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Die Moorhexe

Es war an einem jener trüben, stürmischen Winterabende, die uns melancholischer machen können als alles andre auf der Welt.

Wir saßen am Kamin und hatten den Jagdgeschichten unsers Gastgebers zugehört, die er so vorzüglich zu erzählen verstand, und in denen er unerschöpflich war. Im Zimmer war die Dämmerung darüber tiefer und tiefer geworden, und nur das Kaminfeuer erleuchtete, zuweilen heller aufflackernd, das Dunkel.

Während einer Gesprächspause stand unser Freund plötzlich auf und wollte die Lampe bringen lassen.

»Bitte nicht!« baten wir alle.

»Nun, wie ihr wollt,« sagte er und kehrte lächelnd an seinen Platz zurück. »Der Zauber der Dämmerung ist vielleicht die einzige Romantik, für die wir heute noch empfänglich sind. Aber das Dunkel kann auch furchtbar sein, quälend, entsetzlich, atemraubend und drückender als die Last der Erde. Ich habe das einmal mit all dem Schauer empfunden, den nur die Wirklichkeit geben kann.«

»Erzähle!« baten wir ihn.

»Es ist nur eine Jagdgeschichte, aber immerhin eine der sonderbarsten, die ich erlebt habe,« fuhr er fort. »Sie liegt bereits etwa zwanzig Jahre zurück, und doch entsinne ich mich aller Einzelheiten. Selten hat ein Ereignis einen tieferen Eindruck in mir zurückgelassen.

Ich war damals auf einige Tage bei einem meiner Freunde zu Besuch, einem Herrn von Steinhausen – ihr werdet ihn nicht gekannt haben, er ist nun bereits seit einer Reihe von Jahren tot. Er hatte sich in der Zeit, irgendeiner Grille folgend, ein großes Landgut gekauft, das in der Gegend zwischen Weser und Elbe in einer jener Heide- und Moorgegenden lag, die sich dort einsam und unermeßlich unter dem weiten Himmel erstrecken und ein ideales Jagdgelände darstellen. Besonders auf Sumpfvögel, Enten und wilde Gänse, die zuzeiten in ganzen Schwärmen hier durchpassieren, kann man dort vorzüglich jagen, und mein Freund, der meine Jagdleidenschaft kannte, freute sich mit der ganzen Befriedigung des Gastgebers, als mir beim ersten Pürschgang vor Jagdeifer und Freude die Augen übergingen.

Ich blieb darum länger, als ich eigentlich gewollt hatte, jagte und leistete meinem Freunde Gesellschaft, der den liebenswürdigsten Wirt vorstellte, den es je gegeben hat.

Eines Tags – der Tag meiner Abreise war bereits festgesetzt – überraschte er mich mit dem Vorschlag, in der nächsten Nacht einmal nach Weise der Bauern auf den Entenfang auszugehen.

Ich hatte früher viel von dieser Art Jagd gehört und war darum begierig, sie kennen zu lernen.

Am nächsten Abend – es war ruhig und windstill, und der sternklare Himmel ließ leichten Frost erwarten – machten wir uns auf den Weg.

Mein Freund hatte ein großes Schlagnetz, wie es in der dortigen Gegend gebraucht wird, und eine Lockente in ein Schiff bringen lassen, das auf einem der Arme des Flusses lag, der zu dieser Zeit das flache Land mit unzähligen Rinnsalen überflutete und ein wahres Dorado für unsre Leidenschaft bildete.

Das Boot war außerordentlich schmal und lang; jede unvorsichtige Bewegung hätte es zum Kentern gebracht. Aber mein Freund verstand es, damit umzugehen. Er stieß das Boot mit einer langen Ruderstange vorwärts, und bald kamen wir in die schmalen Arme des Flusses, wo der Unkundige sich in dem Gewirr der durcheinanderlaufenden unzähligen Wasserzüge, Gräben- und Flußläufe nimmermehr auskennen kann.

Erst nach einigen Stunden machten wie Halt. Ein großer, breiter, am Rande mit Röhricht bewachsener Tümpel dehnte sich vor uns aus, und an seinem Rande lag auf einem kleinen, niedrigen, künstlich aufgeworfenen Erdhaufen eine Hütte, nicht höher als dreiviertel Meter und nur darauf eingerichtet, einem liegenden Mann einen Unterschlupf zu gewähren.

