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Zuerst Mama und dann Papa

Im Inneren der Großstadt, dort wo die Gassen am engsten und die Mauern und Dächer von dem Rauch der unzähligen Schornsteine ringsum am schwärzesten sind, liegt im vierten Stock eines alten Mietshauses eine armselige Dachwohnung. Sie besteht aus zwei engen Zimmern, von denen nur das eine ein Fenster hat. Aber die Wohnung hat einen Vorzug, der die Bewohner die Winklichkeit und Enge, die zerrissenen uralten Tapeten an den Wänden, den ausgetretenen Fußboden und die blinden Scheiben am Erkerfenster immer wieder vergessen läßt – man kann von der kleinen Küche aus auf ein flaches Dach hinaustreten, das wie ein luftiger Garten hinter der kleinen Wohnung liegt. Ein früherer Besitzer des Hauses hat sogar Erde hier heraufschaffen lassen, und wenn auch nichts recht auf dem ausgesogenen und vom Regen ausgewaschenen Boden wächst, das Gras, das in dünnen Hälmchen überall hervorsproßt, findet doch immer noch einige Nahrung in dem kiesigen, flachen Grund. Aber die Feuerbohnen, die Mutter Krause in jedem Frühjahr an dem eisernen Geländer in schwindliger Höhe über den düsteren Höfen der Nachbarshäuser zu ziehen pflegt, zeigen deutlich, daß sie nicht die Absicht haben, durch Lebensfülle, Frische und Fruchtbarkeit in einen unvereinbaren Gegensatz zu ihrer Umgebung zu geraten.

Dieses Dach mit seinem spärlichen Graswuchs und den schwindsüchtigen Feuerbohnen an seiner eisernen Umfriedigung nannten Krauses ihre »Wiese«. Sie waren stolzer darauf, als ein Gutsbesitzer es auf seine Fluren und Weizenfelder sein kann, und wenn sie Besuch bekamen, was selten genug geschah, da sie keine Verwandten in der Stadt besaßen und kinderlos waren, pflegte Mutter Krause jedesmal mit einer einladenden Handbewegung zu sagen: »Die Wohnung, ja, klein ist sie, wenn Sie aber unsre Wiese mal sehen wollen!« – damit stieß sie dann die Tür auf, die auf das flache Dach hinausführte.

Schön war es hier, das war nicht zu leugnen. Der Himmel lag im Frühling so leuchtend blau über den rauchgeschwärzten Ziegeldächern der Häuser ringsum, und nur die Spatzen lärmten in der einsamen Stille dieser Höhe, zu der das Geräusch der Straßen nur mit einem fernen, gleichmäßigen Gebrause hinaufdrang.

Wenn Vater Krause des Abends aus der Fabrik heimkam, seinen Blechkessel, in dem er sein Mittagessen morgens mitnahm, aus der Hand gestellt, seine Filzpantoffeln angezogen und seine kurze Pfeife angezündet hatte, pflegte er auf das Dach hinauszutreten, sich dort auf die kleine Bank, die er aus alten Kistenbrettern zusammengenagelt hatte, zu setzen, die duftenden Tabakwolken von sich zu blasen und an Ihmelsdorf zu denken, wo er sein Leben als Taglöhner auf einem Bauerngut zugebracht hatte, bis er Streitigkeiten bekommen mit dem neuen Besitzer und in seinem Zorn fortgezogen war in die Stadt, wo er in einer Reisfabrik als Sackträger Arbeit gefunden hatte.

Es war ein schwerer Abschied gewesen damals. Die Ziege hatte man verkaufen müssen und die neun Hühner. Nur von den beiden Enten hatten sich Krauses nicht trennen können ... Eine Erinnerung wollte man doch haben, wenn man in die Stadt zog, wo es kaum einen grünen Baum, viel weniger einen Gemüsegarten oder gar einen Wassergraben hinter dem Hause gab. Aber die beiden Enten sollten trotzdem mit ihnen. Gerade darum hatte man ja auch diese Wohnung gemietet, trotzdem sie so eng und winklig und hoch gelegen war. Das flache Dach, das war doch zu schön – das ersetzte doch etwas die Wiese vor dem Hause in Ihmelsdorf, und hier oben konnten auch die beiden Enten untergebracht werden, denn das Dach gehörte Krauses allein, und sie brauchten keinen Mitbewohner zu fragen, ob er die Enten dulden wolle.

