster Lorch zeigen, wo mehrere Hohenstaufen, wenn auch nicht die berühmtesten, begraben liegen. – Doch du wendest dich aus diesen historischen Erinnerungen zur heiteren Naturgegenwart zurück und umspannst mit deinen Blicken das vor dir aufgerollte Panorama, voll von gesegneten Ebenen und Tälern, Forsten und Hügelketten, Städten und Dörfern, Schlössern und Burgruinen. Südwärts, schließt in weiter Ferne der blaue Bergzug der Schwäbischen Alb mit ihren kühnen Felsengipfeln Teck, Neuffen und Achalm die Aussicht. Doch nein, du entdeckst bei günstiger Beschaffenheit der Luft noch drüber hinaus weiße Punkte, die du für Wolken halten magst: es sind aber die Firne der Vorarlberger Alpen. Westwärts siehst du weit hinab in das Württemberger Land und siehst am äußersten Horizont den Kamm der Vogesen blauen. Gegen Norden öffnen sich dir, über den Welzheimer Wald hinweg, die Flutgebiete des Kochers und der Jaxt, und von der Grenze des Frankenlandes herab schimmert weiß das Schloß von Ellwangen. Gegen Osten verriegelt der gewaltige Stuifen und links von ihm der Hochwaldzug der Aalbuchberge die Fernsicht.

Dieser Bergzug, ein Ausläufer der Schwäbischen Alb, wird von der letzteren durch einen tiefen Taleinschnitt getrennt, in welchem das Städtchen Weißenstein liegt. Von hier läuft er, ostwärts vom Härdtfeld begrenzt, in nördlicher Richtung hinüber ins Kochertal. Vortretende unter den Aalbuchbergen sind der Rosenstein und der Bernhardusberg. Auf diesem finden wir unsere beiden Reisenden wieder.

An einem heimeligen Orte stand da, beschattet von zwei alten Linden, die Kapelle, welche dem Heiligen des Berges geweiht war, denn Sankt Bernhardus genoß in der ganzen Gegend große Verehrung: auch in der Wallfahrtskirche auf dem Rechberg hatte er einen Altar. Etwas zurück von der Bernharduskapelle lag die Einsiedelei, eine bescheidene, doch nicht unwohnliche Holzhütte, malerisch mit dem Rücken an eine Felswand gelehnt. Es fehlte ihr nicht der Schutz und Schatten von ein paar ernsten Tannen und etlichen fröhlichen Buchen. Auch eine Steineiche breitete ihre knorrigen Äste, die kaum sich zu belauben angefangen hatten, über das niedrige Dach hin, welches unter einer Fülle von Efeuranken verschwand. Vor den zwei kleinen Fenstern des Häuschens mit ihren runden, in Blei gefaßten Scheiben war ein Blumen- und Gemüsegärtlein eingefriedigt, und daneben quoll mittels einer plumpen hölzernen Röhre ein prächtiger Quell aus dem Felsen.

Unsere Freunde waren mit der Morgendämmerung von Gmünd ausgeritten und bei guter Vormittagszeit auf dem Bernhardusberge angekommen. Jetzt war es Abend, und sie waren noch immer da. Nicht nur hatte das heftige Gewitter, welches am Nachmittag über den Bergen sich entladen, ihre Rückkehr verzögert, sondern auch hatte das Wohlgefallen, welches sie an dem Einsiedler gefunden, diese Verzögerung ihnen sehr annehmlich gemacht. Der Pater Aloisius war ein Greis, mit welchem gute Menschen rasch sich zu befreunden vermochten. Außerdem hatte der Gruß vom Bruder Serapion an den Bruder Spiridion, welchen die jungen Männer getreulich bestellten, die beste Wirkung getan. Der Bernharduspater zeigte seinen Gästen daß sie ihm bestens empfohlen waren. Wohldenkende Menschen vermögen sich ja, falls nicht, äußerliche Umstände störend zwischen sie treten, rasch untereinander zu verständigen.