Hier wollten wir bleiben. Wir spannten das Netz aus, das, ins Wasser gelegt, den argwöhnischen Enten unsichtbar bleiben mußte, setzten die Lockente aus und wollten uns nun in die Hütte zurückziehen und das Weitere abwarten, als wir die Entdeckung machten, daß die Zugleine, die zu unsrer Hütte führte, nicht glatt arbeiten wollte. Sie mußte sich irgendwo im Röhricht verfangen haben, und mein Freund fuhr noch einmal nach dem Netz hinüber, um nachzusehen.

Gerade kam er zurück, als er beim Aussteigen durch einen Fehltritt das leichte Boot in ein bedenkliches Schwanken brachte und unversehens ins Wasser stürzte. Ich half ihm bald wieder heraus. Aber die Situation war mehr als ungemütlich für ihn. Eine Nacht hindurch mit den völlig durchnäßten Kleidern unbeweglich in der zugigen kleinen Hütte zuzubringen, wäre einem Selbstmord gleichgekommen, und so entschloß er sich denn, halb ärgerlich und halb belustigt über sein Mißgeschick, so schnell als möglich heimzufahren, um sich mit trockener Kleidung zu versehen. Gegen Morgen wollte er zurückkehren und mich und die gefangene Beute abholen. Er hoffte, sich unterwegs durch die Bewegung einigermaßen warmhalten zu können, wünschte mir den besten Erfolg und nahm Abschied.

Lautlos wie ein Schatten glitt sein Boot wenige Sekunden später in die Dunkelheit hinaus.

Ich wickelte mich in meinen Mantel, streckte mich in der niedrigen Schutzhütte aus und horchte in die Dunkelheit hinaus. Nur das leise Gurgeln des Wassers und das knisternde Rauschen des trockenen Röhrichts drang an mein Ohr. Die Lockente schwamm ruhig auf ihrem Platze hin und her, plätscherte, tauchte und putzte eifrig ihr Gefieder, das durch den Transport im Boote arg in Unordnung gekommen sein mochte.

In der ungeheuren Stille der öden, menschenleeren Gegend klang jedes Geräusch mit doppelter Stärke zu mir herüber, und deutlich hörte ich einige Stunden nach Mitternacht den ersten, weit entfernten Ruf vorüberziehender Wildgänse.

Ich spähte zum Nachthimmel hinauf, sah aber nichts als das bleiche Flimmern der Sterne. So vergingen mehrere Stunden. Ich hatte mich auf eine längere Wartezeit gefaßt gemacht, kann aber nicht leugnen, daß ich zuletzt doch eine leise Abspannung empfand.

Gegen Morgen merkte ich endlich, daß die Lockente auffällig unruhig wurde. Sie schlug klatschend mit den Flügeln und begann unruhig hin und her zu schwimmen und zu schnattern. Wenige Minuten später merkte ich, daß Enten auf dem Teiche einfielen.

Der Jagdeifer in mir erwachte. Ich faßte den Strick, mit dem ich das Netz schließen wollte, fester und lauschte gespannt über den dunkeln Spiegel des Wassers hin.

Ein paar atemlose Minuten vergingen.

Plötzlich sah ich die wilden Enten dicht bei der zahmen, die mit sonderbarem Rucken des Kopfes nun still an ihrem Platze verharrte. Ich konnte meine Ungeduld nicht länger zügeln, ein Ruck, und das Netz schlug zu.

Ein wildes Klatschen und Flügelschlagen bewies mir, daß ich Glück gehabt hatte, und ich umging den Teich, um näher an die Stelle zu kommen, wo das Netz gestellt war.

Vorsichtig zog ich es ans Land. Und nun blieb mir nichts andres übrig, als die gefangenen Tiere – es waren drei – mit den Händen zu erwürgen, wenn ich sie nicht der Freiheit zurückgeben wollte.

In diesem Augenblick empfand ich gegen diese Art der Jagd, die ich ja eigentlich nur ihrer Sonderbarkeit willen einmal hatte mitmachen wollen, einen starken Widerwillen. Es ist doch etwas andres, ein Tier mit der Büchse aus der Luft zu holen, als es heimtückisch in Schlingen und Netzen zu fangen und ihm dann kaltblütig das Genick umzudrehen.

