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Der alte Garten

Einmal wohnten wir in einem Hause, das nur einen kleinen Hofplatz besaß, wie er den Häusern der Großstädte eigen ist. Hinter ihm lag wie eine grüne Insel im grauen Häusermeer ein großer, verwilderter Park. Hochaufragende alte Bäume standen dort, und unter ihnen breitete sich dichtverwachsenes, schier undurchdringliches Buschwerk aus. Fast niemals verirrte sich der Fuß eines Gärtners mehr hierher. Es war, als wenn der Garten längst von aller Welt vergessen und dadurch sich selbst und seinem eignen Leben wieder zurückgegeben worden sei, so daß er nun inmitten der großen Stadt, abgeschlossen von ihren lärmerfüllten Straßen, sein Dasein verträumte. Auf dem Erdboden vermoderten die Blätter, die der Herbst von den Bäumen geschüttelt, und die Zweige, die der Wind gebrochen hatte.

Heute ist der alte Garten, der uns Kindern einst als Paradies erschien, voll von lockenden Geheimnissen und märchenhaften Heimlichkeiten, längst wieder in Pflege genommen. Wohl instand gehaltene Wege ziehen sich unter den Bäumen hin, und mit der einstigen romantischen Schönheit seiner Unordnung ist es nun längst und unwiederbringlich vorbei. Aber uns war er damals in seiner wilden, ungepflegten Schönheit eine Welt, größer und geheimnisvoller, als für Kolumbus der neuentdeckte Erdteil. Wir sind in diesem Erdenwinkel auf Entdeckungsfahrten ausgezogen, kühner als die Spanier einst jenseit des Ozeans, und haben romantische Abenteuer darin erlebt, die die schönsten, farbigsten und lebendigsten Erinnerungen meiner Jugendzeit sind.

Eine morsche Latte öffnete uns eines Tags unvermutet den Eingang. Wir hatten schon lange durch die Gitterstäbe sehnsuchtsvolle Blicke hineingeschickt und uns in Vermutungen über das, was die dichten Büsche verbergen mochten, erschöpft. Dann stand eines Tags die Pforte des Paradieses offen. Eine Latte war vom Zahn der Zeit durchnagt. Man brauchte nur ein ganz klein wenig nachzuhelfen, sie nur ein wenig zu verschieben und konnte dann durch das Gitter hindurchschlüpfen, um, wie der Prinz im Märchen, in das Dickicht einzudringen und auf Abenteuer auszugehen.

Von dem Tage an war der alte Garten der tägliche Schauplatz unsrer Spiele. Es war ein Beweis unsrer höchsten Gunst, wenn wir den Nachbarskindern gestatteten, mit durch unsre geheimnisvolle Pforte zu schlüpfen. Und an jedem Abend wurde die Latte, die so freundlich war, uns einzulassen, sorgfältig wieder an ihren Platz gerückt – kein Unberufener sollte ahnen, wie wir in den Garten kamen; konnte doch ein einziger Rundgang irgendeines Gartenarbeiters und einige wenige Hammerschläge uns unser Paradies vielleicht für immer vernageln.

In diesem Garten schlichen wir als »Falkenauge, der Chippewayindianer«, und »Büffelhorn, der Apachenhäuptling«, durch die Büsche, kämpften mit bewunderungswürdiger Ausdauer gegen eingebildete Feinde, schossen unsre Pfeile auf der Bärenjagd ab, vollführten Wunder der Tapferkeit und brachten die Skalpe erschlagener Feinde in einer Anzahl nach Hause, daß uns jede Rothaut beneidet hätte.

Eines recht üblen Abschlusses eines solchen Streifzuges erinnere ich mich. Wir hatten beschlossen, mit unsern eingebildeten Feinden Frieden zu schließen und wollten darum nach echt indianischer Sitte die Friedenspfeife rauchen. Da wir aber kein derartiges Gerät besaßen, fanden wir den Ausweg, uns statt mit einer Pfeife mit selbstgefertigten Zigaretten zu behelfen. Auf unserm Hausboden lagen ein paar verstaubte Probebündel Tabaksblätter, von denen wir einige abpflückten, mit unsern Taschenmessern in Streifen schnitten, in Zeitungspapier wickelten und dann mit zur Stelle nahmen. Schweigend hockten wir uns nieder, verhandelten über die Friedensbedingungen, schlossen jeder unsre Rede mit: »Kriegsadler hat gesprochen«, oder »Feuerauge hat gesprochen«, begruben das Kriegsbeil und zündeten dann eine der ominösen Zigaretten als stellvertretende Friedenspfeifen an.

