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Sisi

Es ging Tante Betty, wie es vielen alleinstehenden, alternden und einsamen Menschen zu gehen pflegt – sie beginnen eines Tags eine unüberwindliche Sehnsucht nach einem lebendigen Wesen zu empfinden, das sie pflegen und beschützen und dem sie ihr ganzes Herz voll unbefriedigter Liebe erschließen können, an dem das Leben gleichgültig vorübergegangen ist. Was Tante Betty anbelangt, so schwankte sie lange, ob sie sich für einen Hund, einen Papagei oder eine Katze entschließen sollte, bis ihr eines Tags der Zufall zu Hilfe kam und die Sache endgültig entschied. Es klingelte nämlich eines Morgens an ihrer Tür, und als sie öffnete, stand ein Hausierer vor ihr, der ihr einen Kanarienvogel zum Kauf anbot.

Es versteht sich, daß der Händler das Tier bis in den siebten Himmel lobte. Es sänge schöner als eine Nachtigall, versicherte er, und wenn das Fräulein Zweifel in seine Worte setze, so möge es nur die Probe machen – in der Stube werde das Tier gewiß sofort zu singen beginnen. Tante Betty, die den in ein enges Harzer Bauerchen gesteckten Vogel sogleich aufs höchste interessiert in Augenschein genommen hatte, war ohne weiteres überzeugt, in Männi einen der hervorragendsten Sänger seiner Art vor sich zu haben. Wie lebhaft das Tierchen von einer Stange auf die andre sprang, wie klug und lebendig es aus den kleinen schwarzen Augen schaute! Jedenfalls hatte Tante Betty nichts dagegen, daß der Vogel, auf ihrem Tisch in der Wohnstube stehend, eine Probe seiner Kunst ablege. Aber Männi war hartnäckiger als der Händler, der immer von neuem durch leises Wispern den Vogel zum Singen zu reizen versuchte. Er schwieg beharrlich, hüpfte von einer Stange auf die andre und antwortete nur durch ein langgezogenes, unausgesetzt wiederholtes »Piep-piep!« Aber in Tante Bettys Herzen war die erwachende Liebe zu dem Tierchen schon so groß, daß sie sich nicht daran stieß, und nur der geforderte, recht beträchtliche Preis hielt sie noch zurück, das Vögelchen sogleich zu erstehen. Der Händler versicherte unterdes mit vielen Worten, daß seine Vögel reißenden Absatz gefunden und daß »Männi« ohne Zweifel der hervorragendste unter allen seinen Brüdern sei, der nur wegen seines Preises bisher keinen Käufer gefunden habe. Er sei aber überzeugt, ihn in Kürze verkaufen zu können, sobald er nur einen verständnisvollen Liebhaber gefunden haben werde. Wenn darum das Fräulein nicht kaufen wolle, so wolle er gewiß nicht drängen, einen Vogel wie diesen könne er allenthalben mit Leichtigkeit an den Mann bringen.

Nach diesen verständigen Bemerkungen wäre Tante Betty einfach töricht gewesen, den Vogel nicht zu kaufen. Hatte sie sich nicht schon seit Wochen danach gesehnt, etwas Lebendiges in ihrer Wohnung zu haben, das ihr die langen, schleichenden Stunden ihres alternden Lebens erträglicher gestalten konnte? War das unvermutete Angebot nicht ein Wink des Schicksals?

Noch an demselben Tage wurde ein Käfig für den Vogel beschafft, der in dem engen, beschmutzten Holzbauerchen unmöglich länger hausen konnte, und der nur darum bisher nicht gesungen hatte, weil ihm in dem kleinen, kaum eine Handspanne weiten Käfig, in den ihn der Händler gesteckt, jede Freudigkeit zum Singen abhanden gekommen sein mußte.

Tante Betty nahm die Sorgen ihres neuen Pflegeamtes äußerst gewissenhaft auf sich, sie sorgte für reinen Sand auf dem Boden des Käfigs, Vogelmiere und Rübsen, frisches Wasser und Naschfutter, und wenn der Vogel nicht so eigensinnig gewesen wäre, hätte er eigentlich keinen Grund mehr gehabt, nicht zu singen. Aber ein Tag nach dem andern verging, und der Vogel blieb so schweigsam wie am ersten Tage. Aber trotzdem hatte er sich bereits tief in Tante Bettys Herz eingeschmeichelt, die mit ihm sprach wie mit einem Kinde und auf ihre mannigfaltigen, für ein Vogelgehirn zuweilen recht komplizierten Fragen sein monotones »Piep-piep!« mit jenem Verständnis entgegennahm, das nur die Liebe erzeugen kann.