So hatten die drei den Tag unter vertraulichem Gedankenaustausch verlebt. Der Einsiedler war von den jungen Männern von der Angelegenheit unterrichtet worden, welche sie in diese Gegend und zu ihm geführt. Er hatte, nachdem er sich von der Redlichkeit der Absichten Raleighs überzeugt, seine Teilnahme ausgesprochen und, die Art und Weise, wie der Liebende verfahren wollte, billigend, demselben einen warmen Empfehlungsbrief an die Mutter Monika, Superiorin von Gotteszell, gegeben.

Jetzt saßen sie, während es draußen noch immer nebelte und regnete, bei traulichem Lampenschein in dem Stübchen der Einsiedelei mitsammen am tannenen Tisch, auf welchem die Reste einer Bewirtung standen, wie sie eben der Ort zu bieten vermochte. Die Unterhaltung war eine sehr belebte, obgleich nur einer sprach, der Bernharduspater, welcher der Bitte seiner Gäste, ihnen seine Geschichte zu erzählen, nachgegeben hatte.

Der Erzähler war ein hagerer, hochgewachsener Greis, der wenig jünger sein mochte als sein Freund, der Sammetdoktor. Unter einer hohen, von jenen Furchenpfaden, wie sie der Gedanke und der Schmerz tritt, durchzogenen Stirne blickten große braune Augen klar hervor, zugleich »still und bewegt«. Es war in diesem intelligenten Gesichte keine Spur weder von dem indolenten Behagen, wie es in der Luft der Klöster und Einsiedeleien zu gedeihen pflegt, noch von asketischer Vergrämung und Verbitterung. Welche Stürme, äußere und innere, auch immer über diese Züge hingegangen sein mochten, sie hatten darauf nur die heitere Ruhe des Weisen zurückgelassen. Mochte man zweifelhaft sein, ob der Greis, wie er so dasaß im Schmucke seines Silberbartes, der in reichen Wellen über der schwarzen Kutte auf die Brust herabfloß, mehr einem griechischen Weisen der Akademie oder der Stoa gleichsähe, oder aber einem christlichen Märtyrer, der aus schweren Prüfungen siegreich hervorgegangen, immer war seine Erscheinung eine zugleich höchst ehrwürdige und Vertrauen erweckende.

Die beiden Freunde hingen an den Lippen ihres Wirtes, dessen Stimme noch immer so sonor klang wie in früheren Zeiten, wo sie zum Entzücken großer Gemeinden von der Kanzel herab erschollen war.

»Ja, liebe Kinder,« fuhr der Bernharduspater in seiner Erzählung fort, »auch ich habe jene Entzückungen und jene Qualen erfahren, welche die Menschen Liebe zu nennen pflegen und welche den Frühling des Lebens so stürmisch machen. Als ich mich getäuscht sah, als ich in dem Götterbild, welches ich in dem Tabernakel meines Herzens aufgestellt hatte, eine Puppe der Selbstsucht und Eitelkeit erkennen mußte, da glaubte ich, mein in dem Feuer der Trübsal noch nicht gestähltes Herz müßte brechen. Aber das Menschenherz ist nicht nur ein eitel und verzagt Ding, es ist auch ein zähes. Es erwachte wieder in mir mit all seinen wechselnden Pulsen, als ich im Kloster, wo ich in meiner Verzweiflung die Tonsur genommen, wieder zu klarer Besinnung kam. Die dumpfe Gleichgültigkeit, in welcher ich über ein Jahr lang so hingebrütet, wich von mir. Ein Weib zwar hab' ich nie mehr geliebt, aber ich liebte die Wissenschaft und den Ruhm. Die Oberen fanden gern Gelegenheit, mich auszuzeichnen. Ich galt für einen Gelehrten, für einen guten Prediger, für eine künftige Stütze der Kirche. Ein brennender Ehrgeiz verzehrte mich. In kühnen Träumen vermaß ich mich, es jenen großen Geistern, jenen Gregoren und Innozenzen, die von einer, Stufe der Hierarchie zur andern gestiegen, an dem ungeheuren Plan, die Welt zu einem Gottesreich zu machen, gearbeitet hatten, gleichtun zu können und zu wollen. Gehört es doch zu den schönsten, aber auch gefährlichsten Vorrechten der Jugend, an das Wort Unmöglichkeit nicht glauben zu müssen und sich auf den Schwingen der Phantasie verachtungsvoll über die Prosa der Wirklichkeit erheben zu können, bis diese Prosa mit eiserner Hand hinaufgreift, um den Schwärmer aus den luftigen Räumen in die Region der Alltäglichkeit herabzuziehen.

