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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Die Fieber-Brigg

Das Deck war glatt und ziemlich weiß, aber überall mit losgeworfenen Enden des laufenden Guts bedeckt. Ein ziemlich großes Deckhaus stand hinter dem Fockmast und ein ähnliches, noch etwas längeres, offenbar die Kajüte, achtern. Dieses verdeckte von da aus, wo wir an Bord gestiegen waren, das dahinter angebrachte Steuerrad. Ein schmaler Gang führte auf beiden Seiten des Hauses nach achtern. Auch hier war überall das aufgeschossene Tauwerk von den Coffeynägeln abgenommen und an Deck geworfen. Alle Boote befanden sich an ihren bestimmten Plätzen. Das große Boot lag mitschiffs, gut gezurrt und versichert, und zwei gut aussehende Boote, scharf an beiden Enden nach Art der Walfischfängerboote, hingen in den Davits. Hinter dem vordersten Deckhause stand die Kombüse; aber kein Rauch entstieg dem kleinen Schornstein. Wir standen und lauschten. Kein Ton, weder von Schritten noch von menschlichen Stimmen war hörbar – nichts als das sanfte Geräusch des durch die Wanten fegenden Windes.

»Seltsam!« murmelte mein Mann fast flüsternd. Die überall auf dem Schiffe herrschende Stille schien auch ihn zu veranlassen, seine Stimme zu dämpfen. Damit trat er an das achtere Deckhaus heran und spähte durch die kleinen Fenster.

Das Innere war sehr einfach. Auf der linken Seite sahen wir einen kleinen Tisch und ein Sopha und gegenüber ein paar hölzerne Stühle. Rechts waren, durch eine Schott von diesem Raum getrennt, drei kleine Schlafkammern. Jede Kammer war mit einer ungefähr mannshohen Thüre versehen. Kein lebendes Wesen oder irgend ein Zeichen, das auf die Nähe eines solchen hätte hindeuten können, war sichtbar.

Mein Mann legte seine Hand auf die Thürklinke, als ob er eintreten wollte; dann besann er sich und trat zurück. Ich folgte ihm. Staunen und eine Art von Grauen hatte sich meiner bei dieser unheimlichen Stille bemächtigt, und ich hatte alle Gefahren, denen wir entronnen, darüber völlig vergessen.

»Das ist im höchsten Grade rätselhaft und geheimnisvoll,« sagte Richard immer noch im Flüsterton. »St! Hörst du nichts?«

Ich lauschte und antwortete: »Nichts als das Flappen der Segel.«

»Ich werde vorn mal nachsehen,« sagte er; »bleibe, wo du bist, Jessie.«

»Nein, nein,« rief ich aus, »laß mich mit dir gehen.« Diese Kajüte erregte meine Angst bedeutend mehr, als der Aufenthalt in dem kleinen Boot es gethan hatte.

Er nahm mich bei der Hand, um mir Mut einzuflößen und mir auch über das Gewirr von Tauwerk an Deck hinwegzuhelfen; wir gingen bis an die Thür des vordersten Deckhauses. Sie war geschlossen. Mein Mann öffnete sie, steckte den Kopf hinein und sprang sofort wieder zurück, indem er mit den Anzeichen des höchsten Ekels auf Deck spuckte.

»Herr des Himmels!« rief er aus. »Welch furchtbare Luft! Das ist noch schlimmer als die Dämpfe auf der ›Aurora‹«

Kaum hatte er dies gesagt, als auch ich einen lauten Schrei ausstieß und schaudernd zurückwich. Aus dem vorderen Ende des Deckhauses war die hagere, verstörte Gestalt eines Mannes herausgetreten. Ob er jung oder alt sei, konnte man nicht erkennen. Das Gesicht war mit einer förmlichen Schmutzkruste überzogen. Langes, rotes Haar hing wild und verworren um sein Gesicht, aus dem die blutunterlaufenen Augen hervortraten. Er trug ein rotes Hemd und Segeltuch-Beinkleider, die bis über die Knie aufgerollt waren. Arme und Brust waren bloß, und die Arme sahen wie das Gesicht schwarz und schmutzig aus, wie bei einem Kohlenbergwerksarbeiter. Nach der Art, wie er uns anstarrte, zu urteilen, mußte er wahnsinnig sein, und ich schmiegte mich eng an Richard an. Unser Anblick schien geradezu versteinernd auf ihn zu wirken. Sein Unterkiefer sank herab; dadurch wurde seine untere Zahnreihe sichtbar und erhöhte noch das Furchtbare seiner Erscheinung. Seine Arme hingen schlaff, doch mit weit auseinandergespreizten Fingern herunter, als ob er sie im nächsten Augenblick erheben wollte, um uns abzuwehren.

»Sind Sie einer von der Mannschaft?« rief Richard, indem er vor mich hintrat. Er war ebenso erstaunt über diese außergewöhnliche und wirklich schrecklich aussehende Erscheinung wie ich selber, wenn er auch allerdings keine Furcht davor hatte.

Das unglückliche Wesen starrte uns noch immer unbeweglich an. Ich flüsterte Richard zu: »Er versteht vielleicht kein Englisch.« Als aber mein Mann ihn zum zweitenmale in unserer Sprache anredete, antwortete er mit rasselnder, seltsam hohl klingender Stimme, aber vollkommen verständlich:

»Ja. Aber wer sind Sie? Wo kommen Sie her?«

»Wir sind Schiffbrüchige,« erwiderte Richard. »Wir entdeckten dieses Fahrzeug bei Tagesanbruch und hielten darauf zu. Wo sind die anderen Leute von der Mannschaft?«

»Tot,« war die Antwort.

