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Fünfzehntes Kapitel.
In den Downs

Bis Nord-Foreland bekamen wir kein Land in Sicht. Ein starker, südlicher Wind hatte unsere Hoffnung, ein gutes Stück vorwärts zu kommen, zu Schanden gemacht, indem er uns nach Osten drängte. So bekamen wir erst am vierten Morgen nach der Abreise die Küste von Margate zu sehen.

Der Wind wehte milde wie im Frühling. Ich hatte den Kanal schon früher durchsegelt, als ich Vater und Mutter auf einer Reise nach Westindien begleitete. Damals hatte mein Vater sein Schiff östlich von Goodwin-Sands gehalten und war so weit von der englischen Küste entfernt geblieben, daß sie nur wie eine über dem Wasser schwebende Wolke erschien. Ebenso hatten wir die Straße von Dower ziemlich in der Mitte passiert, so daß wir weder an Backbord die Felsen von Calais noch an Steuerbord die von Dower genau erkennen konnten. Diesmal hatten wir, da mein Mann die nordwestlich von den Goodwin-Sands führende Fahrstraße einschlug, das Land dicht neben uns. Als ich nach dem Frühstück an Deck kam, fühlte ich mich in einen vorzeitigen Sommer versetzt. Das blaue Wasser, das nur auf flachen Stellen von andersfarbigen Flecken bedeckt war, bewegte sich in sanften Falten wie ein leise geschütteltes Stück Seidenzeug, während ein paar Meilen vor uns die schneeweißen Felsen von Nord-Foreland emporragten, auf deren Gipfel sich der gelbe Leuchtturm scharf gegen den Azur des nordischen Himmels abzeichnete.

Mein Mann stand, über die Reeling gelehnt, an meiner Seite. Die Leute waren an den verschiedensten Orten mit irgend einer jener unzähligen Arbeiten beschäftigt, die es auf einem Schiffe auf See zu thun giebt. Zwei saßen im Vormars. Ich konnte ihre Stimmen deutlich hören, wenn sie mit einander sprachen oder jemand an Deck anriefen. Ein anderer saß außerhalb des Vorroyalstages auf der Nock des Klüverbaums; ein dritter nähte Schanfühlungsmatten an die Großwanten an u. s. w. Heron, der die Wache hatte, ging ruhig am Fallreep auf und ab und warf zuweilen einen Blick auf die Leute. Ab und zu kam er nach achtern und sah auf den Kompaß. Von der Küste und ihren Schönheiten nahm er offenbar keine Notiz.

Einige wenige kleine Wellen strömten vom Vordersteven her, zogen wie kleine Blasen langsam an der Schiffsseite entlang und trieben unter dem Heck in das kurze, ölige Kielwasser hinein. Zwischen uns und den Goodwin-Sands, deren lange, gelbe, von einem dünnen Brandungsstreifen umrahmte Linie man deutlich diesseits des Horizontes erkennen konnte, lagen ein paar schwer beladene Kohlenfahrer und warfen ihre Schatten über die See. Jedesmal wenn sie überholten, ertönte es aus ihren dunkeln Segeln wie eine Musketensalve. In Pistolenschußweite von uns trieb ein kleines, leeres Faß, über dem drei Seemöven schwebten. Mit unbeschreiblicher Grazie hingen sie mit ausgespannten, regungslosen Flügeln dicht über der Wasserfläche, in der sich ihre weißen Leiber wie Quecksilberflocken wiederspiegelten.

»Ich fürchte, wir werden ankern müssen,« bemerkte Richard. »Dort im Süden wird es diesig, worauf wahrscheinlich eine Windstille folgt. Hoffentlich wird uns dieser Luftzug noch bis in die Downs bringen.«

»Sind die Downs in Sicht?« fragte ich.

Er deutete nach rechts. »Siehst du jene schwarzen Punkte dort? Wenn wir näher heran gekommen sind, wirst du sehen, daß es Schiffe sind. Die Gewässer, in denen sie vor Anker liegen, sind die Downs.«

»Ich kann mir kaum denken,« meinte ich, »daß es irgendwo in der Welt eine schönere Küstenlandschaft geben kann, als diese.«

»Warte nur ab, bist du erst einmal die Bucht von Sydney gesehen hast,« erwiderte er und betrachtete die weißen Felsen ein wenig verächtlich. »Wenn man in einen silbernen Wasserspiegel grüne Tafelgruppen und rings herum das in den üppigsten Südseegewächsen prangende Land, wenn man die Marmorvillen in jenen Zaubergärten und unter dem tiefblauen Himmel Schwärme von Vögeln in ihrem reichen, bunten Gefieder gesehen hat, – dann kann man sich für diese Kreidefelsen nicht mehr begeistern. Aber auf diese Art kommen wir nicht vorwärts, Jeß. Das geht durchaus nicht.«

Damit fing er an, nach Wind zu pfeifen und ging hinüber zu Herrn Heron.

