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Hans

Mamsell Broock hatte seit vielen Jahren das Hauswesen des alten Wendel geleitet, der in der Schiffergasse eins jener kleinen einstöckigen Gebäude bewohnte, die dort abseits von den Heerstraßen des Großstadtverkehrs noch immer in träumerischer Ruhe hinter ihren Vorgärten lagen, während ringsumher in allen Straßen die Häuser nach und nach höher und höher wuchsen, als hätten sie keine andre Aufgabe, als sich gegenseitig Luft und Licht streitig zu machen. Verachtungsvoll sahen sie auf die niedrige Schiffergasse herab, die so altmodisch zwischen all der großstädtischen Eleganz lag und nicht begreifen wollte, daß sie nicht mehr in die Zeit paßte, mit ihren Vorgärten, grünen Fensterladen und niedrigen Dächern, auf die im Sommer sogar der wilde Wein hier und dort seine langen Ranken schickte.

Mamsell Broock war eine kleine Person in den Fünfzigern. Ihr welkes Gesicht mit den unruhigen Augen, der altmodischen Frisur und den schadhaften Zähnen im Oberkiefer machte gerade keinen sehr gewinnenden Eindruck. Aber der Alte, der seit Jahren Besitzer des kleinen Hauses gewesen war, wo er im Garten nach seinem Sinne hatte schalten und walten können, hatte sich nicht viel aus ihrem abstoßenden Äußeren gemacht und noch weniger aus ihrem leutescheuen, immer etwas verärgerten Wesen. Vielleicht hatte er sich auch in den langen Jahren, in denen er sie um sich gehabt hatte, so an sie gewöhnt, daß er ihre Eigenheiten nicht mehr sonderlich bemerkte. Sie hatten sich auch immer einigermaßen zusammen vertragen, der alte Wendel und Mamsell Broock. Wenigstens hatte es die Mamsell niemals zu eigentlichen Zusammenstößen kommen lassen. Nur einmal war es zu einem unangenehmen Auftritt gekommen.

Es war an einem warmen Tage im Frühling gewesen. Der Alte hatte am Nachmittag einen jungen Star unter dem Holunderbusch im Garten mit gebrochenem Flügel gefunden, ins Haus getragen, den Flügel verbunden und nun versucht, seinen kleinen Patienten, der ihm so zufällig in die Hände gefallen war, und der jedenfalls das elterliche Nest etwas zu voreilig verlassen hatte, zu pflegen. Mamsell Broock hatte gequetschte Kartoffeln besorgen, Brot in Milch einweichen, frischen Käsequark vom Krämer holen müssen und um das »elende kleine Vieh«, wie sie es nannte, so viele Wege machen müssen, wie sie seit Jahren an einem Nachmittag nicht gewohnt gewesen war. Aber das war noch zu ertragen. Sprachlos aber war Mamsell Broock, als Hans, einige Tage später freigelassen, alle auf ihn verwandte Pflege mit eigentümlichem Dank und Freimut zu bescheinigen begann und dabei so wenig wählerisch war, daß er ebensooft die reingescheuerte Hausdiele wie die sauber gebahnte Treppe dazu zu benutzen anfing. Die Erbitterung der Mamsell wuchs sich allmählich zu einer flammenden Wut aus, und eines Tags überraschte sie den alten Herrn, der an dem allmählich gesundenden Vogel seine stille Freude hatte, mit der Forderung, daß Hans augenblicklich an die Luft gesetzt werde. »Entweder der Vogel oder ich!« erklärte sie, war aber klug genug, als sie auf den entschlossensten Widerstand ihres Brotgebers stieß, ihre Drohung nicht wahrzumachen. Dafür verfolgte ihre Feindschaft den Vogel von dem Tage an unausgesetzt. Sie haßte ihn bald nicht nur seiner Unsauberkeit wegen. Auch die wenigen Worte, die Hans seinem Herrn nachsprechen lernte, ärgerten und reizten sie und ließen sie mit stillem, unausgesetztem Grimm auf das Tier blicken, das ihr instinktiv allenthalben aus dem Wege ging. Sie glaubte nämlich, daß die Spottnamen und Scheltworte, die Hans mit der Zeit zu sprechen begann und die er oft genug am Tage in scherzhafter Laune wiederholte, besonders ihr gelten sollten. Am liebsten hätte sie ihm heimlich den Hals umgedreht. Aber das wagte sie nicht. Hans pflegte bei jeder verdächtigen Bewegung, die sie machte, ein Mordsgeschrei anzustimmen, das unfehlbar den alten Herrn oder die Nachbarschaft aufmerksam gemacht hätte.