Ich wurde, da man in mir ein gewisses diplomatisches Talent entdeckt zu haben glaubte, häufig in Geschäften des Ordens auf Reisen geschickt. Ich machte dabei hohe kirchliche und fürstliche Bekanntschaften, wurde eingeweiht in das Getriebe der geistlichen und weltlichen Politik und endlich auch mit einer wichtigen Sendung nach Rom betraut. Wie ward mir, als ich die ewige Siebenhügelstadt betrat! Als mir alle die Pracht der Säulen, Siegesbogen, Tempel und Paläste entgegenstieg! Als mir vergönnt war, die Kunst in ihren herrlichsten Offenbarungen anzustaunen! Als ich den Riesenbau erblickte, dessen Kuppel Michelangelo in die Luft getürmt! Als überall in Bild und Farbe himmlische Gestalten wie selige Wunder mir entgegenblühten! Als ich inmitten der ganzen Prachtentfaltung der Kirche den heiligen Vater selbst, den Statthalter Christi, im Sankt Peter das Hochamt zelebrieren, und dann von der Loggia herab der Christenheit seinen feierlichen Segen erteilen sah, urbi et orbi! O, nur in Rom selber ist der ganze Zauber Roms zu empfinden und zu verstehen! Ich war hingerissen, außer mir, berauscht! Ich atmete in einer Atmosphäre der Begeisterung und kühner Entschlüsse. In meiner Seele baute sich das Ideal der Kirche auf, riesenhaft, weltumspannend, segentriefend, und ich Tor wähnte, es müßte, es könnte verwirklicht werden.«

Der Einsiedler hielt eine Weile inne. Die Erinnerung an die Zeit, von welcher er sprach, hatte ihn offenbar tief, ergriffen. Seine Augen glänzten, und seine blassen Wangen hatten sich gerötet. Es gibt Eindrücke junger Jahre, welche selbst in das höchste Alter hinein einen strahlenden Widerschein werfen. – Als Schiller später jene glühenden Verse schrieb, in welchen Mortimer der Königin Maria seine Erlebnisse in Rom schildert, da mochte er sich der Worte des Anachoreten vom Bernhardusberg erinnern.

Dieser nahm wieder das Wort und erzählte, wie folgt:

»Stimmungen der Art, wie ich sie soeben andeutete, sind zu hoch, zu unnatürlich gespannte, als daß sie lange dauern könnten, und es bedarf oft nur eines einzigen Windstoßes, um die riesigen Traumprachtschlösser in Trümmer zu werfen. Aus solchen Ruinen sprossen dann gern die wilden Schößlinge des Zweifels und zischen die Schlangen des Spottes. – Ich habe das in Rom an mir erfahren. Mit dem skeptischen Stachel in der Seele kehrte ich über die Alpen zurück. Ein schrecklicher Schlag, der alle meine Gefühle in jammervollen Aufruhr brachte, erwartete mich da.

Mein Weg hatte mich in eine große Stadt an der Donau geführt, einen Erzbischofsitz, wo ich mich mehrerer Aufträge entledigen mußte. Es herrschte da eine große Aufregung, und alle Welt sprach nur von einem, von der bevorstehenden Hinrichtung einer Giftmischerin aus vornehmem Hause, die erst ihre zwei Stiefkinder und dann deren Vater, ihren Eheherrn, mit Gift ermordet hatte. Mit andern Gedanken beschäftigt, achtete ich der Sache nicht sehr und erstaunte daher nicht wenig, als mir eröffnet wurde, die arme Sünderin habe den Wunsch ausgesprochen, daß sie von mir zum Tode vorbereitet werde. Ich folgte dem Gebote der Pflicht und der Stimme des Mitleids. Aber, gerechter Himmel, welcher Blitz des Schreckens traf mich, als ich beim Eintritt in den Kerker in der Verurteilten die Geliebte meiner Jugend erkannte!

