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Theater

Das erste Theater, das ich in meinem Leben besuchte, war in einem Raum untergebracht, der eigentlich für den Besuch einer solchen Kunststätte wenig geeignet war. Es befand sich nämlich auf dem Hausboden unsers Nachbarhauses, und der Direktor, der zugleich Kassierer, Souffleur, Theaterarbeiter und Kulissenschieber in einer Person war, war auch zugleich einziger Besitzer der ganzen Herrlichkeit und hatte nicht nötig, sein Unternehmen auf Aktien, Gründerscheinen oder andern Krediten aufzubauen. Es war ein völlig schuldenfreies Unternehmen, und jedes Stück war von dem Besitzer in eigner »Werkstatt« hergestellt worden.

Im Ernst: er war ein fähiger kleiner Kerl, der Hermann. Mit ehrfürchtig staunenden Augen habe ich als fünfjähriger Junge vor seinem Theater gesessen, und ich wüßte nicht, daß ich jemals wieder eine solche Bewunderung und einen solchen brennenden Neid empfunden hätte, als an dem Tage, da ich zum erstenmal diese Herrlichkeit mit eignen Augen erblickte.

Der Eintritt war nur gegen Zahlung von zwei Pfennig zu erlangen. Es hat mir damals Mühe genug gekostet, das Eintrittsgeld aufzubringen, aber meine Mutter ließ sich zuletzt doch erweichen, und zu der nächsten Vorstellung kaufte auch ich mir, strahlend vor Glück, einen Platz.

Aber mit dem Erlangen der Eintrittskarte, einem Flicken Papier, auf dem – für mich damals noch unlesbar – das Wort »Theater-bulljett« gestanden haben soll – waren die Schwierigkeiten, in das Reich der Kunst zu gelangen, durchaus nicht erschöpft.

Das Schwierigste war der Aufstieg auf der Treppe, der nämlich absolut geräuschlos vor sich gehen mußte, damit man nicht Gefahr lief, von der Tante des Herrn Direktors, einer zanksüchtigen und unfreundlichen alten Dame, wieder aus dem Hause gejagt zu werden. Sie schien nämlich hinter ihrer Stubentür nur darauf zu lauern, daß ein unvorsichtiges Poltern auf der Treppe ihre Wut auflodern lasse, um die ganze Gesellschaft von Straßenkindern, die »wieder einmal« auf den Hausboden zu klettern unverschämt und dreist genug war, hinauszuschmeißen.

Zitternd schlichen wir also die Treppe hinan, immer nur einer zurzeit, um jedes Getrappel zu vermeiden, und hockten uns oben in wortloser Stille auf die bereitgestellten Zuschauerplätze, einige umgekehrte Kisten und Eimer, von denen die Eimer und eine zerbrochene, umgekehrte Gießkanne die besten Plätze bedeuteten, und harrten nun der Dinge, die da kommen sollten.

Eine im Flüsterton geführte Unterhaltung mit meinem Nachbar über die Großartigkeit des Theaters, das uns bisher nur seine knallroten Vorhänge sehen ließ, wurde mir sofort von dem Direktor mit einer solchen Energie verboten, daß ich geradezu in mich zusammenfuhr!

»Du glaubst wohl, ich seh' dich da nicht,« knurrte er hinter dem Laken hervor, das den Bühnenraum von dem Zuschauerraum trennte. »Ich sehe hier jede Bewegung, die ihr macht! Wer nicht stillsitzen kann, wird einfach rausgeschmissen! Bildet euch aber nicht ein, die zwei Pfennig wieder rauszukriegen!«

Die fürchterliche Drohung erfüllte denn auch sofort ihre Wirkung. Es war geradezu kirchenstill in dem dunklen, backofenheißen Raume, so daß man meinte, die Dachpfannen in der Glut der Nachmittagssonne braten hören zu können.

Das Schlimmste war für mich, während dieser Zeit auf dem umgekehrten Eimer zu balancieren, der jeden Augenblick umzukippen drohte. Dabei galt dieser Platz noch als der teuerste. Die Kisten hinter mir kosteten nur die Hälfte von dem, was ich für meinen Sitz bezahlt hatte. Gar zu gern hätte ich mir einen andern Platz gesucht und mich nach hinten geschlichen. Aber der Herr Direktor hinter seinem geheimnisvollen Vorhange, hinter dem sich Gott weiß was für große Dinge vorbereiteten, war mir ein zu gefährlicher Aufpasser. So wagte ich mich nicht zu rühren, saß vielmehr wie angegossen auf meinem Eimer, dessen scharfer Rand sich ebenso unangenehm bemerkbar machte wie die trockene Backofenglut, die den ganzen Hausboden erfüllte.

