Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Mein erster Schultag

Ich hatte den ersten Schulranzen geschenkt bekommen, Schiefertafel, Griffel, Schwamm, Fibel und was sonst zur Ausrüstung eines Abcschützen gehört, und brannte nun vor Begierde, die Schule zum erstenmal von innen zu sehen. Meine Geschwister erzählten Wunderdinge daraus. Jeden Tag kamen sie mit einer neuen Geschichte oder einem neuen Liede nach Hause, und Lieder und Geschichten waren nun ganz mein Fall. Am Abend vorher hatte ich vor Ungeduld und heimlicher Aufregung nicht einschlafen können, und als mich nun die Mutter frühmorgens wecken wollte, hatte sie Mühe, mich wachzubekommen. Aber ihre Worte: »Junge, du mußt ja zur Schule!« elektrisierten mich, und im nächsten Augenblick war ich so munter wie eine Lerche. Vor Hast und Aufregung verschüttete ich den Morgenkaffee und wanderte dann an der Hand meiner Mutter die Straße hinunter zur Schule. Der Weg war weit und führte durch einen der belebtesten Teile der Großstadt. Um ihn allein gehen zu können, war ich noch nicht stadtkundig genug, und außerdem war es Brauch in unsrer Familie. Jedes meiner Geschwister hatte meine Mutter auf seinem ersten Schulwege begleitet, das Herz von mütterlichen Hoffnungen geschwellt und erhoben, froh, einen der viere wenigstens erst einmal wieder so weit gebracht zu haben.

Die Schule, in die ich geführt wurde, lag in einem alten Stadtviertel an einem schmalen Gange, hinter eng zusammengedrängten, altersgrauen, schiefwinkligen Häusern halb versteckt. Ein steingepflasterter, enger, kleiner Hof bildete den Spielplatz, und eine dunkle Stiege führte nach oben zu den Klassenzimmern, die niedrig und dumpf und bis zum Bersten mit Kindern gefüllt waren, die zu fünfen auf den langen schmalen Bänken hockten. Trotzdem – mir erschien der Raum an jenem Morgen wie ein Paradies. Es war ja die Schule, wo man Geschichten hörte und Lieder sang!

Eine ganze Schar von Müttern stand auf dem dunklen Flur und drängte sich durch die Tür in die engen Gänge zwischen den Bänken, um die Kleinen auf ihre Plätze zu setzen und ihnen den Schulranzen abschnallen zu helfen.

Ich hatte meinen Platz vorn beim Katheder bekommen und saß nun mit großen Augen erwartungsvoll da.

Plötzlich schellte die Schulglocke, und die Mütter begannen sich eine nach der andern langsam zu entfernen. Auch meine Mutter nahm Abschied und nickte mir an der Tür noch einmal ermutigend mit freundlichem Lächeln zu, und wie sie nun im Türrahmen verschwand, empfand ich mit Herzklopfen das Gefühl, in fremder Umgebung plötzlich allein zu stehen, auf mich selbst angewiesen zu sein. Ein paar Tränen wollten mir aufsteigen, wurden aber tapfer niedergekämpft.

Da – die letzte der Frauen hatte sich entfernt, und die Tür sollte gerade geschlossen werden – sprang plötzlich ein Knabe, ein flachshaariger Junge mit einem pausbackigen frischen Gesicht, wie ein Besessener von seiner Bank auf, lief quer über die Schultische und stürzte laut heulend zur Tür, durch die seine Mama verschwunden war, – der überraschte Lehrer mit langen Beinen hinterdrein, Rebellion vor sich und Aufruhr hinter sich!

Auf den Armen des Lehrers wurde der Übeltäter einige Minuten später wieder hereingetragen, von der scheltenden Mama, die in Vorahnung des Ereignisses das Schulhaus noch nicht verlassen hatte, begleitet.

Aber das Heulen des kleinen Durchgängers wollte kein Ende nehmen, und seine Mutter mußte in ungestillter Sorge von neuem den Heimweg antreten.

Der Lehrer hatte jetzt mit scheinbar gleichgültigem Gesicht seine Geige hergenommen und klimperte auf den vier Saiten.

Die Musik machte den Weinenden plötzlich stumm. Er trocknete seine Tränen und beobachtete eine Zeitlang mißtrauisch und schweigsam den Musikanten.