Vater Krause hatte ihnen in der Ecke eine große Kiste hingestellt, in der sie nachts schliefen; und jedesmal, ehe er morgens zur Fabrik ging, öffnete er ihnen den Stall und ließ sie auf das Dach hinaus, wo sie schwerfällig watschelnd das spärliche Gras abzuweiden begannen, bis ihnen der Alte ihren Freßnapf mit Kartoffeln gefüllt hatte.

Gott mochte wissen, wie alt die beiden Tiere waren. Die böswilligen Nachbarn, die oft aus den Dachfenstern belustigt auf das Entenstilleben schauten, nannten sie nur »die beiden Methusalems«. Für ein paar Enten mochten sie ja immerhin ein recht respektables Alter haben, aber sie waren niemand im Wege, wie Mutter Krause meinte, und die Tiere waren ihr nun einmal ans Herz gewachsen. So zahm wie sie waren! Sie ließen sich ruhig mit den Händen greifen und streicheln, und wenn Vater Krause des Abends heimkam, kraute er ihnen die Köpfe, wie ein paar Hunden, erst Mama und dann Papa, wie die beiden von den Alten genannt wurden, denn es war ein richtiges Paar: der Enterich mit der Federlocke am Schwanz und die Ente mit den schillernden Flecken auf den braunen Flügeln.

Wenn an schönen Sommerabenden das Abendbrot von Mutter Krause auf dem Küchentisch angerichtet war, den man auf die Wiese hinausgestellt hatte, nahmen auch Mama und Papa getreulich daran teil. Vater Krause fütterte Mama und Mutter Krause Papa. Gierig schnappten die Enten nach den Brotkrumen, die ihnen die Alten vorwarfen, und zwischendurch putzten sie sich die schmutzigen, etwas struppigen Federn. Struppig waren sie mit den Jahren geworden, das war wahr. Das lag aber weniger an ihrem Alter, als an dem Mangel an Wasser, denn gebadet wurde, die Regenduschen nicht gerechnet, nur an den Sonntagen. Dann schleppte Mutter Krause schon in aller Herrgottsfrühe den großen Waschbottich auf das Dach hinaus, goß ein paar Eimer Wasser hinein, und dann konnten die beiden Toilette machen, erst Mama und dann Papa. Wenn sie dann, flügelschlagend, schwanzwackelnd und zufrieden schnatternd wieder aus ihrem Bade stiegen, waren sie entschieden noch einmal so hübsch als vorher. Die bunten Schwungfedern in den Flügeln hatten ordentlich Glanz wiederbekommen, und das Weiße unter der Brust des Enterichs sah sogar festlich aus.

Mama hatte allerdings seit undenklichen Zeiten kein Ei mehr gelegt. Eine derartig anstrengende Leistung war von einer solch alten, verdienten Dame auch wirklich nicht mehr zu erwarten. Aber abends, wenn die Tiere in ihre Kiste schlüpften, um zur Ruhe zu gehen – erst Mama und dann Papa –, nahm Mama gewöhnlich in der einen Ecke Platz, wo Mutter Krause ein wenig altes Stroh zu einem Nistplatz hingeschüttet hatte, und Papa stand tiefsinnig und schweigend vor ihr, bis auch er den Schnabel unter einem seiner Flügel verbarg und zu träumen begann: dann träumte ihm von dem Wassergraben in Ihmelsdorf, von den riesigen Eiern, die seine Mama weiland gelegt, und endlosem Kindersegen! Ja, das waren Zeiten gewesen, und nun saß man in diesem engumgitterten Gefängnis und starrte in düstere, freudlose Höfe hinab, aus denen Gassenjungen zuweilen Steine in die Höhe schleuderten, um die Tiere zu ängstigen.

Es wäre ein unglaubliches Ansinnen gewesen, wenn man Vater oder Mutter Krause hätte zumuten wollen, sich von Mama und Papa zu trennen. Einer der Mitbewohner des Hauses, der kleine bucklige Flickschneider Mathes, der eine Stube im dritten Stock bewohnte, spielte allerdings immer wieder darauf an. Jedesmal, wenn er Mutter Krause zu Gesicht bekam, fragte er sie: »Na, Mutterken, wie geht's Mama? wie geht's Papa? Sind sie immer noch nicht fett? Wenn ick den Tag doch noch erleben täte!«, worauf Mutter Krause mit rührender Geduld jedesmal zu antworten pflegte: »Ne, Mathes, ne! Das gibt's nicht! Wat würde Krause sagen – und überhaupt!« – Weshalb der Schneider nach einiger Zeit dazu überging, Mutter Krause nur noch mit den Worten zu begrüßen: »Nicht wahr, Mutterken, wat würde Krause sagen – und überhaupt!« –

