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Der Rabe

Zwei Sprunghölzer waren in seinem Käfig, der ihn nun schon seit Jahren festgehalten hatte. Es war seine einzige Beschäftigung, von dem einen auf das andre zu springen oder mit großen, gravitätischen Schritten im Bauer hin und her zu wandeln, ernst und würdevoll wie ein Predigtamtskandidat. Die Freiheit hatte er überhaupt nicht kennen gelernt in seinem Leben, denn er war früh aus dem Nest genommen worden, und darum wußte er eigentlich selbst nicht, was es bedeutete, sechs, sieben Jahre auf einem Gutshofe hinter engmaschigem Drahtgeflecht gefangen zu sitzen und mit Küchenabfällen gefüttert zu werden. Er hatte nie etwas andres gesehen als diesen schmutzigen Hof, auf dem bei Regenwetter tiefe Pfützen standen und der von langweiligen Speichern und Ställen eingeschlossen wurde. Dabei hatte er sich längst gewöhnt, die Welt mit der überlegenen Ruhe des Stoikers zu betrachten, denn für ihn war die Welt nichts weiter als ein schmutziger Hof mit einem Mistpfuhl in der einen Ecke und allerhand Gerümpel in der andern, von dem man noch dazu durch rostige Drahtmaschen abgesperrt war. Besonders im Frühjahr ergriff ihn zuweilen eine dunkle, unverstandene Sehnsucht. Er konnte dann plötzlich mit seinem Schnabel in heller Wut auf das dumme, heimtückische Drahtgitter loshacken, um mit Flügeln und Krallen dieses niederträchtige Netz von eisernen Fäden, das ihn eingesperrt hielt, zu sprengen oder zu zerreißen. Dann ließ er plötzlich ab, an seinem Gefängnis zu rütteln, stand einige Augenblicke ganz still, als horche er irgendeiner Stimme, die außer ihm niemand vernähme, sah dabei starr, mit klugen Augen auf einen Punkt, zitterte leise mit den Flügeln, fing an, den Kopf hin und her zu drehen wie ein Verzückter, schwang sich dann urplötzlich mit wildem Flügelschlag in die Höhe und stieß dabei mit aller Kraft gegen die Holzdecke seines Käfigs, so daß er im nächsten Augenblick halb betäubt wieder zu Boden stürzte und eine Zeitlang verdutzt und regungslos in einer Ecke sitzen blieb, um dann mit der alten Ruhe seine Spaziergänge wieder aufzunehmen, bis das Spiel von neuem begann.

Nun war es wieder Frühling geworden, und die Nebelkrähen waren längst wieder abgezogen. Während des Winters hatten sie krächzend und hungrig den Hof umschwärmt und den alten Raben oft wegen der satten Gefängniskost beneidet, wenn sie auf den beschneiten Stalldächern saßen und zuschauten, wie man ihm sein Futter brachte. Ein lauer Wind kam um die Hausecke, und die Hollunderbüsche, die am Speicher standen, zeigten schon grüne Blätterspitzen an ihren langen grauen Zweigen. Die Hühner gackerten wieder im Hofe, und der junge Hahn krähte lauter mit jedem Tage. Die Ostern waren im Anzuge, und draußen auf den Wiesen hingen bereits die silbergrauen Kätzchen an den dünnen Zweigen der Weiden.

