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Der kleine Flüchtling

Er wußte selbst nicht, wie er plötzlich auf den schier ungeheuerlichen Gedanken gekommen war, der ihm das kleine Herz in hellen Stößen klopfen ließ, daß er kaum Ruhe hatte davor und die Hand auf die Brust pressen mußte, weil er meinte, daß es dann stiller werden müsse dadrinnen.

Im Schlafsaal rührte sich kein Laut. Die beiden Gasflammen, die unter der Mitte der weißgetünchten Decke brannten, flackerten in dem Zuge der weichen, warmen Luft, die durch die offenen Fenster hereindrang, und zuweilen bogen sich die Flammen scheu zur Seite, wenn der Wind etwas heftiger durch die offenen Fenster hereinstieß und die weißen Vorhänge wie Segel aufblähte.

Leise richtete sich Paul im Bette auf und schaute sich um. Er horchte auf das leise Atemholen der Schlafenden, die in ihre weißen Decken gewickelt wie Tote rings um ihn in ihren Betten lagen. Er wagte kaum zu atmen in der schlafenden Stille, die ihn umgab. Neben ihm lag der Konrad Hausberg und schlief so fest und ruhig, als habe er nicht noch vor ein paar Stunden eine Ohrfeige vom Hausvater erhalten, weil er nach dem Abendgebet noch ein paar leise Wörtchen geflüstert hatte. Und der Oskar Kreutziger dort schlief ebenso fest und hatte die Hände auf der Bettdecke geballt, als sei er im Schlafe noch wütend.

Sonderbar, wie still es im Saale war. Nirgend auf der Welt konnte es stiller sein. Das leise Atmen der Kameraden machte die Stille noch tiefer. Es war, als ob alles im Saale eingeschlafen wäre: die Kleider, die so schlaff und zusammengesunken an den Bettpfosten hingen, als hätten niemals lebende Glieder in ihnen gesteckt, und die Handtücher drüben an der Wand. Nur die weißen Fenstervorhänge schienen ein geheimes Leben bekommen zu haben, wenn sie wie Gespenster sich plötzlich in den Saal hereindrängten und dann wieder in sich zusammensanken, als hätten sie sich umgesehen, hätten in alle Betten geschaut und könnten nun wieder ruhig auf ihren Platz zurückkehren.

War es nicht, als wenn seine Kameraden in weiße Laken gewickelt tot in ihren Betten lägen, und war er nicht der einzige, der noch lebte und sich umschaute? Hatte nicht auch seine Mutter vor wenigen Wochen so still und in ein weißes Laken gewickelt in ihrem Sarge gelegen?

Eine Angst kam über ihn, eine entsetzliche Angst, die ihn mit weit aufgerissenen Augen in den Saal starren ließ und plötzlich einen lauten Schrei aus seiner Brust preßte, einen lauten, jammernden Schrei, der jäh durch den stillen Saal und durch die offene Tür über den Korridor schallte.

Im selben Augenblick warf er sich wieder in die Kissen, zog die Decke hoch herauf und schloß, von Furcht geschüttelt, die Augen.

Einige Sekunden war alles wieder ganz still.

Aber kamen da nicht Schritte über den Flur, langsame, schlürfende Schritte?

Vorsichtig spähte er nach der Tür.

Richtig, es war der Hausvater. Das hatte er sich gedacht. Der kam nun, um nachzusehen, wer eben geschrien habe.

Er drückte sich tiefer in die Kissen, schloß die Augen und begann trotz seinem Herzklopfen langsam und ruhig zu atmen, als schlafe er fest.

Leise ging der Alte an den Betten hin. Wenn der nun entdeckte, daß er geschrien hatte!

Langsam kam er den Gang zwischen den Betten herauf und blieb an seinem Bette stehen und sah ihm ins Gesicht. Er fühlte den Blick! Wenn er mit den Lidern zuckte oder sich sonstwie verriet –!