Endlich war der letzte Zuschauer wie ein Indianer auf dem Schleichpfade die Treppe heraufgekommen, die Tür zum Bodenraum wurde zugedrückt, und allerhand geheimnisvolle Vorbereitungen hinter dem Vorhange bewiesen, daß etwas Großes im Werke war. Bald zeigte sich hier eine Beule im Vorhange, bald dort ein geheimnisvoller Abdruck eines Armes hinter dem dünnen Tuch, und nach einiger Zeit wurde August Wendel gar als Gehilfe hinter den Vorhang gerufen.

Oh, wie ich den beneidete! Konnte es etwas Schöneres geben, als die verborgene Herrlichkeit aus nächster Nähe sehen zu können, mitwirken zu dürfen an dem Kommenden, getragen von dem Vertrauen des Herrn Direktors?

Wahre Wunderdinge hatte man ja unten auf der Straße von dem erzählt, was der Vorhang verbarg. Eine richtiggehende kleine Windmühle mit vier richtigen Flügeln war nur eine von den vielen Herrlichkeiten.

In die ehrfürchtige, schweigende Stille, mit der wir auf den Anfang der Vorstellung warteten, klang es plötzlich laut: »Minsch, lat dat na!«, worauf der Direktor prompt wie ein höllischer Geist aus seiner Welt hinter dem Vorhang auftauchte, die Reihen der Zuschauer mit fürchterlichem Blicke musterte und leise, mit verhaltener, aber vor Zorn bebender Stimme fragte: »Wer hat da eben gerufen?«

»Heini Mehlmann hett mi knepen,« antwortete die Stimme von vorhin, worauf Heini Mehlmann, dem das lange Warten gar zu langweilig geworden war, vom Herrn Direktor beim Ohr genommen wurde, so daß er das Gesicht zu einer jämmerlichen Grimasse verzog.

Hätte er wirklich losgelegt, wie er doch augenscheinlich wollte, so wäre die ganze Vorstellung einfach »im Dutt« gewesen. Sein Gebrüll hätte unfehlbar die Tante mobil gemacht, und die Folgen wären unabsehbar gewesen.

Aber er besann sich noch zur rechten Zeit und begnügte sich damit, sein Gesicht zu verziehen, wie ein tätowierter Indianer, wobei er zugleich so viel indianischen Gleichmut entwickelte, seine Stimme in den nötigen Schranken zu halten.

Eine energisch wiederholte Drohung des Direktors, uns alle rausschmeißen zu wollen, wenn einer noch mal kniffe oder »Radau« mache, folgte, worauf er dann wiederum hinter dem Vorhange verschwand.

Aber nun sollte unsre Geduld auch herrlich belohnt werden!

Ein leises Klingelzeichen erscholl, und nach einer andächtig durchharrten Minute ging der kleine Vorhang wirklich in die Höhe. Er rollte sich dabei auf wie ein Rouleau, was denn sofort die staunende Verwunderung aller Zuschauer erregte. Aber noch erstaunter machte uns das Bild, das uns die Bühne zeigte.

Es war eine richtige kleine Landschaft darauf aufgestellt, und mein Erstaunen ging bald in ein Entzücken über, das mich nicht mehr ruhig an meinem Platze sitzen ließ.

Links und rechts standen Bäume, auf Pappe gezogene Kulissen, die wie ein wirklicher Märchenwald aussahen, und hinten stand die Windmühle, die vielerwähnte, von allen bestaunte Windmühle, die nun auch wirklich, erst langsam, dann schneller, ihre Flügel in Bewegung setzte.

Nachdem sie das eine Zeitlang geradezu musterhaft besorgt hatte, fiel der Vorhang langsam, und die erste Abteilung der Vorstellung war beendet.

Unsre Enttäuschung darüber, daß uns die Herrlichkeiten der Bühne so schnell wieder entzogen wurden, äußerte sich in verschiedenen wehmütigen »Oh« und »Ochs«, worauf sich denn auch der Vorhang bald zum zweitenmal in die Höhe hob.

Wir erblickten wieder dieselbe Landschaft, aber diesmal drehten sich die Flügel der Windmühle nach rechts, statt nach links herum.