Ich hatte als erster zu beginnen. Die beigesteckten Schwefelhölzchen, die ich in ihrer Tücke noch nicht kennen gelernt hatte, spielten mir den ersten Streich und hätten mich beinahe die Würde eines indianischen Häuptlings vergessen lassen. Ich bekam nämlich in meiner heimlichen Aufregung und Voreiligkeit etwas von dem giftigen Gase zu schmecken, das der brennende Schwefel entwickelte, und die stechende Säure verursachte mir einen furchtbaren Hustenanfall, der sich beim besten Willen nicht unterdrücken ließ. Dann begann das Rauchen, und nachdem ich einige Züge mit der einem indianischen Häuptling zukommenden Ruhe und Gelassenheit geraucht hatte, spürte ich denn doch eine derartige Übelkeit, daß ich die Riesenzigarette, die wie ein kleiner Schornstein qualmte, mit Freude an den nächsten weitergab ...

Nach einigen Minuten kam das Unglück. Wir saßen kreidebleich, nur mühsam unsre Fassung und Ruhe bewahrend, im Kreise da. Die Friedenspfeife war Gott sei Dank ausgeraucht, das heißt, in ihrem eignen Gift erstickt, und wir beschlossen, nach unsern Wigwams aufzubrechen, das heißt in gutem Deutsch: wir gingen nach Hause, um uns heimlich ins Bett zu schleichen.

Oh, dieser Wald meiner Kindheit! Was gäbe ich darum, ihn noch einmal durchstreifen zu können in der Frische meiner Knabenjahre! – Es gab nichts in diesem Walde, das nicht ohne Romantik, ohne Zauber für uns gewesen wäre: die knorrigen Bäume, deren Äste wunderliche Formen hatten, an deren Schnittwunden wunderliche, fratzenhafte Gesichter entstanden zu sein schienen; die Büsche, die hier und dort unter ihren Zweigen Höhlen bildeten, in die man sich verkriechen und stundenlang, ja tagelang allein bleiben konnte, wenn man wollte, die Augen in einem geliehenen Buche vergraben, das unsre ganze Teilnahme in Anspruch nahm und in einem Tage durchgelesen werden mußte, weil der Freund es zurückhaben wollte. Der Wassergraben, der sich durch den ganzen Garten zog, die Wasserratten, die dort hausten, die Vögel, die in den Bäumen nisteten – alles das vereinigte sich zu einer Fülle von Eindrücken, die einem Großstadtkinde, das bis dahin nie einen »Wald« gesehen, geschweige denn nur eine Stunde in ihm gelebt hatte, das Paradies bedeuten mußten.

Eines Tags aber kam Leben in die trauliche Stille unsers Parkwinkels. Arbeiter in blauen Blusen erschienen, Sägen und Stricke wurden herbeigeschafft, und man begann die große Linde, den ältesten und ehrwürdigsten Baum unter allen, zu fällen. Wie oft hatten wir unter ihr unsre Versammlungen abgehalten, unter ihr damals »die Friedenspfeife« geraucht, wie oft hatte sie uns als »Mal« für unsre Spiele gedient! – Unbarmherzige Axthiebe trafen den schönen, stattlichen Baum, die Säge durchschnitt sein Mark – und er fiel mit donnerndem Krachen nieder. Dabei war es, als wenn er uns, die wir neugierig und traurig zugleich von weitem zuschauten, für immer die Pforte zu unserm Paradies offenhalten wollte. Er stürzte nämlich mit einem seiner stärksten Äste gerade auf die Einfriedigung, die unsern Hofplatz von dem Parke trennte, und zerschmetterte dabei sämtliche Latten, die er nur berührte.

Nachdem der mächtige Stamm dann in Stücke gesägt und fortgeschafft war, gingen die Arbeiter daran, die zerbrochenen Stäbe in unsrer Planke durch neue zu ersetzen, prüften bei der Gelegenheit auch die übrigen nach – fanden unsre Eingangspforte und nagelten mit schallenden Hammerschlägen unser Paradies vor unsern Augen zu. Wir waren zum letzten Male seine Gäste gewesen, denn zum Übersteigen war die Planke zu hoch.

So kommt das Leben und nagelt uns ein Paradies nach dem andern zu und engt uns ein, eng und immer enger, bis wir kaum noch über den Zaun gucken können und man nach Luft schreien möchte.

Ach, wie sehnsüchtig blicken wir da oft nach unsrer Jugend zurück, wo wir besaßen, was wir später Stück für Stück verloren haben – die Illusionen!

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