Das Herz klopfte ihm zum Springen. Er merkte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Eine empfindliche Strafe war ihm sicher. Im Schlafsaal war jedes Gespräch streng verboten, und ein lauter Ruf, wie er ihn vorhin ausgestoßen hatte, wäre erst recht hart bestraft worden. Wenn der Hausvater ihn fragen würde, ob er vorhin geschrien habe, so würde er leugnen. Ganz gewiß! Aber so dumm war der nicht, zu fragen. Er würde ihm eine Maulschelle geben, ohne ihn zu fragen. Der ließ sich so leicht nicht täuschen. Der war gerissen, der Alte mit dem grauen Bart und den scharfen Augen, die sich bis ins Herz bohrten, wenn er einen ansah.

Der Blick war kaum zu ertragen. Es zuckte ihm in den Augenwinkeln. Ein Brennen stieg darin auf. Im nächsten Augenblick würde er zwinkern müssen.

Langsam ging der Alte vorbei, tappte durch die nächste Reihe, sah sich dann an der Tür noch einmal um und verließ dann wieder den Schlafsaal.

Er lag noch einige Augenblicke und horchte auf die Tritte, die sich langsam entfernten.

Sollte es nicht doch möglich sein, aus dem Hause hinauszukommen, wie es ihm vorhin geträumt hatte? Der Saal lag ja allerdings im ersten Stock, und es würde ein tüchtiger Sprung sein bis auf die Erde hinunter. Aber es war doch im Traum möglich gewesen! Er hatte sich an der Röhre festgehalten, in der das Regenwasser aus der Dachrinne hinunterfloß. Gefährlich war es gewesen, ja. Man konnte leicht von dem glatten Rohr aus Zinkblech abrutschen, und wenn man fiel – der Hof unten war mit Steinen gepflastert! Er würde nicht wieder aufstehen, wenn er hinunterstürzte ...

Die Neugierde plagte ihn, einen Blick aus dem offenen Fenster auf den Hof hinabzuwerfen. Leise schlüpfte er aus dem Bette und schlich mit wenigen leisen Schritten im Hemd an das Fenster und schlug die Vorhänge zurück.

Eine helle Sommernacht lag da draußen, still und groß, und nur der Schatten des Hauses, der gerade in den Hof hineinfiel, hinderte es, daß man unten im Hof die Pflastersteine zählen konnte, so hell schien der Mond.

Und jetzt sah er auch die Dachrinne am Hause. Sie führte dicht am nächsten Fenster hinunter. Er konnte sie beinahe mit den Händen ergreifen.

Wenn er es wagte – in dieser Nacht noch wagte –!

Scheu und vorsichtig sah er sich um. Die Pforte unten, die auf die Straße führte, war allerdings wie immer verschlossen. Aber wenn ihn keiner störte, würde er bald genug hinüber sein, trotz der spitzen Nägel, die allenthalben oben daraus in die Höhe starrten. Klettern konnte er wie eine Katze. Keine Mauer war ihm zu hoch gewesen, früher, als er noch bei seiner Mutter war und an den langen Nachmittagen sich selbst überlassen blieb und dann das ganze Stadtviertel durchstreifte.

Aber wohin wollte er denn? Und wenn man ihn wieder einfing und zurückbrachte hierher, so würde er eine entsetzliche Strafe bekommen. Der Hausvater fackelte nicht, und die Lehrer würden auch keine Gnade mit ihm haben.

Aber konnte man nicht in dem großen Forst, der an die Stadt stieß, ein Unterkommen finden? Da gab es Verstecke genug!

Während er das dachte, fiel ihm die Erdhöhle wieder ein, die er im vorigen Jahre dort entdeckt hatte. Sie lag am Abhange zu dem tiefen, breiten Graben, der den ganzen Wald durchzog, und er hatte einmal einen ganzen Tag darin gehaust und auch darin geschlafen, als seine Mutter gestorben war und man die Leiche am andern Tage aus dem Hause getragen hatte und er davongelaufen und tagelang nicht nach Hause gekommen war, bis man ihn in der Stadt angehalten und hierhergebracht hatte. Zu essen würde er genug finden. Es gab Rüben auf dem Felde und Möhren, und vielleicht ließ sich in den Abendstunden dies oder das in den Straßen finden. Die Stadt war ja so groß, und wenn er aufpaßte, würde man ihn so leicht nicht fassen, und aufpassen würde er schon.