Sie war es, die Unglückselige, die ich so sehr geliebt, die mich zum Mönch gemacht, weil sie mich schnöde verlassen und verleugnet hatte, um einem ungeliebten, aber reichen und vornehmen Manne ihre Hand zu reichen. Sie war es, noch immer schön, ja selbst jetzt noch in der Blässe ihrer Verzweiflung kaum weniger reizend als damals, wo ich sie den Engel meines Lebens genannt. O, ich hatte ihr nicht geflucht, selbst in jener Stunde nicht, als sie mir mit kaltem Lächeln anzeigte, daß sie, sie, die mir tausend heilige Schwüre zugeschworen, die Braut eines freiherrlichen Bewerbers sei, nein, ich hatte ihr nicht geflucht und das, nur das war es, was mich jetzt aufrecht erhielt. – Ihre Ehe war unglücklich gewesen. Der Bund weiblicher Eitelkeit und Selbstsucht mit männlicher Roheit und Genußgier hatte seine Früchte getragen, Früchte der Torheit, der Ausschweifung, des Verbrechens zuletzt. Die Beichte der Unseligen enthüllte mir Abgründe des Menschenlebens, die einem das Blut in den Adern gerinnen machen. Was ich zu jener Stunde litt, dagegen sind alle Qualen der Verdammten, wie sie der große Dante in seinen Visionen erblickte, bloßer Tand. – Als dem Freiherrn die Kraft zum Sündigen ausgegangen, wollte er es auch seinem Weibe verwehren. Sie spottete seiner. Da zeigte er, daß Wollust und Grausamkeit stets Zwillingsschwestern sind. Seine satanische Lust, physische und moralische Martern für sie zu ersinnen, weckte den Dämon in ihrer Brust. Sie gestand mir, daß sie, zum äußersten getrieben, nur noch die eine Vorstellung, nur noch den einen Gedanken gehabt, zu erproben, ob es wahr sei, daß die Rache eine Speise für Götter. So vergiftete sie zuerst die beiden Kinder ihres Mannes, welche er mit einer Art tierischer Leidenschaftlichkeit liebte, und dann ihn selber. Und sie schauderte nicht davor zurück, mir zu sagen, daß kein Trank aus dem Taumelbecher der Lust, aus dem sie mit vollen Zügen getrunken hatte, ihr jemals ein so wildes Entzücken erregt habe wie der Anblick der Todesqualen des Verhaßten. – Und doch sollte die Bitterkeit, in welcher mein Herz bei Anhörung solcher Bekenntnisse schwamm, noch mehr anschwellen. Das geschah in dem Augenblick, wo mir das so grenzenlos verworfene und unglückliche Weib, als ich sie meinem Amte gemäß zur Reue und zur Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes ermahnte, mit einem Blick, der mir Herz und Nieren durchdrang, sagte, ich glaubte selber nicht an das, was ich sie glauben machen wollte. Ach, die Elende hatte nur allzurecht: meine Brust war damals von Glauben und Hoffnung so leer wie die ihrige. – Ich wollte fliehen, aber eine schreckliche Magie hielt mich zurück. Ich sollte sie, bat sie, aufs Schafott begleiten, und ich versprach es. – Die Stunde kam und jahrelang hat mir der Ton der Armensünderglocke in den Ohren geklungen, jahrelang habe ich den höhnisch-kalten Blick nicht vergessen können, welchen die Verurteilte vom Schafott herab über die Menge hin schweifen ließ, jahrelang hat mir das letzte Wort, welches sie angesichts von Block und Beil zu mir sprach: ,Auf Nimmerwiedersehen! Ich gehe ins große Nichts!' schmerzlich in der Seele nachgezittert.