Eines Tags kam Vater Krause nach Hause, ohne sein ruhiges, stilles Lächeln, das sonst stets auf seinem breiten, gutmütigen Gesichte lag, wenn er die vier Treppen zu seiner Wohnung erstiegen hatte und seine Frau begrüßte. Ganz still kam er diesmal heim, stellte schweigend seinen Blechkessel aus der Hand, setzte sich dann auf seinen alten Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände und begann zu grübeln.

»Wat haste, Friedrich?« fragte die Alte beklommen.

Er antwortete nicht.

»Sag' doch, wat ist dir?« fragte die Alte wieder.

Aber Vater Krause gab keine Antwort und schüttelte nur stumm den Kopf. Er aß nicht und trank nicht und ging heute auch nicht auf das Dach hinaus zu seinen Enten, und die Alte mußte Papa und Mama allein füttern.

Nach dem Abendessen rückte er dann endlich mit seinem Kummer heraus.

»Mutterken,« sagte er auf das Drängen seiner Frau leise, »Mutterken, die Fabrik steht still.«

»Ne,« sagte Mutter Krause zitternd und unglücklich, »wie kommt denn dat – so plötzlich?«

»Ick weeß et nich,« sagte der Alte und starrte vor sich auf den Fußboden. »Et mag wohl an die schlechten Zeiten liegen. Eben vor Feierabend kam die Order. Morgen wird zuletzt gearbetet. Dann wird gefeiert.«

»Und wie lange?« fragte die Alte, die bleich geworden war und sich bebend am Küchentisch festhielt.

Der Alte zuckte die Achseln. »Dat können Wochen werden, auch Monate.«

Für Krauses begann eine trübe Zeit. Sie wußten beide nur zu gut, was es hieß: die Fabrik steht still. Vor einigen Jahren hatten sie schon einmal eine arbeitslose Zeit durchgemacht, und die Not, in die sie damals geraten waren, stieg jetzt wie ein drohendes Gespenst von neuem vor ihnen auf. Was sollte werden, wenn die arbeitslose Zeit länger anhielt und die kleine Barsumme, die man sich am Munde abgespart hatte, verzehrt war?

Verwundert sahen Mama und Papa diesen Abend nach der Pforte, die sich heute nicht wie sonst öffnete, und mit verwundertem Geschnatter entschlossen sie sich endlich, allein zur Ruhe zu gehen, zuerst Mama und dann Papa. – –

Die Tage gingen hin, ohne daß in der Fabrik wieder zu arbeiten begonnen wurde, und wenn auch der alte Krause täglich ausging, um sich nach Arbeit umzusehen – immer wieder kam er ergebnislos nach Hause.

Allenthalben war derselbe Andrang, und wer stellte gern so einen alten Graukopf an, wo junge Kräfte in Menge sich hinzudrängten?

Mit sehnsüchtigen Augen sah man tagelang nach dem Briefträger aus, der doch schließlich einmal die Nachricht bringen mußte, daß die Fabrik wieder zu arbeiten beginnen werde. Aber eine Woche nach der andern verging, ohne daß er erschien.

Das Futter für Mama und Papa wurde mit jedem Tag knapper. Hungrig schnatternd watschelten die beiden auf dem Dache umher. Jedes Grashälmchen war längst abgerupft und jeder Winkel auf das genaueste nachgesehen. Mutter Krause ging zuweilen auf den Gemüsemarkt und sammelte verstohlen die wertlosen verstreuten Salat- und Kohlblätter auf, die auf den Steinen lagen, hier ein Blatt für Mama und dort eins für Papa.

»Et tut einem leid um die Tiere,« sagte Vater Krause, wenn er die Enten auf dem Dache schnattern hörte, und dann seufzte er leise und strich sich mit der zerarbeiteten Hand über die Stirn und fuhr sich mit den dicken, plumpen Fingern durch das graue Haar.

Zuletzt ging es bei Krauses auf den Rest, bis es eines Tags alle war, rein alle ...

Den Tag über wurde so gut wie nichts gesprochen. Man saß und grübelte, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, und draußen auf dem Dache schrien die beiden Enten, laut und durchdringend, zuerst Mama und dann Papa.