So wartete Tante Betty geduldig von einem Tag zum andern, eines schönen Morgens mit schmetterndem Gesang empfangen zu werden, wenn sie zu ihm ins Zimmer treten würde. Als aber Wochen darüber vergingen, ohne daß das große Ereignis eintrat, begann sie unruhig zu werden und Autoritäten zu fragen, was sie zu tun habe, den Vogel zum Singen zu bringen. Der eine riet ihr Mohnfutter, der andre reinen Rübsen, der dritte meinte, es könne am Wasser liegen, und empfahl ihr, dem Vogel angewärmtes Wasser zum Trinken zu reichen, ein vierter entschied sich für Anwendung von Insektenpulver und ein letzter endlich argwohnte, der Vogel könne ungenügend ernährt sein und empfahl Biskuit und Eifutter. Das letzte schien der besorgten Tante Betty das einleuchtendste zu sein, und sie sorgte sofort für eine entsprechende Bereicherung von Männis Speisekarte. Das neue Kraft- und Mastfutter tat denn auch bald seine Wirkung. Nicht, daß der Vogel Tante Betty eines Morgens mit einer seiner Hohl- oder Klingelroll-Touren überrascht hätte, die der Händler seinerzeit begeistert gepriesen hatte, nein, die Überraschung, die er ihr bereitete, war eine wirkliche Überraschung: eines Morgens lag auf dem Boden des Käfigs säuberlich in unschuldigem Weiß – ein Ei!

Jeder Zweifel über Männis Geschlecht und Sangesfähigkeiten waren damit plötzlich und grausam aus der Welt geschafft. Aber man müßte lügen, wenn man sagen wollte, daß sich Tante Bettys Liebe zu dem Tierchen, dessen hartnäckige Schweigsamkeit mit einem Male widerspruchslos erklärt worden war, dadurch im geringsten vermindert hätte. Sie pflegte ihn auch weiterhin mit rührender Sorgfalt, plauderte mit ihm, wie sie es früher getan hatte und ließ es Männi, der jetzt auf den Namen Sisi umgetauft worden war, an nichts fehlen. Mit der Zeit wurde der Vogel so zahm, daß er auf ihr Locken den geöffneten Käfig verließ und frei im Zimmer umherflog. Am liebsten setzte er sich dann auf den Rand der Blumentöpfe im Fenster, schaute schwanzwippend und neugierig auf die Straße hinab und verschwand eines Sommertags unvermutet durch die offene Luftscheibe, die Tante Betty wegen der Schwüle im Zimmer geöffnet und zu schließen vergessen hatte.

Tante Bettys Schmerz um den Flüchtling war unbeschreiblich. Sie öffnete das Fenster in der zagen Hoffnung, den Entflogenen zurückkehren zu sehen, streute Futter auf den Fenstersims und rief von Zeit zu Zeit ein schmerzliches »Sisi! – Sisi!« zum geöffneten Fenster hinaus. Aber keine Sisi ließ sich sehen, und als der Abend kam und Sisis Bauer noch immer verwaist und leer vor ihr auf dem Tische stand, seufzte Tante Betty leise auf, und über die Runzeln ihres alten ehrlichen Gesichts liefen langsam ein paar Tränen hinab.

Am nächsten Morgen inserierte sie in sämtlichen Zeitungen der Stadt und versprach dem Wiederbringer eine hohe Belohnung.

Der folgende Morgen wurde einer der eigenartigsten in Tante Bettys stillem Leben.

Sie war kaum aufgestanden, als jemand an ihrer Tür klingelte. Sollte es schon jemand sein, der Sisi wiederbrachte? Wirklich, es war ein flachshaariger, stupsnasiger Bursche, der einen gefangenen Kanarienvogel in den Händen hielt. Tante Betty stieß einen Freudenschrei aus. Es war Sisi, es war kein Zweifel möglich. Dasselbe goldgelbe Gefieder, dieselben klugen schwarzen Augen! Mit vor Freude und Aufregung zitternden Händen zahlte Tante Betty dem Überbringer die ausgesetzte Belohnung.