Leise tappte er zu seinem Bett zurück und überlegte alles noch einmal genau. Es fror ihn von dem Stehen am offenen Fenster, trotz der warmen Luft. Oder war es die Angst, die ihm die Zähne im Munde klappern ließ?

In der schlimmsten Not würde er spät abends zu der alten Frau Klepp schleichen, die neben seiner Mutter wohnte, und die ihm gewiß beistehen und ihn nicht verraten würde. Hatte sie ihm nicht oft einen Bissen zugesteckt, wenn er hungernd und frierend im letzten Winter auf der Straße herumgelungert und auf seine Mutter gewartet hatte, die oft lange ausblieb, wenn die Wascherei bei den feinen Leuten gar so lange gedauert hatte? Ja, einigemal hatte sie ihn mit in ihre Stube genommen, wo es warm und mollig gewesen war, und er sich am Ofen hatte wärmen dürfen.

Wenn er nur an der Dachgosse glücklich hinuntergelangte! Aber das war der Knoten. Dabei ging es auf Leben und Tod.

Aber er wollte es wagen. Hierbleiben wollte er nicht. Wenn man die Kameraden fragen würde, würde keiner hierbleiben wollen. Das war gewiß. Aber es fragte sie keiner. Man sperrte sie hier ein, ohne daß man sie fragte, und tat, als wenn sie alle Verbrecher und Totschläger seien, und war immer darauf aus, zu bessern und zu strafen.

Er wollte sich gar nicht bessern. Nun gerade nicht, nun man es ihm täglich in die Ohren schrie, daß er ein nichtsnutziger, verwahrloster Schlingel sei und das Brot nicht verdiene, das er bekäme. Wenn man sich nur muckste, gab es Prügel, wie Hagel so dicht.

Was hatte er denn eigentlich verbrochen, daß man ihn hier eingesperrt hatte und ihn den ganzen Tag mit finsteren Augen ansah und aufpaßte, ob man nicht eine Gelegenheit erwischen könne, ihn von neuem zu verprügeln? Der Hausvater war der ärgste. Er hieb furchtbar und lächelte dabei, als wenn er sagen wollte: Wartet nur, ich will euch schon kirre kriegen, Burschen ihr! – »Ich werde schon Menschen aus euch machen,« pflegte er zu sagen, wenn er den Rohrstock aus dem Schranke nahm und dem Übeltäter winkte.

Einer hatte sich eines Tags zur Wehr gesetzt und den Hausvater vor die Brust gestoßen, gerade als dieser zum Schlag ausgeholt hatte. Es war der Karl Nienaber gewesen, der dort hinten in dem Bett Nr. 27 schlief.

Ganz blaurot vor Wut war der Alte geworden, hatte dann den Karl gefaßt und hinausgeschleift, und dann hatte man ihn bei Wasser und Brot drei Tage eingesperrt gehalten in dem Zimmer, wo er auch schon gesessen hatte, damals, als er die Stiefel bei dem heimlichen Herumklettern auf dem Brennholz im Schuppen zerrissen hatte. Der Speicher war der einzige Ort in der ganzen Anstalt, wo man zuweilen für ein paar Stunden ohne Aufsicht spielen konnte. Der eine Tag, den er im Loch gesessen hatte, war schon entsetzlich gewesen. Aber der da drüben mit dem fuchsroten Haar hatte drei Tage darin gesessen und war so bleich gewesen wie der Tod, als er wieder herausgekommen war. Der würde sich nicht wieder zur Wehr setzen. Das war ja auch dumm, einfach dumm. Der Hausvater war doch viel stärker, und es war schon gescheiter, man steckte die Prügel ein, die einem zudiktiert wurden, ohne zu mucksen. Man kam schneller davon.