»Die beiden sind einem jetzt auch nur zur Last,« sagte Vater Krause, als er sie schnattern hörte.

Mutter Krause seufzte nur. Ein unausgesprochener Gedanke erfüllte sie, den sie vergeblich zu verscheuchen sich bemühte. Aber immer wieder tauchte er vor ihr auf.

Als es Abend wurde, lärmten die beiden Enten, die den ganzen Tag noch nichts zu fressen gehabt hatten, daß es in der Nachbarschaft auffallen mußte. Sie watschelten unausgesetzt hin und her, schlugen mit den Flügeln und schnatterten laut und aufgeregt.

Stillschweigend ging Mutter Krause hinaus, lockte sie in die Holzkiste, die ihnen als Schlafraum diente, und schloß das Einschlupfloch mit einem Brette.

Im Dunkel ihrer Kiste bequemten sich die Tiere zur Ruhe zu gehen und steckten den Kopf unter die Flügel, zuerst Mama und dann Papa.

Als Mutter Krause wieder ins Zimmer trat, sagte der Alte mit leiser Stimme: »Mir ist 'ne Idee gekommen, Sophie. Aber – Gott, es ist nur so meine Idee –«

»Nu?« fragte Mutter Krause und fühlte wie ihr Herz zu klopfen begann in einer plötzlichen Angst.

»Wie wäre et, wenn wir die beiden da draußen ans Messer kriegten?«

Mutter Krause stand das Herz still. Das war es ja, was sie gefürchtet hatte.

»Schließlich haben wir doch nischt mehr zu fressen vor die Gäste, und da globe ich, is et dat beste.«

»Wir könnten bis morgen warten, Friedrich,« sagte sie leise, »vielleicht dat morgen noch Nachricht kommt.«

Aber es kam keine Nachricht, und die beiden Enten draußen auf dem Dache schnatterten lauter als am Tage vorher.

Als es wieder Abend wurde, stritten sich Krauses leise, wer es tun sollte.

»Ich kann et nicht,« sagte Mutter Krause leise und weinte in ihre Schürze.

»Aber du hast et doch früher zu Hause auch immer getan,« beharrte Vater Krause, der sich am liebsten auch um die Sache herumgedrückt hätte.

»Aber bei diesen beiden kann ich et nicht,« wiederholte die Alte.

Leise ging Krause hinaus. Sorgfältig schliff er ein Küchenmesser.

Als er auf das Dach hinaustrat, stürzten ihm die beiden Tiere hungrig schnatternd entgegen. Leise streichelte er sie. Das Messer verbarg er hinter seinem Rücken, als könnten die Tiere ahnen, was ihnen bevorstand.

Nach einigen Minuten kam er wieder herein. »Wer soll denn der erste sein, Sophie? Mama oder Papa?«

»Wennt sein muß – denn Mama!« sagte Mutter Krause und schluckte in ihr Taschentuch.

»Ick dachte Papa!« entgegnete der Alte. Jeder wollte seinem Liebling noch einen Tag gönnen.

»Mach', was du willst,« sagte Mutter Krause dann.

Der Alte tat ihr den Gefallen. Er nahm Mama behutsam auf den Arm und trug das Tier in die Küche. Verwundert sah Mama sich um. Was sollte denn nun werden?

Dem Alten zitterten die Hände, daß er kaum das Messer halten konnte. Die Tür hatte er fest verschlossen, daß das Schreien nicht nach unten hinunter ins Haus schalle.

Es war, als wenn das Tier plötzlich die Gefahr ahne, in der es sich befand. Mit einigen wilden und plötzlichen Flügelschlägen hatte es sich befreit, gerade, als der Alte es zwischen die Knie geklemmt hatte, und das angesetzte Messer war dem Alten quer über den Daumen gefahren. Er band sich sein Taschentuch um das schmerzende Glied, aus dem das Blut auf den Fußboden tropfte, dann griff er die Ente wieder – und diesmal hielt er fest –

Dann rief er seine Frau, die Ente zu rupfen.

Draußen auf dem Dache aber schnatterte der verlassene Enterich noch lauter und aufgeregter als vorher.

»Wat meinst du?« fragte Krause, »wenn wir auch mit Papa ein Ende machten? Schließlich ist et Tierquälerei, ihn allein zu lassen. So is et een Abmachen, zuerst Mama und dann Papa.«

»Wenn du dat meinst, Friedrich –«

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