Vermutlich wollte keiner von beiden den Anker fallen lassen. Gewöhnlich haben die Seeleute einen großen Widerwillen dagegen, den Anker wieder fallen zu lassen, nachdem er gekattet und gefischt und die Reise angetreten ist. Ich hoffte, daß die Windstille uns zwingen würde, zu ankern, denn ich wollte soviel wie möglich sehen. Auf dem Atlantischen Ozean würden wir ja lange Zeit kein Land mehr in Sicht bekommen, wenn wir nicht vielleicht einen flüchtigen Blick auf Madeira oder die kanarischen Inseln erhaschten. Dagegen wußte ich, daß den Downs gegenüber die Stadt Deal liegt, und nahm mir vor, Richard zu bewegen, wenn wir ankerten, mit mir an Land zu gehen.

Seine Unterredung mit Herrn Heron dauerte nicht lange. Ich fragte nicht und kann daher auch nicht sagen, ob mein Mann schon damals den Steuermann nicht leiden konnte oder ihm als Seemann nicht vertraute. Doch hatte ich bemerkt, daß sie nur selten mit einander sprachen. Einen ungeselligeren Menschen als Heron konnte man sich kaum vorstellen. Wenn er mit uns zusammen Mittag aß, saß er da, ohne ein Wort zu sprechen, wenn er nicht gerade direkt angeredet wurde. Wenn ich ihn ansprach oder ihm guten Morgen wünschte, war seine Antwort und sein ganzes Wesen so kurz angebunden, als wollte er mir deutlich machen, daß er weder Höflichkeiten verlange, noch zu erwidern beabsichtige, sondern vorzöge, in Ruhe gelassen zu werden.

Der schwache Lufthauch, anders konnte man es nicht nennen, hielt noch immer an und die Bark kroch so langsam vorwärts, daß sie kaum von der Stelle zu kommen schien. An der Neigung einer Boje, die wir passierten, konnte ich sehen, daß wir die Flutströmung mit uns hatten. Um zwölf Uhr befanden wir uns querab von Ramsgate und durch das Fernrohr konnte ich deutlich die auf dem Stege oder auf den Felsen herumspazierenden Menschen erkennen.

Aus meinen Träumereien wurde ich durch Richards Mitteilung erweckt, daß das Mittagessen fertig sei. Mit Ungeduld erwartete ich die Beendigung der Mahlzeit und war froh, wieder an Deck zu kommen.

Die Sonne stand schon weit im Westen, und es war kaum noch ein Lüftchen zu spüren, als wir uns den Downs näherten. Die See lag da wie geschmolzenes Glas, leise sich hebend und senkend. In der Ferne kam das flache Land um Sandwich herum in Sicht. Es schien kaum mit rechten Dingen zuzugehen, daß die Bark noch immer weiter kroch. Ohne Zweifel hatten wir der Flut viel zu verdanken und es machte einen merkwürdigen Eindruck, daß das Schiff mit den schlaff herabhängenden Segeln in der ölig glatten Wasserfläche dennoch etwas Fahrt voraus machte, wie ich an den vorübertreibenden Seetangbüscheln, Quallen und grünbemoosten Holzstückchen wahrnehmen konnte. Da wir anfangs, als noch etwas Wind wehte, die Ebbe gegen uns gehabt, und jetzt zwar die Flut mit uns war, der Wind aber sich vollständig gelegt hatte, hatten wir fast den ganzen Tag gebraucht, um die Strecke von Nord-Foreland bis hierher, eine Entfernung von etwa zehn Seemeilen, zurück zu legen.

»Willst du Anker fallen lassen?« fragte ich Richard.