Der Lehrer schlug ja auch. Aber es ging doch gelinder zu. Nur ein ganz junger Lehrer, bei dem man Zeichnen hatte und Weltgeschichte und Erdbeschreibung, schlug gar nicht. Und wenn einer was tat, was nicht gut war, dann sah er nur so traurig aus und schüttelte den Kopf. Den hatten alle viel lieber als die andern Lehrer, und wenn er nun fortlaufen wollte, so tat er es nicht wegen des Herrn Berg, das war gewiß.

Aber er wollte es in dieser Nacht lieber noch nicht wagen. Er hatte doch zuviel Angst. Morgen wollte er bei Tage noch einmal vorsichtig alles vom Hof aus genau besehen. Es war gut, wenn er sich alles genau einprägte ...

Sagen wollte er keinem etwas von seinem Plan. Das war am besten. Wenn ihn Karl Nienaber auch nicht verraten würde! Dem würde er es noch am liebsten erzählen. Aber besser war besser.

Morgen nacht würde er wieder frei sein wie früher. Warum hatte man ihn hier eingesperrt? Nur weil er damals fortgelaufen war, als seine Mutter starb und er nicht wieder hatte ins Haus wollen vor Grauen und Schmerz? Einen herumtreibenden Vagabunden hatte man ihn gescholten, einen Faulenzer und Tagedieb, der die Schule schwänzte und nachts die Gärten und Acker bestehle!

Er hatte doch leben müssen in der Zeit! Und war das denn Diebstahl, wenn man Hunger hatte und die schönen vielen Tausend Möhren auf dem Acker wuchsen und man einige davon nahm und aß?

Wenn ihn seine Mutter hier jetzt sehen könnte, würde sie ihn sofort aus der Anstalt herausnehmen, ihn bei der Hand fassen und sagen: »Komm, Paul, wir wollen nach Hause gehen!«

Ja, das würde sie gewiß sagen. Und er würde stolz mit ihr gehen und höhnisch dem Hausvater ins Gesicht sehen, wenn er ihnen die große, schwere Haustür aufschließen und sie hinauslassen müßte. Denn die Tür war immer verschlossen, weil man Sorge hatte, daß die Jungen davonliefen, wenn sie offen stand. Aber seine Mutter war ja nun tot und konnte ihm nicht mehr helfen, und darum mußte er sich nun selber helfen. –

Am folgenden Tage stand er eine ganze Weile unten im gepflasterten Hofe und schielte nachdenklich zu den Fenstern des Schlafsaales hinauf. Es war doch eine gefährliche Höhe. Aber in der halben Höhe war ein Sims, und wenn er erst darauf stand, konnte er es wohl wagen, sich an der Dachtraufe ganz hinuntergleiten zu lassen.

Dann ging er zur Pforte und besah sie aufmerksam. Es war ein altes hölzernes Tor, durch das die Wagen einfuhren, wenn Feuerung gebracht wurde. Sie wurde immer sorgfältig verschlossen, und ein großer Sperrbalken lag dahinter, der die beiden breiten Torflügel festhielt. Oben darauf saßen Nägel, um ein Überklettern zu verhindern.

Aber die fürchtete er nicht. Er würde mit den Händen dazwischengreifen und die Beine hinüberschwingen und dann auf den Boden niederspringen. Vielleicht fand er auch irgendwo im Holzschuppen einen alten Sack, der sich zusammenwickeln und auf die Nägel legen ließ. Aber zur Not mußte es auch ohne den Sack gehen ...

Am Abend, als er wieder in seinem Bette lag, war er wieder unschlüssig. Zunächst mußte es still werden im Hause und auf dem Hofe.

Er lag und fieberte vor Aufregung.

Er hörte den Hausvater unten im Hofe mit dem Knecht reden. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber die Stimmen erkannte er deutlich genug.