Plötzlich platzte er heraus: »Was is dat for en Dings?«

»En Vijohlin,« antwortete der Lehrer, der zu meiner maßlosen Verwunderung auch plattdeutsch sprach.

»Kannst du dor ok en Danz up spelen?«

»Un wie!«

»Mak mol!«

Und dann spielte der Lehrer, und wir begannen zu tanzen.

Wie die Hasen im Kohl hüpften wir auf den Bänken, und damit war das Eis gebrochen.

»Ick hebb ok en Botterbrot mitbracht!« erklärte der Ausreißer, der sich allmählich heimischer zu fühlen schien.

»Ick ok! Ick ok!« schrien die andern und holten ihre Vorräte hervor.

»Un ick ok!« rief der Lehrer, lauter als alle andern und zog nun aus seiner Tasche sein Frühstück. »Nu willt wi mol sehn, wer dat grötste het!«

Also wurde Butterbrotsappell gehalten.

Der Heuler von vorhin hatte das größte, ohne Frage. Der Lehrer hatte das Klassenlineal geholt und es ausgemessen.

Als der, von diesem unerwarteten Ergebnis befriedigt, seine Vorräte wieder eingepackt hatte, schrie ein andrer dem Lehrer zu: »Min Mudder seggt, du kunnst ok malen!«

»Kann ick ok!« entgegnete der.

»Denn mal mol wat!«

Der Lehrer griff nach der Kreide und malte: einen Hampelmann, einen Osterhasen, ein Schwein, einen Storch und Gott weiß, was.

Ich saß und staunte in stummer Ehrfurcht, und als dann in der folgenden Stunde die erste Geschichte erzählt wurde, die sieben Geislein allein zu Hause blieben, vom Wolf gefressen und von der klugen Mutter zu guter Letzt doch noch wieder aus dem Leibe des Untieres errettet wurden und der Wolf seine wohlverdiente Strafe erhielt, kannte unser Jubel keine Grenzen mehr. Selbst der Ausreißer war jetzt bereit, auf Befragen zuzugeben, daß die Schule ein ganz annehmbarer Aufenthalt sei.

»Dat wör en schöne Geschichte!« bestätigte er. »De will ick in 'n Hus min Mutter vertellen!«

»Dat do!« stimmte der Lehrer bei. »Wullt du denn nu ok morgen wedder kamen?«

»Dat will ick!« erklärte er. »Du mußt aber wedder 'n Danz upspelen!«

»Denn mußt du aber nich wedder utkniepen!«

»Dat will'k ok ni!«

»Wollt ihr morgen alle ganz gewiß wiederkommen?« wandte sich der Lehrer nun an uns alle.

»Ja!« schrien wir in einstimmiger Begeisterung.

»Ganz gewiß?«

»Ja–a!« scholl es wieder einstimmig zu ihm zurück. –

Draußen auf dem steingepflasterten Hofe aber standen die Mütter schon wieder, uns erwartungsvoll in Empfang zu nehmen. –

Niemand zog freudiger aufgeregt heim, als ich. Das Erzählen wollte schier kein Ende nehmen. Ich war in eine neue Welt eingetreten und begriff nicht mehr, wie ich bisher ohne das Glück, zur Schule gehen zu können, fertiggeworden war.

Nach einigen Wochen erkrankte unser Lehrer, und es kam ein andrer zu seiner Vertretung, der mir noch besser gefiel, als der erste. Er war stets vergnügt und guter Laune und sah es gern, wenn wir lachten, und was das beste war: er verstand es noch viel besser, Geschichten zu erzählen, als der Lehrer, der uns anfangs unterrichtet hatte.

Ich sehe noch immer den Apfelbaum, den er einmal an die Tafel zeichnete. Ich war so entzückt davon, daß ich ihn zu Hause heimlich auf meine Tafel zeichnen wollte, aber nicht damit zustande kommen konnte und zuletzt vor Ungeduld und Ärger in Tränen ausbrach, weil der Baum an der Wandtafel so viel schöner gewesen war.

Von diesem Lehrer habe ich zum erstenmal die Grimmschen Märchen erzählen hören. Vom Däumling und Aschenbrödel und Sneewittchen erzählte er uns, und er erzählte so schön, daß ich ihn einmal im Namen der übrigen, die mich dazu aufgestachelt hatten, bat, doch das Märchen vom Däumling, das wir am liebsten mochten, noch einmal zu erzählen. Diesmal solle es dann auch ganz gewiß das letztemal sein ...

