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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
In heimischen Gewässern

Brigg ›Bolama‹. Auf See, d. 8. Mai 1860.
38° N. Br. 19° W. L.

Liebster Vater!

Die ›Aurora‹ ist auf See verbrannt. Richard und ich und die übrigen Leute der ›Aurora‹ – mit Ausnahme des Steuermanns – kamen an Bord dieser Brigg, deren Besatzung bis auf einen einzigen Mann am Fieber gestorben war, und bringen nun das Schiff nach Hause. Wir sind ganz wohl und guter Laune. Ein Schiff überholt uns sehr schnell, und ich schreibe in größter Eile in der Hoffnung, daß wir den Brief an Bord werfen können. Es scheint ein Schnellsegler zu sein und wird also diese Nachricht wohl schon ein paar Tage vor unserer Ankunft Dir zukommen lassen. Bitte, uns in Sunderland zu erwarten. Das ist unser Bestimmungshafen. Ich habe keine Ahnung, wann wir dort ankommen können, habe Dir aber oben unseren augenblicklichen Schiffsort angegeben. Unsere Fahrt beträgt ungefähr sechs Knoten.

Mit den besten Grüßen Deine Dich liebende Tochter
Jessie Fowler.

Diesen in größter Eile geschriebenen und adressierten Brief übergab ich ›Herrn‹ Snow. Als dienstthuender Steuermann hatte er jetzt Anspruch darauf, so genannt zu werden. Er hatte mir versprochen, den Brief an Bord eines eisernen Klipperschiffes zu befördern, das uns mit großer Schnelligkeit einholte und das wir bereits durch Flaggensignale über unsere Absicht aufgeklärt hatten.

Brausend und zischend kam das stolze Schiff heran. Snow hatte den Brief inzwischen mit einem Scheuerstein beschwert, mit Segeltuch umwickelt, verschnürt und nach Art einer Schleuder zugetakelt. Wie ein Pfeil sauste der Stein durch die Luft, als das Schiff uns in Lee passierte. Er traf das Großmarssegel und fiel dann auf Deck. An der Luvreeling stand der Kapitän und rief uns zu: »Wir werden den Brief zur Post befördern.«

Zu weiterer Unterhaltung blieb keine Zeit übrig. Im nächsten Augenblick hatte der Schnellsegler uns passiert und in kaum einer Stunde war er außer Sicht.

»Ich wünschte nur, das Schiff hätte uns ins Schlepptau genommen, Jeß,« seufzte Richard, als die Leute ihn wieder in die Kajüte getragen hatten. »Aber es schadet nichts. Es hat wenigstens deinen Brief, und in ein paar Tagen wird dein Vater wissen, daß die ›Aurora‹ sich auf dem Grunde des Meeres befindet, und daß seine hübsche Tochter auf der Heimreise ist und in zehn Wochen mehr vom Seeleben gesehen hat als viele Leute in viermal soviel Jahren: Meuterei, Feuer, offenes Boot, afrikanisches Fieber und ein gebrochenes Bein.«

Inzwischen hatten wir, mit Ausnahme eines Sturmes bei Kap Finisterre, fortwährend das schönste Segelwetter, und eines Tages eröffnete mir mein Mann, daß wir aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die englische Küste in Sicht bekommen würden. Dies war auch sonst noch ein denkwürdiger Tag für mich. Es ereignete sich etwas, das ich niemals erwartet hatte und das mir, hätte ich es vorher gewußt, viele Sorgen erspart haben würde. Seit ungefähr vierzehn Tagen hatte mein Mann nie mehr über Schmerzen am Bein geklagt. Ich bemerkte, daß er sich bewegte, ohne das Gesicht vor Schmerz zu verzerren, und nahm an, daß die Schmerzen nicht mehr so häufig seien wie zuerst. Heute, als wir zu Mittag gespeist hatten und ich ihm Waschwasser brachte, sagte er plötzlich: »Weißt du, was ich glaube, Jessie? Mein Bein ist wieder zusammengeheilt.«

»Wie kommst du darauf?« fragte ich.

»Nun, zunächst kann ich es bewegen, ohne daß es mir weh thut. Die letzten Tage habe ich Versuche damit angestellt. Zuerst fühlte ich dabei einen heftigen Schmerz. Ich sagte daher noch nichts, um nicht voreilige Hoffnungen bei dir zu erwecken. Jetzt aber kann ich es frei bewegen. Sieh!« Damit hob er das Bein und bewegte es mit großer Leichtigkeit.

»Fühlst du gar keine Schmerzen dabei?« fragte ich.

