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Der alte Laden

Ich erinnere mich ganz genau daran, trotzdem nun schon Jahre seitdem verflossen sind. Viele Jahre ...

Es war an einem Tage, so strahlend und hell wie der schönste Sommertag, und doch muß es wohl schon mehr zum Herbst gewesen sein, soweit ich es nachrechnen kann. Jedenfalls schien die Sonne blank und goldig in die enge Gasse, wo unser Elternhaus stand mit seinem großen Schild, aus dem die vielsagenden Worte prangten: Kolonial- und Fettwaren.

Wer durch die Haustür, die einen großen blanken Messinggriff hatte, in unser Haus trat, stand gleich vor dem langen Tresen, der gelb gestrichen war und die große Wage trug, auf der mein Vater die Tüten abzuwiegen pflegte, wenn es in die Pfunde ging. Sonst tat es die kleine Wage auch, die am Ende des Tresens neben den Zuckerhüten stand und auf der die Pfennigwaren in den kleinen Spitztüten abgewogen wurden. Die Ladenwände wurden von großen Regalen eingenommen, in denen sich Schublade an Schublade reihte, eine wie die andre gelb gestrichen und einander zum Verwechseln ähnlich.

Am vorderen Ende des Tresens, dicht hinter der Haustür, sauber aufgestellt in Reih' und Glied, standen die Bonbonbehälter, die durch ihre gläsernen Wände jedem Besucher deutlich vor Augen führten, welch verlockenden Inhalt sie bargen. Runde Glasdeckel schützten den Inhalt vor Staub und naschgierigen Händen, und die rundbauchigen Gefäße ließen die Zuckerrollen und Stangen noch dicker und farbenprächtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren.

Wir Kinder bekamen niemals etwas daraus. Schleckereien wurden nicht geduldet, trotzdem es gewiß nicht viel ausgemacht hätte, wenn wir gelegentlich einmal eine Kostprobe bekommen hätten. So blieben die Bonbongläser ein Gegenstand scheuer und ungestillter Sehnsucht, der nicht einmal in Worten Ausdruck gegeben werden durfte. Es hieß eben mit spartanischer Selbstzucht darüber hinauskommen.

Also an dem Tage, von dem ich erzählen will, schien die Sonne. Das ist wesentlich für meine Geschichte. Vielleicht würde ich sie gar nicht im Gedächtnis behalten haben, wenn die Sonne nicht so strahlend in die enge Straße geschienen hätte!

Wie mich heute dünken will, war die Sonne auch das einzig Friedliche und Freudige an diesem Tage. Alles andre war weniger erfreulich.

Ich weiß noch ganz deutlich, daß an dem Tage, den ich im Auge habe, der Tresen aus dem Laden meines Vaters, hinter dem so manches Pfund Butter und Schmalz abgewogen worden war, so manche Tüte mit Kaffeebohnen und so manches Pfund Sauerkraut, plötzlich nicht mehr im Laden stand hinter der Haustür mit dem blanken Messinggriff, sondern draußen auf der Straße im hellen Sonnenschein, vor dem kleinen Schaufenster unsers Ladens mit seinen vielen kleinen Scheiben; denn damals hatten die Schaufenster noch nicht die riesigen dicken Glasscheiben wie heute. Selbst die Schaufenster waren noch bescheidener damals. Viele kleine Scheiben machten zusammen eben auch eine große.

Also der Tresen stand draußen auf der Straße, und ich saß oben darauf und baumelte mit den Beinen, und das schien mir ein ebenso wunderliches wie lustiges Ding.

Ich habe erst Jahre später begriffen, wie wenig lustig das alles eigentlich gewesen ist, was ich erzählen will, aber damals hatte ich noch kein Verständnis und kein Gefühl dafür.

Ich wußte damals auch nicht, warum an dem Morgen eigentlich so viele Leute da waren, warum im Laden die großen Regale von der Wand gerückt wurden und warum draußen vor der Tür eine ganze Reihe von Wagen hielt, drei, vier, hintereinander, auf die langsam Stück für Stück aus unserm Laden hinaufwanderte, eins nach dem andern: die Regale, die große und die kleine Wage, ein paar Säcke voll Mehl und einige voll Kaffeebohnen und andre mit weißen Bohnen und Erbsen und Reis, der große Schweizerkäse und zuletzt auch die Bonbongläser und die Kakestrommeln ...

Wie gesagt, ich begriff damals nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Die Augen meiner Mutter hätten es mir vielleicht sagen können. Aber deren stumme Sprache verstand ich noch nicht. Mir schien alles über alle Maßen lustig zu sein.

Ich hatte mir von Zuckerhutschnüren, die ich in einem der leeren Auszüge des Tresens gefunden hatte, ein Pferdeleit gemacht, den Ladenschemel, der neben dem Tresen friedlich auf dem Pflaster stand, als Pferd angeschirrt, war auf den Tresen geklettert und rief nun lustig Hü! und Hott!, und jedesmal, wenn jemand vollbepackt aus dem Laden trat, wo die Leute dichtgedrängt standen, fragte ich ihn, ob ich ihn schnell nach seinem Hause fahren solle, ich hätte gerade angespannt. Damit trieb ich dann wieder den alten Schemel an, der nun, von meiner Schnur gezogen, einen wirklichen Hopser machte auf dem alten holprigen Pflaster, das damals noch in unsrer Gasse den Bürgerstieg bedeckte.