Dann schlug die Uhr am Turme der Herz-Jesu-Kirche langsam zehn Schläge. Eine Stunde würde er wohl noch warten müssen.

Auch schien der Karl Nienaber drüben im Bette noch nicht zu schlafen.

»Du, Karl,« flüsterte er, »schläfst du?«

»Nein,« scholl es leise zurück, »es ist so warm, wenn nur kein Gewitter kommt diese Nacht!«

»Warum, hast du Angst?«

»Beim Gewitter – ja.«

»Ich nicht. Was ist dabei? Es blitzt und donnert ein wenig und dann regnet's, das ist alles.«

»Ja, freilich. Aber das Blitzen mag ich nicht sehen.«

Wenn ein Gewitter ausbrach, war es nichts mit seiner Flucht. Man konnte ihn vielleicht sehen, wenn er über den Hof lief. Die Blitze leuchteten dann zu hell. Aber daß es donnern würde, war gut. Man hörte dann nicht so genau auf jedes kleine Geräusch. Aber die Jungen würden aufwachen, und dann ging es nicht.

»Ich glaube nicht, daß ein Gewitter kommt,« nahm er leise die Unterhaltung wieder auf.

»Mir soll's egal sein,« antwortete der Rothaarige und gähnte.

»Mir auch,« log Paul.

»Was man hoffen könnte dabei, wäre ja nur, daß ein Blitz die Anstalt träfe und den verdammten Kasten in die Luft rauchen ließe. Aber den Alten müßte es zunächst in die Nase treffen. Er müßte explodieren wie ein Pulverturm!«

»Stimmt,« sagte Paul trocken. »Das wollte ich auch.«

»Aber den Gefallen tut einem das Gewitter doch nicht, es schlägt immer da ein, wo es nichts nützt!«

»Aber was sollten wir machen, wenn's brennte? Aus den Fenstern springen?«

»Und das Genick brechen dabei!« sagte Nienaber flüsternd und lachte in die Bettdecke.

»Meinst du, daß es zu hoch wäre, um 'nunterspringen zu können?«

»Ja, wenn die Feuerwehr da wäre und ein Sprungtuch drunterhielte, möcht's gehen. Aber gewagt bleibt die Geschichte immer.«

Also auch Karl hielt die Sache für unmöglich. Paul wurde nachdenklich und schwieg eine ganze Weile. Als er sich dann wieder an seinen Freund wandte: »Ich glaube, Mut haben wäre alles dabei! Nur wer den Mut verlöre, würde das Genick brechen!«, war Karl bereits eingeschlafen.

Unten im Hofe ging der Knecht mit schweren Schritten nach seiner Schlafkammer hinüber, die über dem Stalle lag. Eine Tür wurde zugeschlagen.

Nun fuhr auf der Straße ein Wagen vorbei.

Dann trat lautlose Stille ein.

Plötzlich begann der Jakob Weber im Traum vor sich hin zu sprechen und mit den Armen herumzuschlagen. Paul bog sich aus seinem Bette, faßte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Jakob, du!« flüsterte er.

Der schnob ein paarmal laut durch die Nase, holte wütend mit dem Arm aus, als müsse er sich eines Angreifers erwehren, stöhnte dabei, als würge ihn einer, und schlief dann weiter, ohne sich ermuntert zu haben.

Eine halbe Stunde später setzte Regen ein. Paul hörte deutlich das Aufschlagen der Tropfen an den Fensterscheiben, und einige Minuten später gluckste die Gosse schon von dem Regenwasser, das in Strömen vom Dache abfloß.

Die Röhre würde naß und glatt sein. Aber dafür mußte es gewiß recht dunkel sein draußen, und darum schien ihm der Regen gelegen zu kommen.

Leise stand er auf und schlich ans Fenster.