Von der unseligen Stätte hinweg, wo ich ihr Haupt fallen, ihr Blut springen gesehen, floh ich nach meinem in der Nähe der Reichsstadt Ulm gelegenen Kloster zurück. – Die Träume des Ehrgeizes waren dahin und mit ihnen noch viel anderes, besseres. Eine grenzenlose Unruhe hatte sich meiner bemächtigt. Ich sehnte mich nicht hinaus in die Welt, aber ich war beständig auf der Flucht vor mir selbst. Mir graute, in mein ödes Inneres zu blicken, und doch mußte ich es tun, weil, ob ich mich auch mechanisch den Klosterregeln fügte, meine Umgebung mir kein Interesse mehr einflößen konnte. Es begann für mich eine lange, lange und unsäglich trostlose Zeit wildester Zweifel und rasender Versuche, dieselben zu bändigen und zum Glauben zurückzukehren. Ich verbrachte lange kalte Nächte, mir die Knie auf den Altarstufen wundkniend und aus der Tiefe meiner Verzweiflung zu Gott schreiend um Gnade und Erleuchtung oder um den Tod. Meine Selbstquälerei erging sich in unbändigen Kasteiungen, meine Bußgeißel tropfte von Blut, ich entzog mir den Schlaf, ich fastete bis zur Erstarrung der Lebenskräfte. Aber mein Körper trotzte allen diesen sinnlosen Versuchen. – Endlich suchte ich Trost und Beruhigung in den Wissenschaften, die ich früher nur an ihrer Oberfläche gestreift. Als Pater Bibliothekarius unserer reichen Prälatur hatte ich die reichsten Hilfsmittel des Studiums zur Hand, und es störte mich nur sehr selten einer der Brüder bei meinen Büchern.

Indem ich auf die furchtbare Frage nach des Menschenlebens Sinn und Frommen, welche jedem nicht ganz gewöhnlichen Menschen wenigstens einmal in seinem Leben mit der ganzen Wucht ihrer Schwere nahetritt, in den Büchern aller Zeiten eine befriedigende Antwort suchte, geriet ich nur immer tiefer in das Labyrinth des Zweifels hinein. Ich eignete mir mit Eifer die materialistische Philosophie des Jahrhunderts an. Ihre rücksichtslosen Argumente, ihre scheinbare Konsequenz, ihre kühnen Schlüsse blendeten mich. Ich fand mit einer Art düsterer Befriedigung, daß schon der gramschwere Prediger Salomos zu dieser Philosophie sich bekannt habe. Der bittere Hohn, womit er sein: ›Alles ist eitel!‹ wiederholt, entsprach meiner Stimmung. Ich lernte die vieltausendjährige Arbeit, womit die Menschheit um ihre Entwickelung sich abgemüht, als eine tolle Illusion, die Hoffnung auf persönliche Fortdauer nach dem Tode als einen Ausfluß feiger Selbstsucht ansehen: ich wurde ein ausgemachter Materialist, Atheist, Nihilist, der Voltaires Skeptizismus als einen kindischzahmen verachten zu müssen glaubte.

Aber, meine lieben Söhne, im absoluten Nichts kann der Mensch auf die Länge nicht atmen. Will er nicht aufhören zu leben, so muß er etwas glauben, etwas hoffen, etwas lieben. Und wäre wirklich alles, was aus diesen drei Regungen der Menschenseele fließt, nur Traum und Schaum, nur Illusion, wohlan, der Mensch hat diese Illusion so nötig wie das tägliche Brot. Mit meiner, wie ich wähnte, durch und im Unglauben errungenen Ruhe war es nichts. Die eingebildete Befriedigung war keine. Denn ich suchte vergeblich die ruhelosen Fragen abzuweisen, die immer und immer wieder aus der Tiefe meiner Brust aufstiegen. Wenn die Welt zwecklos ist, warum ist sie dann überhaupt? Wenn mit der Existenz im Diesseits für den Menschen alles aus ist, warum kann er, ohne befragt zu werden, in ein Dasein gezwungen werden, welches für die ungeheure Mehrzahl nur eine drückende Last ist? Warum soll der Mensch, falls sein Dasein auf diese Spanne von Zeit beschränkt ist, unglücklicher sein als das Tier, welches sich aus der Naturbefangenheit nicht zur Geistigkeit, nicht zum Bewußtsein erhebt, aus den Schranken der Endlichkeit nicht zum schmerzlich-süßen Gefühl der Unendlichkeit? Ist nicht der Menschenbrust eine Vorstellung, die der Gerechtigkeit, unvertilgbar eingegraben? Wozu diese ewige Vorstellung, wenn die Welt nur ein alberner Zufall, für die Minderzahl ein Zufall zum Lachen, für die Mehrheit ein Zufall zum Weinen wäre? Die wenigen, denen das Leben leicht dahinfließt in Glück und Heiterkeit, ja, die mögen sich genussessatt am Ende darein finden können, sich auf das Sterbelager zu strecken mit dem Gedanken, nach so viel Aufregungen und Strapazen des Vergnügens sei die ewige Ruhe im Nichts ein sehr wünschenswertes. Aber die Millionen und aber Millionen, deren Herzen in Sorge und Leid und Demütigung verbluten, ohne auch nur einmal recht frei und glücklich aufgeatmet zu haben, soll auch ihnen das einzige entzogen werden, was sie aufrecht erhält, die Hoffnung, daß es drüben eine Ausgleichung und Vergeltung gebe? Und müßte nicht jeder denkende Mensch, wenn er sich vorstellt, daß die Armen und Betrübten nur da seien, den Reichen und Glücklichen zur Folie zu dienen, verzweifelnd ob diesem ungeheueren Jammer an der nächsten besten Wand den Kopf sich zerschellen?

