Johann Gaudenz v. Salis-Seewis
Gedichte - Ausgabe letzter Hand
Johann Gaudenz v. Salis-Seewis

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Der Gottesacker

im Vorfrühling.

        Blätter treibt des Kirchhofs Flieder,
Neigt auf Grüfte junges Laub;
Kirschenblüthe gaukelt nieder
Auf der Abgeschiednen Staub.
Bleicher Primeln Keime lüpfen
Sanft das Moos, das sie umgab;
Und des Dorfes Kinder hüpfen
Achtlos auf der Mütter Grab.

Junges Sinngrün drängt sich dichter
An des Jünglings flachen Stein,
Öffnet blauer Blumen Trichter,
Saugt zerfloßnen Reifen ein. 114
Schlaff gedrückte Halme richten
Sich vom Winterschlaf empor,
Und in naher Waldung Fichten
Flötet laut ein Drosselchor.

Drosseln, singt in leisen Chören!
Amsel, flöt' im Trauerhain!
Nur wir Hinterbliebnen hören
Eure Frühlingsmelodei'n.
Ach! ihr mahnt an die Genossen,
Die ein früher Tod verklärt;
An die Lenze, die verflossen,
An die Zeit, die nimmer kehrt!

Flötet nur gelaßne Klage,
Hemmt der Trauertöne Lauf;
Denn sie nahm von dunkler Tage
Letzter Stuf' ihr Engel auf.
Kies und dunkle Schollen warfen
Wir auf den versenkten Sarg,
Als, begrüßt von Himmelsharfen,
Sich ihr Geist in Licht uns barg. 115

In des Geisterreiches Stille
Tobt kein Sturm der Leidenschaft
Und des Guten reiner Wille
Lohnt sich durch erhöh'te Kraft,
Seelen, fremd im öden Thale
Der umschränkten Wirklichkeit,
Fanden froh die Ideale
Seliger Vollkommenheit.

Ihre Schwächen sind vergessen,
Groll und Zwietracht sind versöhnt,
Wo die Reue mit Zypressen
Der Gekränkten Stätte krönt.
Aus des niedern Neides Schranke
Zu des Friedens Höh' entrückt,
Ritzt sie nie der Bosheit Ranke,
Die des Edeln Pfad umstrickt.

Kühler Rasen überschleiert
Sorgsam der Verwesung Spur;
Auf des Moders Halle feiert
Frühlingsfeste die Natur; 116
Und die Thräne der Empfindung,
Wenn ihr Grabgeläut' verklingt,
Schmückt die Kette der Verbindung,
Die ins Geisterreich sich schlingt.

Auf den Gräbern unsrer Väter
Sprießt des Erdrauchs Purpurstrauß,
Ein entwölkter lautrer Äther
Überwölbt ihr enges Haus,
Auf vermorschter Särge Reste,
Auf zerbröckeltes Gebein,
Wallt durch weiße Blüthenäste
Goldner Frühlingsmorgenschein.

Selbst wo rasenlos und mürbe
Sich ein neuer Hügel hebt,
Wo man den, der heute stürbe,
An die Reihe hin begräbt,
Wird der Grund sich bald behalmen;
Wo jetzt Wermuthstengel stehn,
Hebt die Hoffnung Siegespalmen
Für das große Wiedersehn. 117

Drückt euch dicht, ihr Epheuzweige,
An der Dulder stilles Grab!
Schlaffe Trauerweide, neige
Dein Gelocke tief herab!
Flattert drüber Hängebirken,
Dämpft den Tag umher durch Laub,
Und, Natur, mit leisem Wirken
Wandl' in Blumen ihren Staub! 118

 


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