Wir staunten auch die zweite Abteilung ebenso ergriffen an wie die erste, waren aber froh, als sich bald die dritte Abteilung anschloß, in der man einen Bauern mit einem Esel und einem Sack Mehl darauf sich der Mühle nähern sah. Es war eine aus Pappe geklebte und ausgeschnittene Figur, die da vorübergezogen wurde, aber ihr Erscheinen erregte im Zuschauerraum eine solche Aufregung, daß mein Nachbar von seinem Sitz aufsprang und mich dabei aus Versehen anstieß, so daß ich in meiner völligen Versunkenheit und Begeisterung das Gleichgewicht verlor und unter dem entsetzlichsten Gerassel des Eimers von meinem wackligen Sitz herab und auf den Fußboden fiel, was den Direktor veranlaßte, sofort den Vorhang fallen zu lassen und hinter seinen Gardinen hervorzustürzen, um mich als die Ursache dieses Zwischenspiels einer fürchterlichen Verantwortung zu unterziehen.

Im selben Augenblick aber scholl es die Bodentreppe herauf: »Hermann? Herr–mann? Herr–maann? Hast du wieder Kinder mit nach oben genommen?« Ein eisiger Schreck durchfuhr uns. Das war niemand anders als die Tante, die mein Sturz aus ihrer Nachmittagsruhe aufgestört haben mußte.

Hermann zog es vor, auf diese Frage keine Antwort zu geben. Er brummte nur etwas in den Bart, das man für ja und auch für nein halten konnte.

Die Tante war nun menschenfreundlich genug, sich mit dieser Erklärung zufriedenzugeben, jedenfalls, weil sie die Antwort so auslegte, wie sie ihren Wünschen entsprach, daß also keine Kinder auf dem Hausboden seien und Hermann es vorzog, allein in der Backofenglut des Hausbodens zu schwitzen.

Die Vorstellung ging also weiter; und was das beste war, ich war durch das unverhoffte Erscheinen der Tante vor einer Bestrafung durch den Herrn Direktor bewahrt geblieben, der sich ängstlich hütete, jetzt noch weiteren Lärm zu machen, mußte er doch befürchten, daß ich in ein erbärmliches Geheul ausbrechen würde, falls er mich vor die Tür setzte!

Die folgenden Abteilungen waren nicht weniger interessant. Im vierten Akt lief ein Hund über die Bühne, im fünften ein Pferd, im sechsten ein Hirsch. Ich weiß nicht mehr, wievielmal der Vorhang auf- und niederging. Jedenfalls war es einfach wunderschön. Und ich kam aufgeregt und im Tiefsten von dem Gesehenen begeistert nach Hause. Die ganze Nacht träumte ich von dem wunderbaren Theater, dem kleinen knallroten Vorhang, den hübschen Bäumen und der unvergleichlichen Windmühle, die ihre Flügel nach links und rechts herumwerfen konnte.

Nach ein paar Tagen gab es ein neues »Theater«. Ein paar große Knaben und Mädchen hatten sich, aufgestachelt durch Hermann Wendts Erfolge, zu einer Schauspielertruppe zusammengetan und luden uns zu einer »richtigen Theatervorstellung« ein, auf der ein »richtiges« Stück gespielt werden sollte; und das von richtiggehenden Personen.

Diesmal war der Tempel der Kunst in einer Waschküche aufgeschlagen. Als Vorhang diente ein altes Stück Kattun, das der Einfachheit halber über eine Waschleine gehängt war und dadurch den Raum in zwei Teile teilte, von denen der größere von uns Zuschauern eingenommen wurde.

Nach Beginn des Spieles sahen wir unsre Spielkameradinnen, Hanne Lührs und Hermine Gute, in einem Gespräch an der Tür lehnen, von wo aus die Schauspieler auftraten. Von einer Bühne war keine Rede, und das zauberische Bild, wie ich es von dem Theater auf dem Dachboden bei Wendts im Gedächtnis festhielt, wollte zu dem neuen so wenig passen, daß mich diese nüchterne »Bühne« doch stark enttäuschte. Das Schlimmste aber war das von einer der Mitspielerinnen verfaßte Stück, das man darstellte. Ich weiß nicht alle Einzelheiten mehr, aber ich erinnere noch, daß sich Hannchen Lührs und Hermine Gute im ersten Akt darüber unterhielten, daß sie bereits ihre Stuben gefegt und ihre Betten gemacht hätten, – eine Tatsache, die uns um so mehr langweilte, als man sich mit aller Umständlichkeit darüber verbreitete. Darauf begann ein Einbruch eine Rolle zu spielen. Einer der beiden – ich weiß nicht mehr, ob es Hannchen Lührs oder Hermine Gute war – war Geld aus der eingebildeten Kommode gestohlen worden; ein Schutzmann erschien und fragte die Einzelheiten nach, worauf dann Hannchen Lührs Hermine Gute beschuldigte, die Täterin zu sein, worüber Hermine Gute in einen begreiflichen Zorn geriet und drohte, es ihrem Manne sagen zu wollen! Was letzten Endes aus dem Konflikt wurde, weiß ich nicht mehr, kann es auch nicht wissen, denn nach dem ersten Akt erhob ich eine solch schonungslose Kritik an dem Gesehenen, daß ich von den lauschenden Akteuren hinter dem Vorhange zur Strafe für mein »freches Reden« vor die Tür gesetzt wurde, und so um den zweiten Akt und die Fortsetzung der Tragödie kam.