Nun saß neben mir auf der Schulbank ein quecksilberner kleiner Geselle, dem schon nach einigen Wochen wegen seiner ewigen Unruhe einmal vom Lehrer das Höschen strammer gezogen wurde, als es von Rechts wegen sitzen mußte. Der hatte eines Tags ein allerliebstes Spielzeug mit in die Klasse gebracht, ein sauber aus Holz geschnitztes Figürchen, das einen Löwen darstellte und gewiß aus einer »Arche Noah« oder einer »Menagerie« stammte.

Ich hatte mich gleich beim ersten Anschauen so in das Spielzeug verliebt, daß ich ganz benommen davon war. Die ganze Stunde schielte ich heimlich hin, wenn Franz den Löwen auf dem Rande seiner Tafel spazieren gehen ließ oder ihn auf die Klappe des Tintenfasses stellte.

Wie stolz und kühn er dann dort stand, den Rachen aufgesperrt und den Schwanz in kühnem Bogen zur Erde geneigt! Wie er nun vorrückte, die Griffelrille entlang, um dann langsam die schräge Tischplatte hinabzuspazieren und für ein paar Sekunden unter der Tischplatte zu verschwinden.

Ich war so entzückt, daß ich alles um mich vergaß, aber plötzlich in höchstem Schrecken zusammenfuhr, als der Lehrer die Bankreihe herabschritt und sich mit den Worten an Fränzchen wandte: »Na, dann zeig' mir dein Spielzeug doch auch mal her!«

Nun half kein Maulspitzen – es mußte gepfiffen sein, und Franz blieb nichts andres übrig, als den Löwen der Gefangenschaft zu überliefern. Denn schweigend schritt der Lehrer mit dem Löwen zu seinem Pult zurück, öffnete schweigend den Deckel, setzte den Löwen in den geheimnisvollen Raum, ließ dann den Deckel wieder niederfallen und schloß das Gefängnis sofort mit rasselndem Schlüsselbunde schweigend wieder ab, als solle das arme Tier, das er darin eingesperrt hatte, niemals wieder an das fröhliche Licht des Tages kommen.

Es dauerte Wochen, bis wir es wieder zu sehen bekamen. Aber eines Tags holte der Lehrer ganz unverhofft den Gefangenen wieder hervor und versprach ihn Franz zurückzugeben, wenn er es fertigbringe, bis zum Schluß der Stunde nicht wieder zu schwatzen.

Nun ist es möglich, daß Franz an dem Besitz des Löwen nichts mehr gelegen war und er sich mittlerweile an den Verlust gewöhnt hatte, oder aber er konnte wirklich nicht bis zum Schluß stillsitzen – genug, am Schluß der Stunde verkündete der Lehrer, daß Franz nicht stillgesessen habe, daß er also auch den Löwen nicht wiederkriegen solle. Es solle darum eine Lotterie veranstaltet werden, und der Löwe solle der Gewinn sein.

Alle Köpfe drehten sich nach Franz herum – aber der nahm die Entscheidung mit augenscheinlichem Vergnügen auf. Die Vorbereitungen für die angekündigte Lotterie schienen ihn mehr zu interessieren, als der Besitz des Löwen, der einsam auf dem Pulte des Lehrers seines neuen Besitzers harrte.

Mit großer Sorgfalt wurden nun dreiundsechzig Lose angefertigt, gefaltet und gemischt. Dann verkündete der Lehrer, daß er auf eins der Lose das Bild eines Löwen gemalt habe. Wer dieses Los ziehe, habe den Löwen gewonnen.

Herzklopfend verfolgte ich den Vorgang. Zum erstenmal nahm ich an einer Lotterie teil, und mein Wunsch, den Löwen zu gewinnen, war gar groß.

Mit geschlossenen Augen durfte auch ich endlich in das geheimnisvolle Zigarrenkistchen langen, in dem der Lehrer die Lose gemischt hatte, und dann, als alle ihre Zettel vor sich auf dem Tische liegen hatten, durften wir auf ein gegebenes Zeichen unsre Lose auseinanderfalten – – –

Ich glaube, ich bin nie strahlender aus der Schule nach Hause gekommen, als an diesem Tage. Sorgfältig in den Griffelkasten eingeschlossen, brachte ich den »Gewinn des Tages,« den Löwen, heim, beneidet von der ganzen Klasse und selig in dem Bewußtsein, solch ein großartiges, schönes Spielzeug zu besitzen. Alle Wünsche meines Lebens schienen mir erfüllt zu sein.

