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IV. Klasse

Ich sitze in einem Abteil der Vierten und fahre an ein paar Haltestellen vorbei ins Freie, nur um wenigstens für einige Stunden dem Qualm und Dunst der Großstadt zu entrinnen. Der Wagen ist gedrängt voll. Leute mancherlei Schlages. Die meisten sind Arbeiter, die Feierabend gemacht haben und nun heimfahren. Die wenigen Sitzplätze im Wagen sind dicht besetzt. Alles andre hockt auf Körben und Koffern oder hält sich bei dem Schwanken des Wagens stehend an den Lederriemen, die braun und fett wie geräucherte Aale unter der Decke baumeln.

Neben mir sitzt eine Frau. Aus ihren Kleidern strömt der eigentümliche, würzige, durchdringende Geruch, den nur die Landbewohner haben. Ihren mit kurzgeschnittenem Häcksel gefüllten Korb hat sie vor sich auf den Fußboden gestellt. Wahrscheinlich hat sie Eier in der Stadt verhandelt. Nun sitzt sie und zählt ihr Geld, langsam, bedächtig. Geduldig machen die Lippen jede Bewegung mit.

Während sie zählt, betrachte ich sie. Sie muß bereits nahe an den Fünfzigern sein. Ihr Haar ist ergraut, und das braune Gesicht zeigt Runzeln über Runzeln. Die Augen haben rote Ränder, und die Hände sehen zerarbeitet, braun und rissig aus, mit schmutzigen Fingernägeln.

»Gute Geschäfte gemacht?« frage ich, als sie mit Zählen fertig zu sein scheint und innehält.

Aber sie antwortet nicht, schüttelt nur stumm den Kopf und beginnt ein wenig hastiger von neuem zu zählen.

Nachdem sie abermals zu Ende ist, beginnt sie alle Taschen durchzukramen, aber sie bringt nicht einen einzigen Nickel mehr zum Vorschein.

Noch einmal beginnt sie zu suchen. Erst die Tasche im Oberkleid, dann die im Unterkleid. Zuletzt kommt ein Beutelchen dran, das sie zwischen dem Häcksel in einem ihrer beiden Körbe hervorholt. Aber es ist vergeblich. Sie findet keinen Pfennig mehr.

Ihr Gesicht ist starr geworden, von einer fahlen Blässe bedeckt.

Regungslos verharrt sie. Dann beginnt sie plötzlich von neuem zu zählen, noch langsamer und gründlicher als vorher, die Zahlen halblaut vor sich hinmurmelnd.

Als sie wiederum zu Ende ist, bekommt ihr Ausdruck etwas ungeheuer Trostloses. Es ist, als wäre sie zu Stein geworden, so ruhig sitzt sie da, so fahl und grau ist ihr Gesicht.

Worüber mag die Alte nachdenken? Was fehlt ihr?

Der Zug donnert über eine Brücke.

Trum – rum – rum! – trum – rum – rum! machen die Räder.

Niemand quält sich um die Alte.

Jetzt sehe ich erst, daß ein Kind zu ihr gehört, ein Mädel von neun Jahren etwa, flachsfarbig und blauäugig.

Auch das Kind hat bemerkt, daß es mit der Alten nicht seine Richtigkeit haben muß.

Angstvoll steht es vor ihr, drängt sich an ihre Knie und starrt ihr besorgt ins Gesicht.

»Mudder, wat fehlt di?«

Die schüttelt stumm den Kopf, flüstert aber dann dem Kinde leise und hastig ein paar Worte ins Ohr.

Die Kleine beginnt zu weinen. Erst füllen sich die Augen mit Tränen, dann rollen ein paar über die Wangen, und zuletzt beginnt sie laut zu schluchzen. Nun werden allmählich die übrigen aufmerksam, die Arbeiter drüben auf der Bank gegenüber, der Bursch mit dem kalkbeschmutzten Hut und den hohen Schaftstiefeln, auf denen noch der Staub der Arbeit liegt, und das junge Mädchen drüben am Fenster.

Eine Frau, die müde und vergrämt auf einem alten Koffer hockt und ihrer Nachbarin eben auseinandersetzt, daß sie seit heute morgen um fünf Uhr unterwegs ist, fragt die Alte, was los ist.

Die stößt nun mit ein paar Worten heraus, daß sie in der Stadt Eier verhandelt hat und daß ihr zwei Mark an ihrem Gelde fehlen. Irgend jemand muß ihr falsch herausgegeben haben. Und sie muß die Eier selbst kaufen, die sie in die Stadt trägt.

Alle lauschen herüber, während sie spricht, und die neugierig gespannten Blicke, die auf ihr liegen, werden weich und mitleidig, als sie schweigt und sich noch einmal aufseufzend über ihr Geld hermacht und noch einmal zu zählen beginnt.

Vielleicht, daß sie sich doch vorhin beim Zählen versehen hat?

Wie ich die Alte sehe, schüttelt mich das Mitleid. Zwei Mark! Ganze zwei Mark! Und so viel Kummer darum! Wie gern möchte ich der Alten das Geld geben. Es zuckt mir in der Hand. Aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Es sieht so protzig aus, wenn ich nun in die Tasche lange und sage – Ja, was sagt man da?

Ich bin unglücklich, daß mir nicht einfallen will, was man in solchem Falle sagt ...

Währenddessen zieht der Bursch drüben, der mit dem kalkbeschmutzten Hut, eine Harmonika aus der Tasche und fängt an, darauf zu spielen.

Unpassender kann ja wohl nichts sein, als zu dem Kummer der Alten, der ihr doch deutlich genug im Gesicht geschrieben steht, noch Musik zu machen!

Das Kind dauert mich am meisten. Es weint, als wenn es die zwei Mark selbst verloren hätte. Es wird von uns allen am besten wissen, wieviel das Geld für die Mutter bedeutet.

Die Räder stoßen: Trum – rum – rum!

Der Bursch drüben hat sein Stückchen ausgespielt. Nun geht er auch noch sammeln, den Hut in der Hand.

Aber außer mir scheint sich niemand daran zu stoßen. Im Gegenteil: aus allen Taschen wandern Nickel und Kupferstücke in den Hut.

Auch zu mir kommt er, ein leises Lächeln um den bartlosen Mund.

Ich wende mich ab, geärgert und unwillig.

Aber der Bursch verzieht keine Miene, wendet sich dafür an meine Nachbarn und schüttet plötzlich der Alten das gesammelte Geld in den Schoß. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, als sei nichts geschehen.

Die Alte ist völlig überrascht. Sie will danken, kann aber keine Worte finden, ist völlig ratlos und verwirrt.

Im selben Augenblick knirschen die Bremsen. Der Zug hält mit einem Ruck.

Ich fühle, ich bin glutrot geworden.

Wenn es so gemeint war! – Beschämt will ich mein Portemonnaie hervorholen. Aber es ist schon zu spät. Ich sehe noch, wie die Alte draußen steht, kopflos und rein verwirrt vor Überraschung und Glück ...

Dann wird die Tür wieder zugeworfen, die Lokomotive pfeift, und rumpelnd fährt der Zug weiter.

Der Schein der untergehenden Sonne liegt glühend rot in den Scheiben der Fenster.

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