Es war ein Sonntag. Denn wenn man auch die Kirchenglocken auf dem abgelegenen Pachthofe nicht läuten hören konnte, so war doch vor einer Stunde der Sohn des Pächters in seinem Feiertagsanzuge und mit dem Gesangbuch in der Hand über den Hof gegangen. Darum kam heute morgen die Magd und fütterte den Raben. Weil sie aber mit dem Knechte scherzte, vergaß sie, die Tür ordentlich wieder zu schließen, und einige Minuten später hatte der frische Morgenwind die kleine Gittertür, durch die man ihm sein Futter reichte, geöffnet, und weil niemand mehr auf dem Hofe war und der Knecht der Magd nachgelaufen war, stolzierte der alte Rabe auf den Wagenplatz hinaus. Aber er hatte die Welt noch nie, ohne ein derartiges Gitter vor den Augen zu haben, gesehen – darum blieb er nun vor Verwunderung über den ungewohnten Anblick stehen. Über ihm, hoch über den Dächern, flog schwirrend eine Schar Stare vorüber, und der alte Rabe sah ihnen mit verzückten, verdrehten Augen nach. Und als wenn nun plötzlich alle Sehnsucht und alle vergessenen Erinnerungen seines Lebens in den nächsten Flügelschlägen zum Ausdruck kommen sollten, flog er plötzlich, mit wilder Kraft die ungeübten Flügel schwingend, auf und vorwärts! Da traf ihn schon im nächsten Augenblick ein heftiger Stoß. Taumelnd und drehend, aber immer noch in wilder und blinder Kraft die Flügel schlagend, kollerte er schwer wie ein Stein eine schräge Fläche hinunter und blieb dann, dumpf auf die feuchte Erde schlagend, liegen. Aber nach einigen Minuten, in denen er regungslos still, wie tot, dagelegen hatte, erholte er sich und kam allmählich wieder zur Besinnung. Er mußte vorhin in blindem Freiheitsdrang gegen den Schornstein des Herrenhauses geflogen sein, und er war alt und vernünftig genug, seinen Kopf nicht zum zweitenmal eine derartige Probe bestehen zu lassen. Wieder erhob er sich und flog nun höher und höher, über Wiesen und Felder dahin. Ein wildes Gefühl der Freude durchdrang ihn. Er schlug so kräftig mit den Flügeln, als wollte er mit jedem Flügelschlage einen Angreifer zerschmettern, und seine glänzenden schwarzen Augen funkelten vor Kampfbegier und Stolz über die Freiheit, die ihm so plötzlich zuteil geworden war.

Unter sich sah er eine ihm völlig fremde Welt liegen, und bald flog er langsamer und ruhiger, um die Dinge genauer ins Auge fassen zu können. Aber da lag das Dorf, und die strohgedeckten Häuser schauten zwischen den noch kahlen Ästen der Bäume hervor. Dahinter breiteten sich die Felder aus, auf denen schon die Wintersaat grünte. Drüben lag die braune Heide und das Moor. Über ihm zogen die weißen Frühlingswolken leicht im Winde dahin, und dort in der Ferne lag der Wald, und mitten im Dorfe die Kirche. Die Luft war feucht und frisch vom Atem des Frühlings, und er glitt auf seinen großen schwarzen Schwingen mit sicheren Flügelschlägen dahin. Und nun, wie er so leicht und frei, wie wiedergeboren durch die Lüfte dahinflog, faßte ihn ein ungeheures Gefühl der Erbitterung und Wut, daß man ihn von all dem so lange abgesperrt gehalten hatte. Alle Philosophie und Würde vergaß der Alte in diesem Augenblick. Er dachte an den schmutzigen Hof und den engen Käfig, den er eben verlassen, das rostige Drahtgeflecht und die grauen, unendlich langweiligen Jahre seiner Jugend, die er dahinter zugebracht hatte, und seine Augen funkelten tückisch. Mit langsamen Flügelschlägen ließ er sich auf einer alten Eiche nieder, die nicht weit von der Kirche an der Dorfstraße stand, die zu dem Pachthofe führte. Das Fliegen war eine ungewohnte Beschäftigung für ihn, und er wollte sich etwas verschnaufen.

Der Gottesdienst mußte gerade zu Ende sein, denn auf allen Wegen, die der alte Vogel von seinem Platz aus sehen konnte, gingen Leute in Feiertagskleidern. Richtig! Da kam ja auch der Franz des Weges!

Von neuem faßte den Raben die Wut. Am liebsten hätte er sich mit gesträubten Federn und funkelnden Augen auf den Knaben gestürzt, der ihn einst aus dem Nest genommen und jahrelang in den engen Käfig gesperrt hatte. Ahnte er doch heute erst, wieviel er da drinnen entbehrt hatte.

Er warf einen Blick unauslöschlichen Hasses auf den Knaben, der unter dem Baum, auf dem der Rabe saß, vorüberging, ohne zu wissen, daß ihn sein alter Gefangener von oben mit tückischen Augen betrachtete.

»Schäm' dich, du Lümmel!« fuhr es da plötzlich aus dem Vogel heraus. Es war das einzige Wort, das er während seiner langen öden Haft plappern gelernt hatte. Jedesmal, wenn ihn der Knabe gefüttert hatte, hatte er es ihm zugerufen. Nun klang es dem verdutzten Knaben plötzlich von oben herab in die Ohren: »Schäm' dich, du Lümmel!«

Er begriff nicht, woher die Worte kamen, und blickte sich verwundert nach allen Seiten um.

Aber er sah nichts um sich als einen Raben, der sich aus dem Geäst der alten Eiche, die ihre Krone über den Weg hinreckte, erhob und nun mit ruhigen Flügelschlägen den heimatlichen Wäldern zuflog.

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