Ich war ärgerlich auf mich selbst, als ich, die warme Beute unter dem Arme, zu meiner Hütte zurückkehrte. Ich hatte das Netz nicht wieder aufgestellt und beschloß, den Morgen und meinen Freund zu erwarten, ohne einen neuen Versuch zu machen.

Lieber wollte ich in der Morgendämmerung dies oder jenes zu schießen versuchen, wenn ich auch vielleicht vorläufig darauf verzichten mußte, der Beute habhaft zu werden, da wir die Hunde absichtlich zu Hause gelassen hatten.

* * *

Langsam graute der Tag mit jener schweren, bleiernen Müdigkeit, die nur die Wintertage haben. Der Himmel hatte sich bezogen. Der Wind, der vorhin frischer geworden war, hatte sich wieder gelegt, und nun begann mein Unglück: es begann zu nebeln.

Wer den Nebel dieser Gegend nicht kennt, der zäh und dick und den Augen ebenso undurchdringlich ist wie eine Wand, der weiß nicht, welche Gefahren er birgt. Er kam anfänglich zart und weich wie Flaumfedern, aber jede Minute ließ ihn stärker und dichter werden, und nach einer halben Stunde saß ich wie in dem weißen Dampf eines Waschhauses. Keine fünf Schritte vermochte ich zu sehen, und mit Sorge dachte ich daran, wie sich mein Freund durch das unzählige Gewirr der Wasserzüge zu mir zurückfinden würde.

Ich hatte meinen Mundvorrat bereits während der Nacht verzehrt und wartete mit doppelter Sehnsucht darauf, erlöst und heimgefahren zu werden. Aber die Stunden rannen, und kein noch so entfernter Laut verriet mir, daß sich ein Boot nahte.

Ich rief, pfiff, klatschte in die Hände, schrie so laut ich konnte in den Nebel hinaus: ›He, holla! Hier!‹

Aber nichts antwortete mir als das leise Plätschern des bleigrauen Wasserspiegels zu meinen Füßen.

Ich wartete bis Mittag – niemand kam.

Endlich entschloß ich mich, den Heimweg selbst zu suchen.

Wäre ich niemals auf diesen Gedanken verfallen! Ich kannte die Gefahren der Gegend zu wenig, sonst hätte ich alles andre getan, als meinen sicheren Platz zu verlassen.

Es war ja klar, bei dem Nebel hatte mein Freund den Weg nicht zurückfinden können, und ich konnte lange warten, wenn es dem Nebel nicht gefällig war, abzuziehen. Daß ich die Richtung noch viel sicherer verfehlen würde, lag auf der Hand. Aber ich konnte doch hoffen, irgendwo in die Nähe menschlicher Behausungen zu gelangen, um dann einen sicheren Führer zu bekommen.

Jedenfalls – ich brach auf. Vorsichtig ging ich am Wasser entlang, kam an einen Graben, den ich übersprang, traf eine Wiese, auf der ich gut weiterkam, und bemühte mich, möglichst dieselbe Richtung einzuhalten. Aber bereits nach zehn Minuten wurde der Boden mit jedem Schritt weicher und schlüpfriger, Wasser quoll unter meinen Tritten auf, und ein leises Schwanken und Wiegen des Bodens bewies mir, daß ich eine morastige Stelle zu passieren hatte, die jeden Augenblick unter meinen Füßen nachgeben konnte.

Ich kehrte um, versuchte es an andrer Stelle, kam aber bald in die gleiche Lage.

So mühte ich mich in stiller Verzweiflung ein paar Stunden, sah nichts um mich als den Nebel, der feucht und kalt wie ein nasses Laken in der Luft hing, und beschloß endlich in verdrossener Wut, zu meinem Platz zurückzukehren und meine Bemühungen aufzugeben. Aber die Sache war schneller gedacht als getan, und nach einer halben Stunde mußte ich einsehen, daß auch das unmöglich war. Ich hatte mich rettungslos verirrt.

Zu allem Unglück brach die Dämmerung herein, denn der kurze Tag ging bereits auf die Neige, und ich hatte die angenehme Aussicht vor mir, die Nacht schutzlos auf dem feuchten, morastigen Grunde zubringen zu müssen.

Schlimmer als jetzt kann es nicht gut werden, dachte ich und beschloß, trotz der tiefer und tiefer sinkenden Dunkelheit, weiterzugehen. Vielleicht führte mich ein glücklicher Zufall auf irgend einen festen Weg, den ich verfolgen konnte.