Sicher – wenn die Sonne nicht geschienen hätte, wüßte ich das alles heute nicht mehr. Die Zeit löscht so manches aus. Aber sie stand mir gerade gegenüber am Himmel und schien mir voll ins Gesicht, und ich saß und blinzelte in das helle Licht, das sie mir entgegenschickte, so hell und freundlich, als sei es ein wirklicher rechter Sonnen- und Freudentag heute!

Konnte es ein schöneres Pferd geben, als meines Vaters alten Ladenschemel? Wenn er auch nur drei Beine hatte. Er lief auf den dreien besser als manch lebendiger auf seinen vieren. Und wie die Peitsche von dem lederüberzogenen Sitze niederknallte, auf dessen blankgescheuerter Oberfläche das Sonnenlicht in matten Reflexen sich widerspiegelte.

Ich lachte und kreischte vor Freude, fuhr mit meiner Peitsche in weitem Schwunge durch die Luft und zupfte vor Übermut an den Zügeln, daß der Schemel Miene machte, zu kippen.

Und dann kamen die Spielgefährten. Neugierig guckten sie erst aus den Türen, und nach einigen Minuten war mein langer gelber Rutschwagen vollbepackt mit allen, die Platz gefunden hatten. Es sah wie ein richtiger Omnibus aus. Ich knallte mit meiner Peitsche und schrie Hurra, und jedesmal, wenn ich Hurra! schrie, dann schrien auch die andern mit, und laut klang es über die sonst so stille, sonnenbeschienene Straße: Hurra! –

Einige Jahre später habe ich erst begriffen, daß ich damals an dem hellen, strahlenden Tage in das Elend hinauskutschierte und in die Armut langer, trüber Jahre; denn an dem Tage, von dem ich erzähle, versteigerten die Gläubiger unsern Laden mit allem, was darin war: die Regale und Wagen und die Bonbongläser und die Säcke voll Mehl und den großen schönen Schweizerkäse, der so groß wie ein Mühlstein war, und den Tresen und den Schemel auch.

Plötzlich kam nämlich jemand und jagte meine Passagiere mit einem entsetzlich langen, polternden Fluche vom Omnibus herunter.

Ich wollte nicht, weil es doch »unser« Tresen war und meines Vaters alter Schemel und mir niemand etwas zu befehlen haben konnte.

Aber ein paar derbe Fäuste faßten mich und setzten mich auf den Boden, und während ich noch sprachlos über die Vergewaltigung auf den Mann mit den dicken, aufgequollenen Backen schaute, von dessen Lippen vorhin der Fluch gekollert war, und der mich so rücksichtslos von meinem Eigentum gejagt hatte, kamen andre und trugen den Tresen, ohne weiter ein Wort zu verlieren, vorsichtig langsam (wie damals die Totengräber den Sarg des alten Carsten Diekmann, der so schwer war, daß sie ihn einmal unterwegs niedersetzen und sich verschnaufen mußten) auf einen der Wagen, die dafür bereitstanden.

Und dann kam auch der Gaul dran. Mit einem Taschenmesser schnitt man rücksichtslos die Schnüre ab, die ich vorhin darangeknotet hatte.

Mit einem Ruck zogen die Pferde an, und die ganze Herrlichkeit wanderte langsam die Straße hinunter und verschwand um die Ecke.

Es war wie ein Traum.

Und dabei schien die Sonne hell und strahlend. Die Straßenlaterne, die gerade vor unsrer Haustür stand, warf einen langen, scharfen Schatten auf das Pflaster, und auf dem Dachsims lärmten die Spatzen.

Alles Weiteren entsinne ich mich nur dunkel.

Ich weiß nur noch, wie wir ein paar Tage später mit dem wenigen, was uns geblieben war, umzogen ... irgendwohin ... in Zimmer, die dunkel und unfreundlich waren, eng und verdrossen, in ein Haus, das keinen Laden besaß wie das alte ... und keinen Tresen und keine Regale, wo keine Säcke voll Mehl und Zucker standen – und keine Bonbongläser ...

Eine Welt war versunken. Eine andre tat sich auf. – –

Heute bin ich einmal wieder durch die Straße gegangen, wo ich damals auf dem Tresen gesessen habe. Ein Menschenalter ist seitdem vergangen.

Der Laden ist noch da. Aber das Schaufenster mit seinen vielen kleinen Scheiben, hinter denen früher die Zuckerhüte und die kleinen Schalen mit Rosinen und Mandeln standen, hat längst eine einzige große Scheibe bekommen, wie sie heute alle Schaufenster haben, die etwas auf sich halten, und statt der Petroleumlampe mit den gläsernen Prismen daran, die des Abends so lustig baumelten, brennt heute Gasglühlicht hinter der blanken Scheibe.

Noch immer wird ein Kramgeschäft in dem Hause betrieben. Ich stand eine Zeitlang und sah durch die Scheiben in den erleuchteten Laden hinein. Da hinten ist noch eine Tür, durch die es früher in unsre Kammer ging. Heute scheint das Kontor in dem Raume zu sein.

Ein behäbiger Mann steht mit zufriedenem Gesicht hinter dem Tresen an einem kleinen Pult und zählt Beträge im Anschreibebuch zusammen, weil gerade kein Kunde im Laden ist.

Ich hab' nicht daran vorbeikommen können. Ich hab' eintreten müssen und für einige Pfennige Bonbons kaufen müssen für meine Kleinen zu Hause.

Als ich sie meinem Jüngsten reiche, der sie jubelnd empfängt, sage ich: »Da, die sind aus unserm Laden.«

Aber er weiß nicht, was ich damit meine.

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