»Nicht im geringsten.«

»Nun, Richard, das scheint mir aber höchst wunderbar. Dann ist das Bein am Ende gar nicht gebrochen gewesen.«

Er schnitt ein Gesicht und erwiderte: »Das ist es ganz entschieden gewesen, so entzwei wie ein zerbrochener Pfeifenstiel. Aber ich will dir sagen, was ich glaube, Jeß: Du hast eine glückliche Hand, und entweder hat sich der Knochen durch einen wunderbaren Zufall selbst in die richtige Lage gebracht oder du hast mit deinen lieben Händen unbewußt das Bein ebenso kunstgerecht geschient wie der geschickteste Chirurg. Das ist meine Ansicht. Der Knochen ist wieder zusammengewachsen und zwar, wie es sein muß. Wäre das nicht der Fall, so könnte ich das Bein nicht hin und her bewegen, ohne vor Schmerz zu schreien, so wenig wie ich ein Ferkel in einen Sack stecken kann, ohne daß die Nachbarn es merken.«

Ich war außer mir vor Freude und fragte, was er nun zu thun gedenke.

»Aufstehen, natürlich!« rief er.

Das schien mir doch zu gewagt; dadurch konnte er die Sache womöglich noch schlimmer machen. Ich beschwor ihn also, vorläufig noch nicht an Aufstehen zu denken.

»Wenn ich Krücken hätte, könnte es mir doch nicht schaden,« meinte er.

»Nein,« sagte ich. »Dann brauchtest du mit dem einen Fuß ja nicht auftreten. Wo willst du aber Krücken herbekommen?«

»Der Zimmermann kann mir in einer Stunde ein Paar machen. Zwei Besenstiele mit Krücken für die Arme würden schon genügen.«

Ich ließ den Zimmermann kommen, der sogleich mit demselben Eifer an die Herstellung der Krücken ging, den er bei dem Bau der Sänfte gezeigt hatte. Noch vor dem Abendbrot brachte er die Krücken in die Kajüte und sie sahen, trotz des rohen Materials, aus, als wenn sie in einem Laden gekauft wären. Die Sänfte wurde an Deck getragen, Richard erhob sich auf einem Bein, die Krücken wurden ihm unter die Arme gesteckt, und nun fing er an herumzuhinken, und machte ein so glückliches Gesicht, daß mir die Thränen in die Augen traten. Er freute sich wie ein Kind über ein neues Spielzeug. Immer wieder sprach er seine Bewunderung aus und erklärte dem Zimmermann, der ein bescheidenes Gesicht zu machen versuchte, es wäre das beste Stück Arbeit, das er je gesehen habe.

Herr Short antwortete sehr höflich: »Die Mannschaft der ›Aurora‹ hat Ihnen das Leben sauer genug gemacht, Herr. Daher freut es mich um so mehr, daß ich es bin, der Ihnen wieder auf die Beine hilft.«

»Komm, Jeß,« sagte Richard, »wir wollen einen Rundgang an Deck antreten, damit die Leute ihren Schiffer auf seinen Spazierhölzern sehen.«

Es stand zwar nicht viel See, aber doch schlingerte die Brigg etwas und ich hielt mich daher dicht neben Richard, um ihn zu halten, wenn er mit den Krücken ausgleiten sollte. Die Leute saßen beim Abendbrote in ihrem Hause. Spence, der uns kommen sah, teilte es ihnen mit, und alle kamen an Deck und riefen: »Hurra!«

Daß sie das fertig bekamen, war mir unbegreiflich nach der Art und Weise, wie sie sich früher benommen hatten. Aber jetzt waren wir den heimischen Gewässern schon zu nahe, als daß ich mir über ihre Beweggründe den Kopf zerbrochen hätte. Während dieser Reise auf der Brigg hatte ich eine etwas bessere Meinung von der Mannschaft gewonnen. Die Leute hatten ihr Bestes gethan und sich so ›fix‹ gezeigt, wie man es von Kauffahrteimatrosen nur irgend verlangen kann. Wenn ich aber meinen hinkenden Mann ansah, so konnte ich doch ein Gefühl des Widerwillens gegen diese Männer nicht unterdrücken, die sich so unseemännisch und erbärmlich betragen hatten. Wie Richard darüber dachte, weiß ich nicht. Er sprach mit den Leuten in seinem gewöhnlichen, freundlichen Ton, hinkte an das Haus heran, sah hinein und fragte, ob die Segel jetzt, wo wir aus der heißen Zone heraus, auch warm genug wären, um als Betten zu dienen.