Schaut um euch, meine Söhne! Die Erde, so schön ihr Antlitz ist, birgt dennoch tiefen Gram unter der lächelnden Maske. O, wer das Schweigen der Mitternächte kennt, der weiß, daß einem oft ist, als stöhne die arme Erde auf in entsetzlicher Todesqual. Wieviel des Gräßlichen hat sie erlebt! War sie nicht verdammt, unermeßliche Ströme des Blutes ihrer Kinder einzusaugen? Wohin immer ihr den Fuß setzt, tritt er auf den Staub von Opfern und Märtyrern. Sollten sie alle vergeblich gelitten haben und gestorben sein, gezeugt nur, um zu leiden und schließlich eine Stelle in dem furchtbaren Reigen des Totentanzes auszufüllen, welcher die Erde durchrast? Und wie, können wir uns nicht täglich überzeugen, daß, was die Menschen Glück nennen, Reichtum, Macht, Ansehen, Wechsel der Zerstreuungen, in fast diametralem Gegensatz zum Verdienste steht? Ist nicht die Geschichte der größten Wohltäter, der wahren Helden der Menschheit nur eine große Martyrologie? Hat nicht der pfiffige Schurke, der gewissenlose Heuchler, der schamlos grundsatzlose Niederträchtige, der Lug und Trug spinnende Klügling, der alles Recht mit List oder Gewalt höhnende Frevler unendlich mehr Aussicht, in der Welt vorwärts zu kommen, als der ehrliche, gute und hochgesinnte Mensch? Inbetracht alles dessen, angesichts der riesenhaften Summe von Schmerzen, Nöten und Übeln aller Art, welche die Sonne täglich bescheint, mag sich am Ende ein stoischer Sinn mit der Vorstellung trösten, das Dasein von Erde und Menschheit sei nur eine störende Episode in der seligen Ruhe des Nichts. Mit der Erde, die ja, wie einige Naturforscher wollen, dereinst wie ein Tropfen Wasser in die Unermeßlichkeit des Raumes verdunsten wird, werde auch diese Episode in die ewige Leere verschwinden. Aber ist dieser stoische Gedanke wirklich tröstlich? Läßt sich der mit unwiderstehlichem Zug auf die Zukunft gerichtete Menschengeist jemals davon abbringen, hinter dem Nichts immer wieder ein Etwas zu erblicken? Ist die absolute Leere nicht geradezu undenkbar?

Man sagt, der große Newton sei durch den Anblick eines fallenden Apfels auf das Gesetz der Schwere geführt worden. Mir auch ward so eine Erleuchtung, wenn ich es so nennen darf. Nach einer in Zweifeln und Kümmernissen verbrachten Nacht hörte ich, das Fenster meiner Zelle öffnend, die erste Schwalbe zwitschern. Sie war gekommen, fernher getrieben von ihrer Frühlingsahnung. Sie wußte nicht, daß der Frühling kommen werde, aber sie ahnte und glaubte es, und ihr Glaube hatte sie nicht betrogen. Ist das Bedürfnis der Menschenseele, an eine künftige Fortdauer zu glauben, nicht die Frühlingsahnung der Schwalbe? Liegt nicht in dieser Ahnung selbst die Garantie der Erfüllung?