Im Februar des folgenden Jahres starb der alte Wendel plötzlich. Er war nur wenige Tage krank gewesen, und der Vogel war während dieser Zeit nicht aus dem Zimmer gewichen. Er hatte an dem Geschwätz des Vogels noch bis zuletzt seine Freude gehabt, wenn Hans plötzlich sein oft wiederholtes »Hans mag Fleesch!« in die Stube rief, eine Redensart, die er vom Schlächter erlernt hatte, der jeden Morgen mit seiner Fleischmolle kam, um die Küche für den folgenden Tag zu versorgen.

Mamsell Broock hätte Zeit genug gehabt, sich an den Vogel zu gewöhnen, aber sie vermochte es nicht. Sie konnte seine Gegenwart nicht ertragen, und jede Begegnung mit ihm schürte den alten Haß, und der Vogel sorgte durch sein Geschwätz dafür, daß sie ihn nicht vergaß. Nur an dem Tage, als sie einige Stunden nach dem Tode des alten Herrn die Treppen hinaufstieg, schien sie den Vogel vergessen zu haben, der mit aufgeplusterten Federn auf dem Sims des Sekretärs saß, eines alten Mahagonimöbels, in dem der Alte seine Papiere und Wertsachen aufzubewahren pflegte.

Sie kam auf den Zehenspitzen herein, deckte dem Toten ein weißes Tuch auf das Gesicht, öffnete das Fenster, durch das die Luft voll köstlicher Frische hereindrang, und wendete sich dann dem Nachttischchen zu, um aus der Schublade ein Schlüsselbund mit leisem Klirren an sich zu nehmen.

Leise, als fürchte sie, daß der Tote sie noch hören könne, schloß sie den Sekretär auf und begann die Schubladen zu durchsuchen, vorsichtig, langsam, prüfend mit lauerndem Blick.

»Du Spitzbub!« rief der Star plötzlich ahnungslos in die stille Stube.

Mamsell Broock ergriff eine maßlose Wut. Ihre Hände zitterten, und ihre Zähne knirschten. Sie ließ die Papiere fahren und griff mit einer wilden Bewegung nach dem Vogel, der in Schrecken über den unerwarteten Angriff laut aufkreischte und ungeschickt davonflatternd auf das Bett des Toten zustürzte, als müsse er dort Schutz suchen. Wie eine Katze schleichend, mit leisem Lächeln um die Mundwinkel, in Befriedigung darüber, endlich ihre Rache an dem verhaßten Tiere ausüben zu können, folgte ihm die Alte, ängstlich darauf bedacht, nicht von neuem ihre Rache durch Tollpatschigkeit zu verderben. Aber Hans war vorsichtig. Angstvoll hielt er sich immer außerhalb des Bereiches ihrer Hände. Als aber seine Feindin nicht aufhörte, ihn zu verfolgen, sich auch um sein ängstliches Gekreisch nicht im mindesten mehr zu kümmern schien, flatterte er auf die Fensterbank und stürzte sich einen Augenblick später, als die Hände der Alten auch dort wie ein paar gierige Raubtiere nach ihm haschten, mit Todesverachtung in den Garten hinaus.

Unten plumpste er ziemlich hart auf den Erdboden, denn den linken Flügel hatte er nie wieder recht gebrauchen können, und sein Fliegen war immer nur ein unbeholfenes Geflatter geblieben. Da saß er nun mit ängstlich klopfendem Herzen und atemlos aufgesperrtem Schnabel.

Im Garten lagen die Rosen noch mit niedergebogenen Kronen unter ihren Decken. Aber die Schneeglöckchen sahen schon mit grünen Spitzen zwischen dem welken Laub hervor, das noch vom Herbst her auf den Rabatten lag. Unter dem Himmel hin zogen langsam und schwer die grauen Wolken, die der Tauwind mitgebracht hatte, als er den Schnee auf den Dächern und in den Gärten schmolz und nun warm durch die Kronen der Obstbäume ging.

Als der Vogel sich von seinem Schrecken ein wenig erholt hatte, rüttelte er die Federn und flatterte in die Krone des Holunderstrauches hinauf, unter dem ihn sein Herr einst gefunden hatte. Von dort war es leicht, in das Geäst des Birnbaums zu gelangen. Befriedigt über seine Leistung im Flattern und Klettern, schrie er ein neues »Du Spitzbub!« in den Garten hinunter. Aber Mamsell Broock hörte ihn nicht. Sie hatte, ärgerlich über die Flucht des Vogels, das Fenster geschlossen und war gewiß augenblicklich durch wichtigere Dinge in Anspruch genommen.

Zum erstenmal verbrachte Hans allein eine Nacht im Freien. Die Dunkelheit umgab ihn mit schützenden Fittichen, und der Frühling, der die Luft mit träumerischen Ahnungen erfüllte, rührte leise an das Herz des kleinen Vogels, das da oben in der einsamen Baumkrone schneller und stürmischer schlug, als es je in der dumpfen Luft des Hauses geschlagen, das der Vogel verlassen hatte.