Es war so dunkel, daß er im ersten Augenblick nichts sah, weil ihm das Licht der Gasflammen noch im Auge lag. Dann erkannte er deutlich die Umrisse der Stallgebäude auf dem Hofe. An der andern Seite, in den Wohnräumen des Hausvaters, war noch Licht. Ein großer schimmernder Lichtfleck lag auf dem nassen Pflaster da unten. Am besten war es, wenn er es jetzt gleich wagte. Unten war alles still, und auch im Saale schliefen alle.

Leise tappte er zu seinem Bette zurück und zog die Kleider an, während ihm vor Aufregung die Zähne im Munde klapperten, so daß er sie fest zusammenbeißen mußte. Auch die Arme und Knie zitterten ihm.

Wenn gerade jetzt jemand käme!

Leise nahm er die Schuhe in die Hand, schlich wieder zum Fenster und begann hinauszuklettern. Nun war er plötzlich wieder ganz ruhig.

Rittlings saß er auf der Fensterbank, zog die Schuhe über und rutschte dann bis dicht an den Fensterflügel, der ihm im Wege stand.

Er ergriff den eisernen Haken, der das Fenster festhielt, und ließ sich dann von der Fensterbank hinuntergleiten.

Einen Augenblick hing er frei da. Dann hatte er mit den Füßen die Dachröhre gefunden, schob den Kopf unter dem Fensterflügel weg und tastete mit einer Hand hinüber. Jetzt kam das Schlimmste. Er mußte den sicheren Haken loslassen.

Eine furchtbare Angst überfiel ihn plötzlich. Er wagte es nicht und überlegte, ob er nicht doch lieber wieder zurückklettern wollte.

Aber dann hatte er einen Ausweg gefunden. Plötzlich ließ er den Haken los und griff nach der steinernen Fensterbank. Die führte weiter am Fenster vorbei, und nun konnte er langsam ruckweise sich auch mit der Hand der Gosse nähern.

Jedesmal rutschte er mit den Füßen ein Stückchen tiefer. Ein Zurück gab es nun nicht mehr.

Plötzlich ließ er auch die Fensterbrüstung los und griff nach der Gosse. Wieder gab es einen Ruck; aber seine Finger klammerten sich so fest an, daß sein Körper wieder zur Ruhe kam. Er durfte nicht ins Rutschen geraten. Das war es.

Stückweise und langsam glitt er nun tiefer, langsam, ganz langsam ...

Wie weit das Gesims wohl noch entfernt war? Dort konnte er doch einmal haltmachen und sich ein wenig ausruhen.

Plötzlich hörte er den Schritt des Hausvaters oben im Schlafsaal. Ein eiskalter Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Nein, er täuschte sich nicht. Er hörte ganz deutlich das hüstelnde Räuspern, das er so genau kannte.

Schneller als vorhin ließ er sich hinuntergleiten, und mit einem Male spürte er das Gesims unter seinen Füßen.

Es war breit genug, um darauf stehen zu können. Nur gerade mußte man sich halten und die Hände nicht von der Röhre lassen.

Aber was nützte das. Alles war ja verloren. Der Alte hatte vielleicht schon seine Flucht bemerkt. Man würde ihn suchen und ihn unten im Hofe finden, ehe er über die Pforte klettern konnte – – –

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. Wenn er hier auf dem Gesims blieb? Keiner würde ihn hier oben vermuten. Er mußte sie suchen lassen, bis sie es aufgaben. Die ganze Nacht würden sie es schon nicht aushalten, und nachher konnte er in aller Ruhe davongehen.

Er drückte das Gesicht in den Winkel zwischen der Röhre und der Mauer und stand unbeweglich und lauschte.

Der Alte mußte den Schlafsaal schon wieder verlassen haben. Oben war alles wieder still.

Nur jetzt um alles in der Welt nicht hinunterklettern. Das wäre zu dumm! Er würde ihnen gerade in die Arme laufen.

Da öffnete sich auch schon unten die Tür, die zum Hofe hinausführte, und eilige Schritte kamen über den Platz. Der Hausvater und die Lehrer waren es, die miteinander flüsterten.