»Ja,« antwortete er, »wir müssen ›aufbringen‹. Es ist jammerschade. Ich kann nicht zur Ruhe kommen, bis wir die Scillies passiert haben.«

»Wieso schade, Richard? Das habe ich mir gerade gewünscht. Ich würde so gern mit dir an Land gehen und mir Deal ansehen.«

»Es wird ja gleich dunkel sein, Jeß; im Dunkeln an Land zu gehen, hat doch keinen Zweck.«

»Dann nimmst du mich morgen früh aber mit an Land,« sagte ich.

»Ganz gewiß nicht, wenn vor Tagesanbruch Wind kommen sollte.«

»Dann will ich nur hoffen, daß es die ganze Nacht über still bleibt,« erklärte ich. Die Stille und schöne Farbe der spiegelglatten See erinnerte mich lebhaft an einen schönen Hochsommerabend und doch rief mir jetzt, wo die Sonne niedrig stand, das Aussehn der Luft den Winter wieder ins Gedächtnis zurück.

Mein Mann sagte etwas zu dem Steuermann, worauf dieser sofort kommandierte: »Alle Mann klar zum Segelbergen! Royals und Bramsegel aufgeien! Hierher nach achtern ein paar Mann, das Großsegel aufzuholen!«

Im Augenblick war alles in Bewegung; Taue wurden an Deck geworfen, in die Höhe steigende Blöcke von losgeworfenen Fallen quiekten wie die Ratten. Dazwischen tönte das Aussingen der Matrosen und das tiefe, rasselnde Geräusch der an den Stengen herabrauschenden Raaen. »Klar beim Anker« – und nach einer Pause: »Fall.« Auf das augenblickliche Schweigen folgte das laute Geräusch des ins Wasser fallenden Ankers und der Donner der zur Klüse hinausrasselnden Kette. Dann gings wieder an die Segel. Stagsegel und Klüverfallen wurden losgeworfen, der Besan eingegeit und Aussingen vornen und achtern. Inzwischen schwajte die Bark langsam mit der Flut und nun hatten wir die dunkle Küste und die Lichter von Deal an unserer linken Seite.

In wenigen Minuten lag unser Fahrzeug, von der Kette gehalten, leise schaukelnd auf der Dünung, die mit dem gebrochenen Wiederschein der Sterne darauf, aus der Dunkelheit von Südosten her heranrollte.

Ich war froh, daß wir vor Anker lagen. Hier in den Downs, dem berühmtesten Gewässer der Welt, zu liegen, der historischen Stadt Deal gegenüber und die Aussicht zu haben, morgen früh an Land zu gehn; das machte die Reise doch lohnend. Am besten hätte es mir gefallen, jeden Morgen vor einer andern Stadt zu ankern, bis hinunter nach Landsend und dann wieder zurück in derselben Weise an der französischen Küste entlang. Doch unsere Ladung hatte Eile und als mein Mann an Deck auf und ab ging und ringsum über die See schaute, bemerkte ich wohl seine Ungeduld über diesen unfreiwilligen Aufenthalt.

Die Segel waren aufgerollt und die hellbrennende Ankerlaterne wurde am Fockstag aufgehißt. Nun wurde die Ankerwache aufgesetzt und die Bark lag ruhig da. Schweigen herrschte auf Deck, durch die Wanten glitzerten die Sterne und die uns zunächst liegenden Schiffe schienen gleich Schatten über den dunkeln Gewässern zu schweben.

Wir konnten die auf dem Kiesstrand von Deal auflaufende Brandung hören, sowie das schwache Geräusch eines an Land spielenden Trommler- und Pfeiferkorps. Einmal hörte ich eine Uhr schlagen. Das waren die einzigen vom Land herüberdringenden Töne. Mehr Leben schien auf dem Wasser zu herrschen, wo die Schiffe vor Anker lagen. Zuerst hörte man hier und dort die Töne einer Harmonika oder Geige, dann auch den Gesang einer kräftigen Männerstimme, in welchen ab und zu ein Chor einfiel.

Die Nacht war mondlos, doch funkelten die Sterne erster Größe lebhaft in Strahlen von blau-grünem oder weißem Feuer. Ein andauernder Sternschnuppenfall machte den Eindruck, als ob eine mächtige Hand Silberstaub über den dunkeln Himmel ausstreute.

»Ist irgend welche Aussicht, daß wir schon vor Tagesanbruch Wind bekommen?« fragte ich.