Als der Bursche gegangen war, ergoß sich über den Vogel, der ganz verschüchtert, mit ängstlich klopfendem Herzen, halbgeöffnetem Schnabel und gespreizten Flügeln auf dem Boden des Käfigs saß, eine wohlgemeinte Strafpredigt. »Aber Sisi!« klang es vorwurfsvoll aus Tante Bettys Munde, »aber Sisi! Mir einen solchen Schmerz zuzufügen! Zweimal vierundzwanzig Stunden auszubleiben. Das war zu viel, Sisi, das war wirklich zu viel! Du kannst von Glück sagen, daß du so davongekommen bist. Wie leicht hätte es möglich sein können ...« Aber Tante Betty hatte ein zu gutes Herz, um das ganze Gewicht ihrer Vorwürfe über den kleinen Vogel auszuschütten, der offenbar noch gänzlich überrascht und verwirrt sich nicht sogleich wieder an seine alte Umgebung gewöhnen konnte. Ängstlich flatterte er an den Stäben des Käfigs empor, als Tante Betty ihm frisches Badewasser brachte. »Nun, nun!« schalt das alte Fräulein, »kennst du denn Tante Betty nicht mehr?« Aber es schien wirklich, als wenn sie der Vogel nicht mehr kenne. »Er muß Zeit haben, sich zu besinnen,« sagte Tante Betty und setzte sich ans Fenster, um den Vogel von dort aus in Ruhe mit glückstrahlenden Augen zu betrachten und sich wie sonst an seinem gewohnten Anblick zu weiden.

Da läutete es zum zweitenmal. Eine Frau war es, die in einem Bauer ebenfalls einen Kanarienvogel brachte. »Nein, nein!« wollte Tante Betty sagen, »ich habe meinen Vogel bereits wieder.« Aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ein plötzliches Mißtrauen überkam sie. Sollte sie vorhin einen falschen angenommen haben, und war nicht dieser Vogel die richtige Sisi?

Sie musterte den neuen mit zweifelnden Blicken. Genau so sah Sisi aus. Verwirrt und unentschlossen betrachtete sie den neuen Gast, der unbekümmert im Bauer hin und her sprang und sie mit einem fröhlichen »Piep-piep!« nach Kanarienvogelart begrüßte. Voll innerer Unruhe und Sorge, vorhin einen falschen Vogel angenommen zu haben, zog sie ihr Portemonnaie und entließ auch die Frau mit der öffentlich ausgesetzten Belohnung.

Aber sie war kaum in ihre Stube zurückgekehrt, den ängstlich flatternden Vogel in der Hand, als es abermals läutete. Sie ließ Sisi Nr. 2 zu dem andern Vogel ins Bauer schlüpfen und ging dann, die Tür zu ihrer Wohnung zu öffnen – um den dritten Kanarienvogel angeboten zu bekommen. Diesmal schüttelte Tante Betty aber energisch den Kopf. Es könne der wirklich nicht sein, sie habe eben bereits ihren Vogel wiedererhalten. (Daß sie ihn bereits in doppelter Gestalt besaß, wagte sie nicht einzugestehen.)

Aber der Alte, der seinen Vogel in einer Papierdüte brachte, kraute sich bedenklich den Kopf und meinte: »Ja, Madamken, damit haben sich schon mehr Leute angeführt, dat globen Sie man! Wat dieser Vogel is, den hab' ich selbst in der Möckernstraße gegriffen. Uff en Vorgartengitter saß er, ganz vergnügt, gestern, so um Mittag herum, und wippte mit dem Schwanze. ›Na‹, sag' ick, ›Männi, orntliche Leute gehören in't Haus‹, nehm de Mütz un – hat ihn schon! Fräuleinchen, gucken Sie doch lieber mal in die Tüte. Wenn's denn nich der ihre is, na, denn is gut! Aber wenn's ihrer nu doch sein täte, wär's doch schade, wenn ick ihn nu unbesehens wieder mit nach Haus nehmen müßte.«

Tante Betty ließ sich verleiten, in die Tüte zu gucken. Der Mann machte so vertrauenswürdige Aussagen, und die Möckernstraße war nicht weit – vielleicht –? War es denn ausgeschlossen, daß sie sich das zweitemal geirrt hatte? ... Vorsichtig blickte sie in die Tüte. Aber natürlich – ohne Frage! Das war Sisi! Wie sie vorsichtig nach oben schielte, als Tante Betty von oben in die Tüte blickte. War es zu verantworten, wenn Tante Betty der wirklichen Sisi ihre Tür verschloß?