Paul verstand nicht, was sie sagten. Ihm klopfte das Herz vor Aufregung und Angst, daß man ihn doch finden werde. Aber er rührte sich nicht.

Unablässig rann der Regen an ihm hernieder. Er war schon ganz durchweicht von der Nässe.

Dann kam noch jemand mit einer Laterne, und man ging auf die Suche. Dicht unter ihm standen sie still und berieten.

»Er muß vom Schlafsaal hinuntergeschlichen sein,« hörte Paul den Hausvater sagen. »Beim Zubettgehen ist er noch dagewesen, und das Bett war noch warm. Er kann also noch nicht lange hinaus sein. Er wird auf den Hof geschlichen sein und sich hier versteckt haben. Ich begreife nur nicht, wie er durch die Tür auf den Hof hat gelangen können. Ich hatte den Schlüssel schon abgezogen.«

»Es kann auch sein, daß er in den Keller hinuntergestiegen und durch eins der kleinen Fenster auf den Hof hinausgeklettert ist. Vielleicht ist eins der Kellerfenster offen?«

»Dann sitzt er im Feuerungsschuppen!« sagte der Hausvater leise und stampfte mit dem Fuße auf die Erde.

Man klinkte die Tür zum Schuppen auf, und alle gingen hinein und leuchteten hinter die Stapel von Brennholz, die dort lagerten.

Das dauerte eine endlos lange Zeit.

Endlich schlich man leise wieder über den Hof zurück, leuchtete auch hier vorsichtig in alle Winkel und begab sich dann endlich ins Haus, um zunächst im Keller die Suche fortzusetzen ...

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ließ sich Paul an der Gosse hinuntergleiten, lief hastig über den Hof und kletterte über die Pforte.

Die spitzen Nägel, die vom Rande in die Höhe starrten, hinderten ihn wenig. Er war so aufgeregt, daß er es kaum fühlte, wie sich eine der rostigen Spitzen in seine Hand bohrte.

Mit einem Satz sprang er dann von oben auf das Pflaster und rannte die Straße hinunter.

An der nächsten Ecke mäßigte er seine Schritte, um nicht aufzufallen, und ging, die Hände in den Hosentaschen, mit gewöhnlichen Schritten weiter.

Es war ärgerlich, daß er sich beim Überklettern die Hand verletzt hatte. Die Wunde begann allmählich zu brennen, als hielte jemand einen glühenden Nagel hinein.

Bei der nächsten Laterne blieb er stehen und sah nach dem Schaden. Die Wunde war nur klein und blutete fast gar nicht. Aber geschwollen schien die Hand zu sein, und eine wunderliche Steifheit saß in den Fingern.

Als er an die letzten Häuser der Stadt kam, atmete er auf. Nun war er in Sicherheit! Hier auf freiem Felde würde ihn niemand finden. Wenn ihn jemand anriefe, würde er blindlings in das dunkle Feld hineinlaufen. Dort würde ihn keiner wiederfinden. Jeden Schleichweg kannte er dort, und der Stadtwald war nicht mehr weit.

Es regnete noch immer. Er hatte keinen trockenen Faden mehr am Leibe. Aber die Luft war warm und schwül, und es fror ihn nicht, trotz der Nässe.

Es war doch ein gefährliches Wagstück gewesen. Wenn er losgelassen hätte oder abgerutscht wäre, würde er jetzt vielleicht noch mit gebrochenen Gliedern im Hofe der Anstalt liegen.

Vortrefflich, wie alles gegangen war! Aber einen Denkzettel hatte er nun doch bekommen. Merkwürdig, daß eine solch kleine Wunde so schmerzen konnte. Er spürte ein Kribbeln im Arme, ein dumpfes Stechen, und dann hatte er wieder ein Gefühl, als wäre die Hand gelähmt und schwölle in der Tasche so an, daß er sie nicht wieder hervorziehen könne.