Mir ist es heute noch rätselhaft, wie gerade ich dazu kam, den Löwen zu gewinnen, rätselhaft, weil ich nie wieder in meinem Leben etwas »gewonnen« habe. Ich habe keine glückliche Hand darin und habe stets eine Niete gezogen, wenn mich mal der Aberwitz juckte, ein Lotterielos zu kaufen. Es ist, als wenn ich für die Seligkeit des ersten Gewinnes alle andern drangegeben hätte! Das wäre denn so ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit! Denn die Freude über einen Gewinn von Fünfzigtausend kann nicht größer sein, als die meine damals war.

Aber alle irdische Freude ist vergänglich, und eines Tags sah ich ein, daß es doch noch Höheres auf der Welt gab, als einen aus Holz geschnitzten Löwen zu besitzen.

Es war ein regnerischer, stürmischer Nachmittag. Wir waren aus der Schule entlassen, und ich tappste mit meiner Freundin Tini, einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft, durch Regen und Wind nach Hause. Wir gingen zusammen unter einem Schirm, den wir, so gut es gehen wollte, gegen den Wind zu balancieren versuchten, was oft schwer genug war, da der Wind an den Straßenkreuzungen so heftig dreinfuhr und so plötzlich herumsprang, daß wir schön aufpassen mußten, daß er nicht unter das Schirmgestell griff.

Plötzlich aber ereilte uns doch das Unglück. Ein Hohlwind faßte Tinis Schirm und klappte ihn wie ein flatterndes Segel um, wobei er einen mehr als spannenlangen Schlitz in eine der Bahnen des Überzugs riß und ein paar Stangen zerbrach, als wenn es Streichhölzer wären. Da das Unglück so schnell und unvermutet gekommen war, hatten wir beide nichts Besseres zu tun gewußt, als den Schirmstock so krampfhaft wie möglich festzuhalten. Kaum aber hatte Tini die Zerstörung gesehen, die der Wind dem Schirm zugefügt hatte, als sie herzbrechend zu schluchzen anfing.

Sie trampelte mit den Füßen, schrie, als wenn sie gehängt werden solle, und war durch nichts zu trösten.

Ich versuchte alles, ihre Tränen zum Versiegen zu bringen, aber sie ließ sich auf nichts ein und brüllte weiter, als könne allein durch ihr Klagelied der Schirm wieder in eine anständige und brauchbare Form gebracht werden.

Zuletzt erbarmte sich eine Frau über sie und brachte den Schirm in seine ursprüngliche Form zurück. Die zerbrochenen Schirmstangen und das Loch konnte sie freilich nicht beseitigen, und das war für Tini ein ausreichender Grund, weiterzubrüllen.

Ich streichelte ihr die Backen, redete ihr zu, so gut ich konnte – nichts half.

Da kam mir ein Gedanke.

Stand nicht zu Hause mein Löwe, sauber und wohlerhalten? Mußte er nicht ein weinendes Mädchenherz zum Stillschweigen bringen können? Was galt mir der Löwe, wenn Tini nur endlich zu weinen aufhörte und auf ihrem lieben Gesicht wieder die Sonne aufging?

Leise fragte ich sie: »Tini, du, möchtest du nicht einen Löwen haben?«

Die Frage mußte Tini wohl so überraschend kommen, daß sie tatsächlich sofort mit ihrem Geheul abbrach, mich unter Tränen ansah und fragte: »Was für 'n Löwe ist das denn?«

Ich erzählte ihr nun also von meinem Löwen, und Tini vergaß ihren Schirm darüber, zog friedlich mit zu meinem Hause und ließ sich den Löwen schenken, der so lange der Stolz und die heimliche Freude meiner Spiele gewesen war.

Spornstreichs lief sie nach Hause, als sie das Spielzeug in Händen hielt, den ramponierten Schirm gleichgültig wie einen Schleppsäbel hinter sich herschleifend.

Heimlich gab es mir doch einen Stich, als ich mich so leichtsinnig meines Lotteriegewinnes, des einzigen meines Lebens, begeben hatte.

Aber Tini hatte ihn ja gekriegt – und das war ein Trost, der seliger machte als der Besitz.

.


 << zurück weiter >>