Ich bedauerte das nicht allzusehr. So etwas, wie das Gesehene, war einfach für mich kein »Theater«. Das war meinetwegen ein Spiel, bei dem man aber doch besser mitspielte, als in der Ecke saß und zuguckte, regungslos wie ein Ölgötze.

Nein, da war das kleine niedliche Theater Hermann Wendts doch ein ander Ding gewesen. Da war ein rollender Vorhang, war eine Mühle, die sich links und rechts herumdrehte, da waren kleine Figuren aus Pappe geschnitten, Bäume und Büsche aus dem gleichen Stoff und ein richtiger Hintergrund mit Bergen und einem blauen Himmel darüber! Das war doch eine ganz andre Sache!

Ich trug die Erinnerung an die Reize des kleinen Kunsttempels auf dem Dachboden von Hermann Wendts Hause wie ein Heiligtum in mir, und ich wäre glücklich gewesen, wenn ich einmal bei einer Vorstellung hätte helfen dürfen.

Einmal wagte ich es, Hermann darum zu bitten. Aber er wies mich schroff ab.

»Hinter die Kulissen gucken gilt nicht,« erklärte er mir zu meinem größten Schmerze.

Damals ahnte ich noch nicht, daß der schöne Schein das Beste am Theater ist, und daß es wirklich am besten ist, wenn man dort so selten wie möglich, und so oberflächlich als es geht, »hinter die Kulissen« guckt, will man nicht ein großes Stück seiner Illusionen verlieren.

So blieb mir die Erinnerung an Hermanns kleines Theater ungetrübt. Es blieb eine wirkliche Zauberwelt, in der Personen sich aufrecht und gerade über die Bühne bewegten, mächtige Bäume ihre Kronen ineinanderflochten und eine Windmühle ihre unaussprechlich niedlichen Flügel bewegte.

Im nächsten Herbst war Jahrmarkt, und ich sah zum erstenmal ein Kasperletheater. In einer Ecke des Marktes stand die kleine Bude, in der jeden Abend Kasperle seine Vorstellungen gab, sich mit Polizei und Tod und Teufel herumschlug und ein so kräftiges Plattdeutsch dabei redete, daß einem die Augen davon hätten tränen können. Und das Beste dabei war, uns Kindern wurde selten für das Zusehen etwas abgefordert! Meistens wandte sich die Sammlerin mit ihrem Blechteller an die wenigen Erwachsenen, die dem Spiel zusahen.

Stundenlang standen wir Kinder oft vor Beginn schon vor dem kleinen Kasten, in dem Kasperle seine Vorstellungen gab, ließen uns die Füße zu Eisklumpen gefrieren und warteten voller Erwartung der Dinge, die Kasperle heute Abend anstellen werde.

Nach Schluß des Marktes war das erste, daß wir uns zu Hause selbst ein Kasperletheater herstellten.

Hölzerne Spunde von alten Bierfässern, die wir uns besorgt hatten, wurden zu den Köpfen für unsre Figuren verarbeitet, Augen und Mund mit dem glühend gemachten Feuerhaken eingebrannt und Kasperle eine Nase aus Holz angesetzt, die er dann freilich bald im Kampf mit dem Teufel verlor; aber da er auch trotzdem noch kenntlich war, büßte er unsre Sympathie dadurch keineswegs ein, und die Zipfelmütze, die meine Mutter ihm auf unsre Bitte genäht hatte, hing ihm noch ebenso verwegen im Nacken wie vorher. Gespielt wurde einfach am Tischrand. Der Spieler kniete dahinter und ließ die Figuren sich bewegen und sprach die Dialoge frei, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. –

Das schönste Theater aber, das ich als Kind gesehen habe, war ein Marionettentheater, in das ich ein Jahr später geführt wurde. Eine wahre Wunderwelt tat sich mit dem Abend für mich auf. Puppen tanzten auf einem Seile, ohne herunterzufallen, sprachen und spielten und sangen, rollten mit den Augen und bewegten Arme und Beine, wie lebende Menschen!