Aber schlimm war die entsetzliche Müdigkeit, die ihn plötzlich überfiel. Wenn er sich doch irgendwo ausstrecken könnte und schlafen – – –

Da tauchten endlich die Bäume des Stadtwaldes auf. Er verließ die Straße und drang in das Gebüsch ein, das ihm mit regenfeuchten Zweigen ins Gesicht schlug. Aber nach einer Viertelstunde hatte er die Stelle erreicht, wo der Graben quer durch das Holz ging, und kletterte müde den Abhang hinunter.

Es war eine kleine Erdhöhle, in die er hineinkroch, kaum so groß, daß ein Mann ausgestreckt darin liegen konnte; die Wurzeln der Bäume hielten das Erdreich fest. Ein paar Fliederbüsche deckten den Eingang. Todmüde legte er sich zum Schlafen nieder.

Der Regen rauschte einförmig fort in den Kronen der Bäume und fiel mit singendem Tröpfeln auf das Wasser unten im Graben.

Mehrmals schrak er aus dem Schlafe wieder auf, so stach und bohrte der Schmerz in der Hand. Es war ein Klopfen darin, als würde mit nagelscharfen Hämmern darin gearbeitet.

Aber morgen würde die Wunde verheilt sein. Es war ja nichts Besonderes. Warum er nur den Arm nicht recht heben konnte? Auch die Schulter schmerzte.

Dabei fror ihn, und die Zähne begannen ihm vor Frost im Munde zu klappern.

Aber alles war gut, wenn er nur nicht wieder zurück brauchte in die Anstalt!

Der Regen hatte aufgehört, und nun wurde es zauberhaft still im Walde. Nur hier und dort klatschte noch ein Tropfen von den Blättern der Bäume auf die Zweige des Gebüsches. Und dann kam plötzlich der Mond durch die Wolken und schien auf das Wasser und die Büsche an der andern Seite der Böschung. Sie glänzten im Mondlicht mit ihren regenfeuchten Zweigen.

Paul lag und dämmerte vor sich hin, ohne daß ihn der Schmerz schlafen ließ. Wirre Traumbilder wechselten wie die Bilder eines Kaleidoskops vor seinem Auge.

Ob die ihn drüben in der Anstalt noch suchten? Ob der Alte noch immer mit dem Fuße stampfte und heiser und aufgeregt flüsterte?

Er sah sich wieder in der Anstalt. Man hatte ihn auf dem Sims entdeckt, und jetzt trugen sie ihn auf einer Leiter hinunter, und der Hausvater griff ihm in die Haare und schrie mit wutbebender Stimme: »Du Schlingel, du nichtsnutziger Schlingel du!« Und dann holte er zum Schlage aus. – –

Jäh schrak er aus seinem Traume wieder auf und sah sich ängstlich um.

Ging da nicht jemand an der gegenüberliegenden Seite des Grabens am Ufer hin? Bewegte sich dort nicht etwas?

Aber wirklich!

Unhörbar kam es näher. Es glitt über dem Wasser hin. Er sah es ganz deutlich. Es kam auf ihn zu.

Ein eiskalter Fieberschauer ergriff ihn und schüttelte ihn, daß ihm die Zähne klapperten.

»Mutter!« stammelte er leise, als es näherkam und nun die Böschung hinaufzusteigen schien. »Mutter! Du bist es? Ja! Fortgelaufen bin ich. Nun will ich hierbleiben. Du mußt es nur niemand sagen, sonst kommt man und holt mich, und dann werde ich wieder eingesperrt!

»Bist du böse, daß ich fortgelaufen bin? Warum? Ich dachte, du würdest lachen, wenn du es hörtest. Du wohnst jetzt in einem feinen Hause? Tausend Zimmer sind darin? Ah! nimm mich dahin mit, Mutter! Mich friert hier so!

»Du darfst nicht allein wieder fortgehen! Warte nur einen Augenblick, so geh ich mit. Ich kann nur nicht so schnell. – Mut–ter! – Mut– –ter!« – –

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