Am andern Morgen waren auch die ersten Boten des Frühlings da. Die Schneeglöckchen hatten sich höher hervorgewagt, und tief zwischen den grünen Blättchen schimmerten verheißungsvoll die ersten Blüten. Am Dachrand aber pfiffen die Stare. Sie mußten über Nacht zurückgekehrt sein von ihrer langen Reise, getragen von den weichen Flügeln des Südwindes.

Hans traute seinen Ohren nicht. Er lugte mit schwarzglänzenden Augen zu ihnen hinüber, und dann schrie er in zitternder Freude dem ersten besten sein »Du Spitzbub!« entgegen.

Aber man schien für seine Kunst wenig Verständnis zu besitzen. Einer der Fremden flog zu einer kurzen Begrüßung zu ihm herüber. Hans wandte den Kopf wie ein Verzückter, verdrehte die Augen und wippte mit dem Schwanze.

Aber nach einigen Sekunden verließ ihn der Neugierige wieder und kehrte zum Dache zurück. Hans versuchte ihm zu folgen. Er flatterte vorsichtig von einem Ast auf den andern und endlich mit einem Schwung auf das Dach.

»Du Spitzbub!« schrie er vergnügt, als er die Dachgosse glücklich erreicht hatte. Er flatterte auf den Schwarm seiner Brüder zu, die dicht aneinandergedrängt auf dem Dachfirst saßen, sich aber jetzt plötzlich, wie auf Verabredung, in die Luft erhoben und davonflogen, schnell und schwirrend wie abgeschossene Pfeile.

Der arme Krüppel auf dem Dache folgte ihnen mit sehnsüchtigen Augen ...

Den ganzen Tag wartete er auf ihre Rückkunft. Er flatterte auf dem First der Dächer entlang, bis er das letzte in der Straße erreicht hatte. Dann kehrte er auf demselben Wege zurück. Bei seinem Birnbaum blieb er wieder sitzen, zog den Kopf zwischen die Schultern und wartete.

Am meisten quälte ihn der Hunger. Gierig schielte er in den Hof hinab, ob nicht irgendwo etwas liegengeblieben war, was er hätte verzehren können. In der Dachgosse sah er plötzlich einen Sperling einen Brotrest verzehren. »Du Spitzbub!« schrie er und flatterte eiligst auf den Glücklichen zu, der klug genug war, sich eiligst in den Birnbaum zu stürzen. Aber den Brotrest hatte er nicht vergessen mitzunehmen. – – –

Leise sank der Abend auf die niedrigen Dächer der Schiffergasse. Aber die Wolken hoben sich höher und höher, wurden dünner und dünner, und nach einer Stunde war der Himmel sternhell. Mit bleichen Fingern kam der Frost.

Aufgeplustert, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, saß Hans noch immer am Rande des Daches. Von Zeit zu Zeit verbarg er den Kopf unter dem gesunden Flügel. Aber immer wieder zog er ihn hervor. Der Hunger ließ ihn nicht schlafen.

Am andern Morgen begann es wieder zu schneien. Weich fielen die Flocken. Sie tanzten in die Höfe hinab, deckten die Schneeglöckchen zu, die so viel Vertrauen bewiesen hatten, und breiteten eine weiße, kalte Decke auf die Rabatten und Wege. Sie rieselten auf den armen Vogel herunter, der noch immer oben in der Gosse saß und zu müde war, die Flocken von sich abzuschütteln.

Da öffnete sich plötzlich die Haustür, die in den Garten führte, und Mamsell Broock erschien. Sie wollte ein Wäschestück holen, das noch vergessen auf der Leine hing.

»Hans mag Fleesch!« schrie der hungrige Vogel auf dem Dache.

Überrascht hob Mamsell Broock den Kopf.

War das verhaßte Tier immer noch da?

Sie ging mit schlürfenden Schritten und boshaftem Lächeln, das ihre Züge nicht verschönte, ins Haus zurück, kam aber bereits nach wenigen Minuten wieder zum Vorschein.

»Hans!« lockte sie mit rauher, vor Aufregung zitternder Stimme. »Hans!«

Aber der Vogel war trotz seinem Hunger zu mißtrauisch. Er kam nicht eher vom Dache herunter, bis sie wieder im Hause verschwunden war. Dann stürzte er sich gierig, seinen lahmen Flügel vergessend, in den Hof hinab auf die Fleischabfälle, die Mamsell Broock heimtückisch auf die Erde gestreut hatte.

Kaum hatte er einige verzehrt, so begann das Gift zu wirken, das seine Feindin hineingemischt hatte. Er flatterte hin und her, als habe er die Besinnung und das Gleichgewicht verloren. Wie ein Kreisel drehte er sich im Schnee, überschlug sich ein paarmal und blieb dann plötzlich mit aufgesperrtem Schnabel und weitgespreizten Schwanz- und Flügelfedern regungslos liegen.

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