Mein Herz ging in Sprüngen, und ich habe jahrelang von diesem einen Abend gezehrt! Aber so recht fruchtbar wurde die genossene Freude doch darum nicht, weil mir alles zu großartig erschien, um nachgeahmt werden zu können. Ich empfand es zu deutlich: so etwas Wunderbares wie diese Puppen konnte ich niemals mein eigen nennen, und als man mir erklärte, daß die Puppen durch Fäden bewegt worden seien, wollte ich es anfänglich nicht glauben. Als man mich aber überzeugt hatte, war ich desto mutloser geworden. Welche Kunst mußte dazu gehören, die Puppen an den feinen Fäden bewegen zu können! Und wie teuer mußten solche Figürchen sein, die mit geheimen Uhrwerken im Leib ausgestattet waren, mit den Augen rollen und mit den Kinnladen klappen konnten, als könnten sie sprechen wie unsereiner!

Nein, da war das Kasperle auf dem Jahrmarkt doch zehnmal leichter nachzumachen gewesen, wenn es auch so viel kunstloser war, derbe Glieder hatte und einen ordentlichen Puff an seinen Kopf vertragen konnte, während es ihm die reinste Erquickung war, noch derbere Püffe an seine Gegner zu verteilen.

Viele Jahre später – ich war bereits fünfzehn Jahre alt geworden – bekam ich dann zum erstenmal ein wirkliches Theater zu sehen.

Eine neue Welt ging mir auf!

Man gab Schillers »Maria Stuart«. Ich war ohne jede Vorbereitung ins Theater gekommen, kannte das Stück nicht und erwartete innerlich ziemlich ruhig, wenn auch mit einiger Ungeduld, den Beginn. Als aber der Vorhang aufging und ich von meinem Platze auf dem höchsten Range zum erstenmal die Personen des Stückes sich auf der Bühne bewegen sah, ging mein anfängliches Staunen bald in ein glühendes Interesse über. Ich litt mit der unglücklichen Königin, war ergriffen von dem Schicksal Mortimers und hätte keinen Augenblick gezaudert, die Königin zu befreien, – wenn ich nicht auf dem dritten Range des Stadttheaters gesessen hätte. Aber die Illusion war so stark, daß meine Bewegung bei dem Abschied Marias von ihren Getreuen so mächtig wurde, daß ich die Zähne aufeinanderbeißen mußte, um nicht in Tränen auszubrechen. Als ich nach Hause kam, brannte mir der Kopf von dem Gesehenen, und ich war völlig zerschlagen und elend, und das entfachte Mitleiden glühte so stark in mir, daß ich beinahe in der Stille meiner Kammer noch in Tränen ausgebrochen wäre. Das Bild der gefangenen Königin wollte mir nicht wieder aus dem Sinn, und niemand war glücklicher als ich, als ich zufällig ein paar Wochen später ein Bild der Schauspielerin, die die Maria dargestellt hatte, im Schaufenster einer Billetthandlung entdeckte. »Fräulein K. als Maria Stuart« stand darunter. An jedem Abend zog ich von da ab vor dieses Fenster und betrachtete minutenlang das Bild. Schwermütig kehrte ich dann heim und wäre unglücklich gewesen, wenn ich nicht am nächsten Abend auf ein paar Minuten zu Marias Bild hätte zurückkehren können.

Von da ab wußte ich es möglich zu machen, daß ich häufiger ins Theater kam. Ich sah »Minna von Barnhelm«, »Die Räuber«, den »Fiesko« und den »Faust«.

Jedesmal, wenn ich wieder vor dem Vorhange saß und dem Beginn des Spieles entgegensah, empfand ich die eigentümliche Spannung und Beklemmung wieder, mit der ich das erstemal den Anfang erwartet hatte, und da ich nun heimlich begonnen hatte, selbst Dramen zu schreiben, mischte sich eines Abends mit Macht der Gedanke in meine Betrachtungen: Ob du es wohl einmal erreichst, daß du hier sitzen und mit Spannung dem Beginn eines deiner eignen Stücke entgegensehen wirst?

Als ich vor Jahren dann der Generalprobe eines meiner Stücke in demselben Theater beiwohnte, konnte ich mich nicht enthalten, einen stillen Blick zu dem obersten Rang hinaufzuwerfen, wo ich einst vor einem Dutzend Jahren mit dem glühenden Wunsche gesessen hatte, der nun in Erfüllung ging.

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