* * *

Wie lange ich im Dunkel umhergeirrt bin, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls war es lange nach Mitternacht, als ich völlig ermattet zu dem Entschluß kam, jeden weiteren Versuch aufzugeben, todmüde auf dem nassen Grunde niedersank und mich in mein Schicksal ergab.

Eine unheimliche Stille umfing mich. Wie die Wand eines Kerkers stand der Nebel um mich herum und hielt mich mit zäher unwiderstehlicher Gewalt gefangen – unentrinnbar.

Ich fühlte, ich war verloren, und trotzdem ich die Zähne zusammenbiß, stieg ein Entsetzen in mir auf, ein kaltes Frösteln, das mich bis zu den Fußspitzen durchschauerte.

Ich ballte meine Fäuste und schüttelte sie in ohnmächtiger, kindischer Wut.

In diesem Augenblick drang plötzlich ein Ton an mein Ohr, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Ein langgezogenes, lautes, schadenfrohes Gelächter drang zu mir herüber, heiser und unmenschlich, als habe mich jemand die ganze Nacht auf meinem Irrpfade ungesehen verfolgt und könne sich nun, da er mich matt und verzweifelt am Boden liegen sah, nicht länger halten vor befriedigter Rachlust und Schadenfreude.

Und nun – während ich noch lag und lauschte – merkte ich, wie der Boden unter mir nachgab, und als ich mich erhob, um den trügerischen Platz zu verlassen, sank ich plötzlich bis tief über die Knie in den morastigen Grund.

Es schien unmöglich, wieder auf festen Boden zu kommen. Immer wieder gab das Erdreich unter mir nach und hielt meine Füße wie mit Ketten fest.

Und abermals erhob sich das Lachen, schneidender und durchdringender noch als zuvor, und peitschte mich zu sinnloser Wut auf, daß ich selbst in das Lachen einstimmte, von Wut und Entsetzen geschüttelt.

Ich glaube, in diesem Augenblick bin ich nahe daran gewesen, den Verstand zu verlieren.

Zuletzt gelang es mir doch, auf festen Boden zu kommen, eine Weide tauchte aus dem Nebel auf, und wo ein Baum im Boden Halt fand, mußte auch ich stehen können, ohne zu versinken.

Dort muß ich dann wohl niedergesunken und vor Erschöpfung und Abspannung ohnmächtig geworden sein, denn als ich erwachte, hatte sich der Nebel gelegt, es dämmerte, und nun erkannte ich zu meinem grenzenlosen Erstaunen, daß ich keine dreißig Schritt von der elenden Hütte entfernt war, von der ich ausgegangen war. Ich war während der ganzen Zeit mühevoll im Kreise umhergeirrt!

Ich ging hinüber, um mich drinnen auszuruhen, als mein Freund den Kopf schlaftrunken aus der Tür herausstreckte.

Er sah mich an, als erschiene ihm ein Geist.

In meinem über und über mit Moorerde beschmutzten und durchfeuchteten Anzuge mag ich wirklich einen sonderbaren Anblick geboten haben.

›Zum Teufel!‹ schrie er mich an und sprang wie elektrisiert auf, ›bist du's oder bist du's nicht?‹

Ich überließ es ihm, sich davon zu überzeugen, und machte mich wie ein ausgehungerter Wolf über die Eßvorräte, die er mitgebracht hatte.

Erst auf der Heimfahrt erzählte ich ihm meine Schicksale.

›Kannst du dir erklären, was es für ein Gelächter gewesen ist, das mich so erschreckt hat?‹ fragte ich ihn. ›Wirklich, es hatte nichts Menschliches an sich.‹

Da kniff er die Augen zusammen und sagte: ›Sprich nicht so laut davon! Es kann die Moorhexe gewesen sein, und sie will nicht, daß man von ihr spricht.‹ – Es war wirklich nicht zu erkennen, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.

›Aber du kannst Gott danken,‹ fuhr er dann fort, ›daß sie dich nicht tiefer ins Moor gelockt hat, wo du elend versunken wärst wie ein Stein.‹« –

Der Erzähler schwieg, und es blieb einige Sekunden still im Zimmer, niemand sprach.

Da rief mein Nachbar plötzlich in das allgemeine Schweigen: »Und du meintest vorhin, wir hätten heute nur noch Sinn für die Romantik der Dämmerung!«

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