Tante Betty kämpfte einen harten Kampf. Sie hatte ihr Portemonnaie bereits stärker erleichtert, als sie ertragen konnte – und trotzdem endete die Sache damit, daß sie Sisi Nr. 3 zu den beiden andern Vögeln in ihre Stube trug.

Aber hier begannen die Zweifel von neuem. Welcher der drei Vögel war denn nun Sisi, Sisi, ihre langjährige Freundin? Alle drei glichen einander wie ein Ei dem andern. Aber die Zeit mußte es ja lehren. Kein fremder Vogel würde Sisis Zutraulichkeit besitzen, ihr, wie Sisi, das Stückchen Zucker zwischen den Lippen wegnehmen, so vertrauensvoll sich neben sie auf den Blumenstöcken am Fenster niederlassen! Nur einen Tag Zeit, damit sich die richtige Sisi wieder an ihre Umgebung gewöhnen konnte.

Am Nachmittag brach ein wütender Streit zwischen den Vögeln aus. Sie zankten sich, bissen sich sogar, daß die Federn flogen, und flatterten wild und aufgeregt im Bauer umher. Ein Glück, daß Tante Betty noch das alte Harzer Bauerchen besaß, das auf dem Hausboden stand und in das sie nun den ärgsten Störenfried hineinsteckte.

Als sie dann auch die beiden andern getrennt hatte – einen hatte sie probeweise ins Zimmer fliegen lassen –, erhob plötzlich der Vogel in dem Harzer Bauerchen seine Stimme und tat, was Sisi in ihrem Leben nicht getan hatte, sang – sang – schmetternd wie ein Heldentenor ... »Aha, du bist also nicht die Sisi!« sagte Tante Betty und sah doch mit Bewunderung zu dem kleinen Sänger an der Wand empor.

Im selben Augenblick erhob auch der Vogel im Messingbauer seine Stimme. »Wirklich,« sagte Tante Betty zu sich selbst, und zärtlich wandten sich ihre Blicke dem dritten Vogel zu, der sich auf seinem Ausfluge ins Zimmer den Spiegelaufsatz zum Ruheposten erwählt hatte. Auch Sisi hatte dort oft gesessen. Der Spiegel war gewöhnlich ihre erste Station gewesen, wenn sie aus dem Bauer geschlüpft war.

Aber sollte es der Neid getan haben? Der aufgestachelte Ehrgeiz? Auch dieser Vogel begann jetzt plötzlich zu singen, lauter und schmetternder als die andern, knurrend und glucksend, rollend und klingelnd – und die entsetzte Tante Betty starrte von einem der Vögel aus den andern, sprachlos, namenlos enttäuscht und unglücklich. Ihr klang der Gesang der drei Vögel wie ein schadenfrohes Hohngelächter, als würde sie ausgepfiffen, grausam und unerbittlich!

Was sollte Tante Betty tun? Sie konnte doch die Vögel nicht behalten, von denen augenscheinlich keiner der ihrige war. Auf den Gedanken zu kommen, daß man, um die verhältnismäßig hohe Belohnung zu erlangen, die sie in ihrer Sorge um die entflogene Sisi in ihrer Anzeige ausgesetzt hatte, ihr drei ganz elende Schreier aufgehängt hatte, wie gesagt, auf diesen Gedanken zu kommen hatte Tante Betty ein zu gutes und harmloses Herz.

Weil sie die Überbringer der drei Vögel nicht kannte, zeigte sie am folgenden Tage an, daß ihr ein Kanarienvogel zugeflogen sei, und bis Mittag hatte man ihr sämtliche Vögel wieder abgeholt. Jeder der freundlich Nachfragenden hatte den seinen mit Sicherheit erkannt. Tante Betty hatte dazu gelächelt, ganz fein und unmerklich.

Aber Sisi – die ungetreue Sisi – kam niemals wieder.

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