Indem ich wieder zu glauben begann, fing ich auch an, in der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit wieder etwas anderes zu sehen, als eine wüste und grausame Komödie des Zufalls. Die Märtyrer haben nicht vergebens gelitten, die Opfer sind nicht vergebens gefallen. Die Weltgeschichte ist kein Chaos, es ist Plan, Ordnung, Fortschritt in ihr. – Auf diesem Wege kam ich auch zu einer höheren Auffassung der religiösen Idee. Ich lernte sie als notwendigstes Erziehungsmittel der Menschheit, als Urquell alles Idealismus und zugleich als höchste Form desselben begreifen und verehren: ich lernte mich hineinfühlen in die göttliche Weltseele und durch Vermittelung des Pantheismus, welchen mich der erhabene Platon und der glorreiche Märtyrer Giordano Bruno lehrten, gelangte ich zur Wiederversöhnnng mit dem Christentum. Aber die christliche Lehre von der Nichtigkeit der Welt führte mich zunächst zu jenem verwerflichen Quietismus, welcher alles getan zu haben glaubt, wenn er aus dem Mantel der Resignation hervor mit Verachtung auf die Welt, blickt. Diese zu verachten ist freilich leichter, als sie zu bestreiten, und so versank ich in ein teilnahmloses, pflanzenhaftes Vegetieren, und als höchste Weisheit galt mir der Spruch des orientalischen Dichters:

Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht im Leid darüber: – es ist nichts;
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber: – es ist nichts!
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen,
Geh an der Welt vorüber: – es ist nichts!

Viele Jahre hatte ich so hingelebt; man ließ mich in Ruhe. Ich galt für einen Träumer und Bücherwurm, mit welchem nichts anzufangen sei. Anderen galt ich auch wohl geradezu für einen Narren, denn ich hatte ja zwei Gelegenheiten, zu hohen und höchsten klösterlichen Würden zu gelangen, unbeachtet vorübergehen lassen, nicht aus Demut oder Bescheidenheit, sondern einzig und allein aus Gleichgültigkeit. Wie hätte mich die Aussicht, die Inful eines Abtes, zu tragen,, aus meiner quietistischen Beschaulichkeit herauslocken können? Nur die Gewißheit, daß mir dieselbe durch Mittel, wie man sie in den Klöstern immer zur Hand hat, verkümmert werden würde, wenn ich einen Zweifel an meinem Gehorsam aufkommen ließe, vermochte mich, unweigerlich eine Sendung zu übernehmen, welche mich nach Bayern und Österreich führte und für welche man meine früher erworbene Kenntnis dortiger Verhältnisse nutzbar, machen wollte. Auf dieser Reise ließ mich ein glücklicher Zufall die Bekanntschaft meines teuren Freundes Armbruster machen, der mich unter dem Namen Serapion in den Illuminatenbund einführte.

Ihr wißt nicht, liebe Kinder, was es heißen will, erst in alten Tagen zum erstenmal einen Freund zu finden, wie ich in Armbruster einen fand. So eine Freundschaft ist wie die Entdeckung einer neuen Welt, wie ein Verjüngungsbad. Serapion zeigte mir die Nichtigkeit meines Quietismus. Er bewies mir, daß ein quietistisches Christentum ein unermeßliches Übel wäre, denn, siegreich geworden, müßte es die Welt in einen toten Sumpf, die Menschheit in einen faulenden Kadaver verwandeln. Er verwies mich auf jene erhabenste Stelle der Schrift beim Evangelisten Lukas, wo Christus spricht: ›Der Geist des Herr ist in mir und er hat mich gesendet, den Armen die frohe Botschaft zu verkündigen, aufzurichten die geschlagenen Herzen, den Gefangenen zu predigen, daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehend, und den Unterdrückten, daß sie frei und ledig sein sollen.‹ Er machte mich aufmerksam, daß die Morgenröte einer neuen Zeit am Horizont heraufsteige, daß die Geister erwacht seien, daß die Völker sich rührten, den bleiernen Schlaf der Knechtschaft von ihren Wimpern zu schütteln. Er gewann mir Teilnahme ab für die Wirklichkeit, für die Zeit und ihre Strebungen, für das Vaterland. Er war ein eifriger Illuminat und er machte auch mich dazu. Wir beide gehörten zu denen, welche sich für Verbreitung dieses kosmopolitischen und humanistischen Bundes in Süddeutschland große Mühe gaben und nicht ohne Erfolg. An Enttäuschungen, zum Teil sehr schmerzlichen, fehlte es freilich nicht, aber dafür entschädigte doch auch wieder die Wahrnehmung, daß Sinn und Trieb des besseren in einer Menge von Herzen vorhanden sei. Lux vincet tenebras! Das ist noch jetzt mein Glaube und meine Hoffnung.