»Ja, wir liegen weich und warm genug,« bestätigte Tom Cutter. »So bequem wie in einer Hängematte ist's natürlich nicht; aber eine ordentliche Lage gutes Segeltuch ist wohl eine ebenso gute Matratze, als man in den meisten Volkslogis findet.«

In diesem Augenblick stampfte die Brigg etwas und Richard schwankte. Gleich sprang ein halbes Dutzend Leute herbei, um ihn zu halten. Er dankte ihnen und sagte, er hoffe, daß wir in den nächsten vierundzwanzig Stunden schon ein gutes Stück in den Kanal hinein sein würden. Dann nahm er meinen Arm und wir entfernten uns, um die Leute nicht länger beim Abendbrot zu stören.

Während wir nach achtern gingen, sprach er aus, was auch ich dachte: »Wären diese Burschen an Bord der ›Aurora‹ nur halb so willig gewesen wie jetzt, dann könnte das arme Schiff vielleicht noch schwimmen. Wir hätten die Bark wohl noch bis Sierra Leone gebracht, wenn wir sie dort auch hätten anbohren und sinken lassen, um das Feuer zu löschen. Aber ich bin noch ein junger Mann,« fügte er hinzu, »und lasse den Mut nicht sinken, weil ich ein Schiff verloren habe.«

»Wenn du überhaupt nicht wieder in See gingest, Richard, würde ich auch nicht gerade weinen.«

»Nicht wieder zur See gehen? Womit soll ich denn das Geld verdienen, um mein Frauchen anständig zu kleiden?«

»Darauf wird dir Vater schon antworten,« versetzte ich.

»Wie meinst du das, mein Schatz?«

»Weißt du nicht, daß er sagte, was ihm gehöre, gehöre auch mir, und was mein ist, ist doch auch dein. Wenn für ihn genug da ist, ist's auch für mich. Und wenn ich davon leben kann, kannst du's auch; das ist sicher.«

»Das ist ja eine merkwürdige Logik,« rief er lachend.

»Höre 'mal, Richard,« fuhr ich fort und sprach damit aus, was mich schon seit einigen Tagen beschäftigt hatte. »Diese Reise ist genug für mich. Ich werde die See und die Seeleute stets lieben, aber nur noch aus der Ferne, von einem Molenkopf oder der Spitze einer Klippe aus. Von der hohen See habe ich genug. Aber du mußt auch zu Hause bleiben. Du bist und bleibst ein Seemann. Deshalb brauchst du aber doch nicht wieder zur See zu gehen.«

Er lächelte, sah aber gleich wieder ernst aus. Schließlich rief er: »Na, darüber können wir reden, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Als ich abends halb zehn Uhr wieder an Deck kam, war der schöne, steife Wind, der uns bis an den Anfang des Kanals getrieben hatte, ganz abgeflaut. Es herrschte völlige Stille an Deck, die durch die Schatten der Nacht mit den unzähligen, strahlenlosen Sternen noch mehr hervorgehoben wurde.

Etwas unbeschreiblich Feierliches lag in der Meeresstille. Das leise klagende Geräusch des längsseit plätschernden Wassers, das Flattern der leichten Segel hoch oben, das waren alles Töne, die die Stille nicht unterbrachen. Im Gegenteil, sie erhöhten sie noch. Gerade durch den Gegensatz wird das tiefe Schweigen der Meeresstille noch fühlbarer.

Wenn ich an den hohen Masten empor und über das Meer blickte, das wie ein zweiter Himmel auf seiner spiegelglatten Fläche die Gestirne zurückstrahlte, so spürte ich eine solche Ruhe, solchen Frieden, wie ich es in dem Maße am Lande nie empfunden habe. Nur in einer sternklaren, stillen Nacht auf See, wo der Blick unbehindert an die fernsten Grenzen des Gesichtskreises dringt, nur da erkennt man die Gegenwart Gottes und empfindet jene Seelenruhe, die eben nur möglich, wenn das Land mit seinen Sorgen und Kämpfen weit entfernt ist.

Plötzlich schlugen die Royals back und rechts voraus wurde das Wasser dunkler. Scharf abgegrenzt und sich schnell verbreiternd kam der Wind heran wie ein Rauchgewölk.

»Backbord Großbrassen!« rief Snow.

Das Klappern von Tritten ward vernehmbar und wie Schatten kamen die Leute längs Deck. Tauwerk wurde dröhnend niedergeworfen. Die Stille war gebrochen. Ein heiserer Gesang wurde angestimmt, Scheiben quiekten in den Blöcken, Ketten rasselten und die Schwanenhälse an den Raaen kreischten, als die Unterraaen herumgeholt wurden.

Alle Segel standen nun wieder voll. Schon begann die Brigg das Wasser zu durchschneiden, und ein dünnes Kielwasser verlor sich in der Dunkelheit, während die Matrosen den Großhals zu Bord holten und ihr Gesang durch die stille Nacht schallte:

Nach Hause segeln wir jetzt hin
Mit frohem Mut und heiterm Sinn.


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