»Das möchte ich auch gern wissen,« sagte mein Mann, »Februar ist zwar gerade nicht ein Monat, wo dergleichen Windstillen häufig sind.«

»Nun, je mehr ich zu sehn bekomme, desto mehr kann ich dem Vater erzählen. Es ist doch schon etwas, in den Downs vor Anker gelegen zu haben.«

»Sogar sehr viel, was den Aufenthalt betrifft,« rief er aus. »Wer ist das dort am Steuerbordsfallreep?«

»Es scheint der Steuermann zu sein.«

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er mit unterdrückter Stimme: »Ich wünschte, ich hätte einen lebendigeren Steuermann. Was ist dieser Mensch eigentlich? Vielleicht ein Dichter; er scheint stets zu träumen.«

»Entweder kann er dir den Verweis nicht vergessen oder er ist von Natur mürrisch und kann ebenso wenig für seinen Charakter, wie ich für meine Haarfarbe.«

»Beides vielleicht,« antwortete er. »Aber etwas gefällt mir nicht. Er und der Zimmermann scheinen auf sehr gutem Fuß mit einander zu stehn. Darin würde ich nun nichts finden, wenn die Beziehungen zwischen ihm und mir so wären, wie sie sein müßten und auch sein würden, wenn er ein tüchtiger, umgänglicher Mann wäre. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn der Steuermann sich seine Freunde unter den Leuten sucht, wenn auch der betreffende Freund Offiziersstelle vertritt.«

»Wie heißt eigentlich der Zimmermann, Richard?«

»Thomas Short.«

»Ein guter Name für seine kurze Figur. In Betreff des Benehmens scheinen die beiden sich nichts vorzuwerfen zu haben. Der Zimmermann sieht mehr aus wie ein Schiffsgallion, als wie ein menschliches Wesen. Ist er ein guter Seemann?«

»O, er kennt die Tauenden,« antwortete mein Mann lachend. »Ja, Jessie, junge Leute haben es immer furchtbar eilig, Schiffsführer zu werden, aber die Sorgen und die schwere Verantwortlichkeit wegen der seiner Obhut anvertrauten Menschenleben und wertvollen Ladung, – die machen sie sich nicht klar. Jeder einzige Faden der auf dem Wasser zu durchlaufenden Entfernung kommt mir vor, wie das Spiel ›Kopf oder Schrift‹, in welchem ein Geldstück hingeworfen wird. Fällt ›Kopf‹, dann gut. Gewonnen! Fällt Schrift, verloren!«

Er sprach mit einer gewissen Niedergeschlagenheit, die vielleicht zum Teil durch den Aufenthalt, der ihn ärgerte, hervorgerufen wurde. Sehr wohl war er sich der schweren Verpflichtungen seiner Stellung bewußt.

Von Landbewohnern können nur die, die viel als Passagiere zur See gereist sind, sich von dem Leben eines Schiffskapitäns eine Vorstellung machen. Sie werden sich erinnern, wie sich ihre Gedanken, wenn sie in ihren Betten lagen und dem Brausen der See lauschten, auf den Mann richteten, in dessen Händen ihr Leben lag, der in durchnäßten Kleidern draußen auf dem finstern, sturmgepeitschten Deck stand und mit wachsamem Auge auf jeden Zwischenfall gefaßt, die stürmische Nacht durchspähte und pflichtgetreu und schlaflos sein Schiff beobachtete. Sie werden sich erinnern, wie sie den Mann bewundert und geschätzt haben, wenn nach einer langen Reise die ersehnte, sonnenbeschienene Küste auftauchte und die alte oder neue Heimat in Sicht kam und sie allen Gefahren der lauernden Tiefe entgangen waren. Doch auch solche erfahrene Reisende wissen noch nicht alles. Sie folgen dem Führer des Schiffes nicht in seine Kabine und sehen ihn nicht über seinen Karten und Berechnungen grübeln. Auch von den hundert Sorgen wissen sie nichts, die dem Kapitän aus dem Wetter, der Länge der Reise, dem Betragen der Mannschaft und dem Vertrauen auf die Steuerleute erwachsen.

Mein Mann hatte eine heitere Natur und wurde bald wieder unbekümmert und leichten Herzens, so daß er, als wir hinunter stiegen, – er, um seine allabendliche Ration von einem Glase Grog zu nehmen, ich um einen Zwieback zu knabbern – sich wieder in einer so vorzüglichen Stimmung befand, als ob wir im Atlantischen Ozean mit den durch unsere Wanten brausenden Passatwinden unaufhaltsam vorwärts stürmten.


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