Die Zeit, welche ich an der Seite Serapions in gemeinsamer Tätigkeit mit ihm verbringen durfte, war die glücklichste meines Lebens. Endlich mußte ich in mein Kloster zurückkehren. Vielleicht, angehaucht von dem Geiste des Eifers, welchen der Freund in mir erweckt hatte, würde ich versucht haben, diese Fesseln zu brechen; aber, liebe Kinder, wenn man einmal das siebzigste Jahr hinter sich hat, ist die Zeit der kühnen Entschlüsse für den Menschen vorbei. Dennoch sollte ich nicht im Kloster sterben. Die Empörung über eine Ruchlosigkeit, wie sie unserem Jahrhundert zur Schmach gereicht, vertrieb mich aus meiner Zelle, und ich werde es bis zu meinem Tode beklagen, daß meine alten Augen noch solch einen Gräuel sehen mußten. – Ein junger Student aus dem Dorfe Söflingen war in der Vakanz aus Tübingen, wo er der Jurisprudenz sich widmete, nach seiner Heimat gekommen. Ich kannte ihn von früher her: er war ein aufgeweckter Jüngling, dabei seelengut, aber heftig und vorlaut. Schon erfüllt von den Ideen der Zeit, machte er in Ulm die Bekanntschaft des genialen und unglücklichen Schubart, welcher dort seine ›Deutsche Chronik‹ schrieb. Das ward ihm von allen Feinden dieses Mannes – und es wimmelte in der Gegend von solchen – schon als Verbrechen angerechnet. Man beobachtete ihn, ich ließ ihn vergeblich warnen. Da schäumte eines Abends an einem öffentlichen Orte der brausende Most des Jugendübermuts in dem Unglücklichen über. Noch in der Nacht wurde er aufgehoben und in unserem Kloster in ein scheußliches Gefängnis geworfen, denn Söflingen lag innerhalb der Gerichtsbarkeit unseres Abtes. Unter den Habseligkeiten des Verhafteten fand man Schriften von Voltaire, von Rousseau, von Lessing, Wieland und Goethe. Dieser Umstand, zusammengehalten mit jenen unbesonnenen Äußerungen und seinem Umgang mit dem verhaßten Schubart, genügte, ihn der Ketzerei und Gotteslästerung anzuklagen. Man müsse ein Exempel statuieren, hieß es. Vergebens verteidigte sich der unglückliche junge Mann mit Geschicklichkeit und Mut. Die Wut wollte ein Opfer haben. Das Urteil lautete auf Enthauptung und Verbrennung. ´ Alle Anstrengungen, die ich dagegen machte, waren eitel, und ich konnte nicht einmal einen kurzen Aufschub der Sentenzvollstreckung erwirken. Man verweigerte mir auch die Bitte, dem Unglücklichen den letzten Trost bringen zu dürfen. Er wurde enthauptet, sein Leichnam verbrannt, seine Asche in den Illerfluß gestreut.

Der Boden, auf welchem solches geschah, solches im achten Dezennium des achtzehnten Jahrhunderts geschehen durfte und konnte, trug mich nicht mehr. Ich erbat mir die Gunst, an der Stelle des eben verstorbenen Einsiedlers auf dem Bernhardusberg die von dem Kloster abhängige Siedelei beziehen zu dürfen. Man ließ mich gerne ziehen, denn mein Benehmen während der schnöden Inquisitionsprozedur hatte mich meinen Brüdern zu einer lästigen und widerwärtigen Person gemacht. Seither hab' ich in dieser Bergeinsamkeit gelebt, und von hier werde ich, wenn die Stunde kommt, eingehen zur Ruhe in Gott. – Doch, liebe Kinder, ich habe eure Geduld auf eine lange Probe gestellt. Die Lampe hat ihr Öl aufgesogen, und es ist Zeit, daß ich euch eure Schlafstätte zeige.«


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