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Der Weihnachtsengel

Inmitten der Großstadt, in dem Schaufenster eines Spielwarenladens, dort, wo die Straßen an den trüben dunklen Abenden vor Weihnachten im Scheine der elektrischen Sonnen in einem Meere von Licht schwammen, und alle Auslagen hinter den großen Spiegelscheiben der Läden wie lockende Schätze aus Aladdins Wunderreich ausgebreitet lagen, hing an einem Gummifaden zwischen Schaukelpferden, Kindertrompeten, Puppen und Peitschen und tausend andern Dingen ein Weihnachtsengel aus Wachs. Frei schwebte er da, die blonde Perücke mit den gedrehten Löckchen kokett gescheitelt, die blauen Augen mit den gemalten Wimpern geradeaus gerichtet, das kleine kirschrote Mündchen zu einem Lächeln verzogen. Aber das Schönste an ihm waren seine Flügel. Sie waren aus durchscheinendem, dünnem Stoff gearbeitet und mit kleinen Strähnchen aus Goldpapier beklebt. Es sah märchenhaft aus, wie er dahing, mit den ausgebreiteten Flügeln, eine kleine Posaune vor dem Munde, als blase er ein fröhliches: Ich bin euch allen wohlbekannt – terettettettetet – komme gerade aus dem himmlischen Land – terettettettetet.

Geradezu wunderbar aber war es, wenn der Engel auf und nieder schwebte. Das war so großartig, daß er sich nur sehr selten dazu verstand. Er tat es nur dann, wenn eine der kleinen Verkäuferinnen, die vor Geschäftseifer und Unruhe bereits rote Köpfe bekommen hatten, mit eiligen Händen in das Schaufenster langte, um einen Gegenstand herauszunehmen und ihn dabei unversehens berührte. Dann begann er an seinem Gummifaden feierlich auf und nieder zu flattern, und leise bewegte er seine Flügel dabei – oh, das war geradezu zauberhaft! Die Puppen, die so steif waren, daß ihre Gelenke ordentlich knirschten, wenn man sie aus ihren Pappschachteln herausnahm, sahen dann mit großen, neidischen Augen auf den Wachsengel, der an seinem Gummiband so feierlich auf und nieder fliegen konnte und dabei die Flügel bewegte, ohne daß man einen Laut vernahm.

Aber die Vorübergehenden beachteten den Engel wenig. Er war etwas so Alltägliches! Daß er fliegen konnte und die Flügel dabei bewegte, war ja ganz hübsch – aber schließlich, was sollte man mit einem Engel anfangen? Man hätte ihn ja vielleicht in den Tannenbaum hängen können, aber er war ja so zart, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, ihn zu zerbrechen, wenn man ihn in die Hand nahm.

So hing der Engel einen Tag um den andern. Das Schaufenster wurde leerer und leerer. Eine Puppe nach der andern verschwand aus dem Fenster, und die Schaukelpferde hatten schon bis auf wenige den andern Ade gesagt.

Da sahen eines Tags ein paar Augen durch das Fenster auf den Engel, ein paar große, sehnsuchtsvolle Kinderaugen. Dicht an die Scheibe gedrückt stand die Kleine da, und sie starrte nur immer auf den Engel, der sich eben wieder leise auf und nieder bewegte, denn vor wenigen Minuten hatte eine der Verkäuferinnen ihm einen Tipps mit dem Finger gegeben.

»O, wie wunderschön!« flüsterten die blassen Lippen des Kindes, und die Augen wurden noch glänzender vor Freude und noch um einen Schatten dunkler vor Sehnsucht.

Minutenlang blieb das Kind stehen. Es fühlte nicht die Kälte des Windes, die ihm die Finger erstarren ließ. Es achtete nicht auf die Vorübergehenden – es hatte alles um sich vergessen über dem Wachsengel an seinem Gummifaden.

»Was gefällt dir denn so im Fenster?« fragte eine Dame, die neben dem Kinde stehengeblieben war und es minutenlang beobachtet hatte.

»Der Engel!« flüsterte es leise und wachte aus seinem Traume auf. Langsam wollte es weitergehen, die frierende Hand unter der Schürze verbergend.

»Wirklich?« fuhr die Fremde fort, »warte nur einen Augenblick, ich schenke ihn dir!«

Verwundert blieb die Kleine stehen und sah die Dame in den Laden gehen. Alles Blut schoß ihr zum Herzen, als sie bemerkte, daß der Engel aus dem Fenster genommen wurde. Er wippte dabei so heftig auf und nieder, daß die Flügel über seinen Schultern zusammenschlugen. Oh, oh, wie unvorsichtig die Verkäuferin damit umging! dachte die Kleine erschrocken. Wenn etwas an ihm zerbricht!

»So – da! Nimm ihn mit!« sagte die Spenderin lächelnd und verschwand darauf mit leichten Schritten in dem Gewühl der Passanten.

Verwundert blickte die Kleine auf das Paket in ihrer Hand. Sonderbar, wie sie zu dem Engel gekommen war. Sie wurde abwechselnd rot und blaß vor Scham und Freude. Und dann siegte doch plötzlich die Freude über das unerwartete Geschenk.

Es dachte an die niedlichen Flügel des Engels, die rosigen Hände, die braunen Augen und das blonde Haar, und in seinen Augen ging der Glanz wieder auf, den der Anblick des schwebenden Engels vorhin in ihnen entzündet hatte.

Mit klopfendem Herzen ging das Kind davon, rascher und rascher, um sein Geschenk nach Hause zu tragen. –

Im Armenviertel der Stadt lagen die Gassen düster und still. Der kalte Wind, der rauh um die Straßenecke blies, hatte alle Kinder in die Häuser gescheucht. Verlassen und öde lagen alle Gassen. Selbst die Laternen schienen hier trüber zu brennen als in den freundlicheren Straßen der Stadt, als raubten die Gedanken der Sorge und des Kummers und der Druck des Elends, das hier tagein, tagaus hinter allen Mauern lastete, selbst dem Lichte auf den Straßen den Glanz.

Die Kleine huschte durch die wohlbekannten düsteren Gassen, bis sie in einem der Häuser verschwand, wo sie über einen kleinen schmutzigen Flur hinschritt, eine der Zimmertüren öffnete und mit einem leisen »Guten Abend!« die Stube betrat.

Eine muffige, übelriechende Lust drang ihr entgegen. Unter der Decke des Zimmers hing an einem Draht eine trübe brennende Petroleumlampe, die das Zimmer nicht zu erhellen vermochte und die Ecken in ihrem Dunkel liegen ließ.

»Na, Marie, biste zurück?« fragte eine Stimme aus dem Dunkel. »War wohl scheen, wat se alle ausgestellt hatten?«

»Ja!« sagte die Kleine und blies sich in die frosterstarrten Hände. Dann begann sie hastig den Engel aus seiner Umhüllung zu befreien und hielt ihn dann mit steifen Fingern, strahlend vor Freude, vor sich hin.

»Sieh' mal, Großvatter!« sagte sie, während der Engel mit wippenden Flügeln schaukelnd an ihrem Finger hing.

»Wat haste denn da?« fragte die Stimme von vorhin.

»Einen Engel!« rief die Kleine.

»Ei, gucke mal, nee!« sagte der Alte, der jetzt mit humpelnden Schritten von seinem Stuhl an dem kalten Ofen aufgestanden war und die Puppe neugierig betrachtete. »Wo haste denn den her?«

»Na, Jotte doch! So'n Kind freit sick doch!« sagte eine Frauenstimme aus dem Dunkel, unzufrieden über den spöttischen Ton des Alten.

»Am besten wäre der im Ofen!« knurrte der Alte zur Antwort. »So'ne Dinger aus Wachs, die brennen jut!«

Während der Alte den Engel musternd unter der Petroleumlampe festknotete, erzählte die Kleine mit fliegenden Worten, wie man ihr den Engel geschenkt hatte.

»Na, die hätte dir ooch wat anderet kaufen sollen!« knurrte der Alte wütend und sah auf den Engel, der die kleinen, rosenroten Flügel schwang und mit entsetzten Augen auf das Elend starrte, das ihn hier umgab. Am liebsten hätte er seine Augen geschlossen, aber das konnte er nicht. So blieb ihm nichts andres, als krampfhaft in seine Posaune zu blasen: Ich bin euch allen wohlbekannt – terettettettetet – komme eben aus dem himmlischen Land – terettettettetet.

Aber hier hatte man wenig Sinn für seine Botschaft, und nur das kleine Mädchen sah mit verzückten Augen andächtig zu ihm auf. Aber der Engel bemerkte es nicht. Er sah nur die zersprungene, häßliche Tapete, den kahlen Fußboden, die halbzerbrochenen Möbel, den Petroleumflecken gerade unter sich auf dem Fußboden und den Ausdruck der Erbitterung und des Elends in den Gesichtern, die ihn anstarrten.

»Oh, oh,« flüsterte er, »wie grauenhaft es hier ist! Das ist kein Aufenthalt für mich, der ich doch für Glanz und Herrlichkeit gemacht worden bin.«

Langsam, voll Grauen und Entsetzen, begann er sich an seinem Gummifaden um sich selbst zu drehen und starrte dabei voll Schrecken in die düsteren Ecken des Zimmers. Da erstarb auch das fröhliche Lied, mit dem er sich eben noch hatte wieder Mut machen wollen, auf seinen Lippen.

»Häng' ihn doch etwat höher, Vatter!« klang da wieder die Frauenstimme aus der Ecke. »So'n Engel ist et hoch gewöhnt.«

»Meinste?« kicherte der Alte. »Aber ganz viel höher geht et nich.«

Mit altersschwachen, zitternden Händen knüpfte er die Gummischnur ab, um sie einzukürzen. Krampfhaft wippte der Engel dabei auf nieder, als wolle er sich aufmachen, um dieser Stätte des Elends zu entfliehen.

Hätte er nur sein Lied dabei blasen können! Vielleicht hätte er einigen Trost darin gefunden. Aber die Töne blieben in der kleinen Posaune stecken. Krampfhaft versuchte er noch einmal: Ich komme aus dem himmlischen Land – terettettettetet – da entglitt plötzlich der Faden, an dem er hing, den zitternden Händen des Alten, und mit einem dumpfen Schlage fiel der Engel auf den Fußboden des Zimmers und brach in Stücke.

»Tollpatsch!« erklang die Frauenstimme im nächsten Augenblick aus der Zimmerecke. »Der Marie so die Freide zu verderben!«

Aller Glanz war in den Augen der Kleinen erloschen, bleich starrte sie auf den zertrümmerten Engel auf dem Fußboden, der dort mit zerschmetterten Armen und geknickten Flügeln lag. »Ich sagte ja, daß ich hier nicht leben kann!« wimmerte er. Aber niemand hatte ein Ohr dafür.

»Ei, gucke mal,« sagte der Alte, ein wenig verstört über sein Mißgeschick, »ick meinte, det er fliegen könnte!«

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