»Ha!« rief Richard und wich einen Schritt zurück, indem er einen flüchtigen Blick auf das Deckhaus warf. »Woher kommt Ihr denn?«

»Von Sherborough,« antwortete der Arme. Er sprach, als ob er im Traum wäre.

»Sherborough, dicht bei Sierra Leone?«

»Ja.«

»Was habt ihr geladen?«

»Palmkerne.«

»Ist niemand weiter übrig als Sie?«

»Niemand.« Dann schlug der Unglückliche, als ob er aus dem Traum erwache, beide Hände vors Gesicht und rang sie darauf mit jammervoller Gebärde über seinem Kopfe, indem er rief: »Alle außer mir sind tot, am Fieber gestorben. Herr! O, mein Gott, was habe ich für eine schreckliche Zeit durchgemacht, so ganz allein! Sind Sie gekommen, Herr, mich zu erlösen?« Damit rannte er auf uns zu und blieb auf Armeslänge vor Richard stehen, indem er uns mit einem jammervoll flehenden Ausdruck anblickte.

»Ja,« sagte Richard. »Mit Gottes Hilfe, Mann, wollen wir Sie retten und uns selber auch. Ist irgend etwas zu essen an Bord?«

»Massenhaft zu essen, Herr,« rief der Aermste, indem er weinte wie ein kleines Kind.

»Nun, wenn das der Fall ist,« meinte Richard, »haben Sie sich doch wohl nichts abgehen lassen und sind so ziemlich bei Kräften?«

»O, ich kann arbeiten,« antwortete der Mann. »Ich werde alles thun, was Sie mir auftragen, und Gott danken, daß er Sie an Bord geschickt hat.«

»Ihre Geschichte können Sie mir später erzählen,« meinte Richard. »Jetzt, so lange das Wetter schön ist, müssen wir ans Werk gehen und die Brigg aufklaren, damit sie wieder ein etwas schiffsmäßiges Aussehen bekommt. Zunächst,« dabei zeigte er auf das Deckhaus, wobei ein gewisses Grauen sich in seinem Gesichte zeigte, »wieviel von den armen Burschen liegen noch dort?«

Der Mann schien sich zu besinnen, zählte an den Fingern und antwortete: »Drei.«

»Sind sie alle tot?«

»Ja, schon seit zwei Tagen.«

»Jessie,« sagte mein Mann, »geh' so lange nach achtern aus dem Wege, bis wir die Leichen über Bord befördert haben. Wir müssen das sofort thun, wenn uns unser Leben lieb ist. Die Luft in jenem Deckhause birgt den Stoff zu tausend Fiebern in sich.«

Ich gehorchte zitternd und befand mich erklärlicherweise in einer wahren Todesangst, daß er jenes Haus betreten sollte, vor dem er vorhin mit so lebhaften Zeichen des Abscheus und Ekels zurückgewichen war. Aber es galt, wie er ganz richtig sagte, unser Leben, wenn die Leichen nicht entfernt und der Ort darauf desinfiziert wurde.

Durch den schmalen Gang an der Steuerbordseite der Kajüte gelangte ich bis an das Steuerrad und hatte nun die Kajüte zwischen mir und dem vorderen Deckhause, so daß ich nichts von den Leichen sehen konnte.

In dem Moment jedoch, wo ich das Steuerrad erblickte, zuckte ich zusammen wie vom Herzschlag getroffen und fühlte, wie sich mein Haupthaar emporsträubte. Dort, mit dem Rücken gegen das Rad gelehnt, saß ein toter Mann. Das Kinn war auf die Brust hinabgesunken; seine Hände lagen mit nach oben gekrümmten Fingern auf dem Deck und seine Beine hatte er lang von sich gestreckt.

Erst nach einer Pause gelang es mir, soviel von meiner Fassung wieder zu erlangen, um zu schreien. Ich rief laut nach Richard. Er kam sofort, indem er sich in seiner gräßlichen Beschäftigung unterbrach.

»Was giebt's?« rief er. Dann erblickte er den Toten und rief nach dem Burschen auf dem Großdeck. Auch dieser erschien sofort.

»Wer ist das?« rief mein Mann und zeigte auf die Leiche.

»Der Kapitän, Herr,« antwortete der Mann. »Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß er hier sei. Er war der letzte, aber er machte sich nichts aus dem Fieber und hielt noch immer das Rad, bis ich nach achtern kam und sah, daß er tot an Deck lag. Ich nahm ihn auf und setzte ihn gegen das Rad. Dann ging ich nach vorne und setzte mich hin und wartete darauf, daß das Fieber auch mit mir ein Ende machen sollte.«

»Helfen Sie mir ihn nach vorne tragen,« sagte Richard. Sie ergriffen den Leichnam und trugen ihn fort, und ein paar Minuten später hörte ich das Klatschen des Wassers, als er über Bord geworfen wurde.

Ich setzte mich auf die kleine, gitterförmige Plattform hinter dem Rade, noch ganz erschöpft von dem furchtbaren Schrecken.

Bald vertrieb mich jedoch die Sonnenhitze von dort, und ich stellte mich in den vom Besan auf Deck geworfenen Schatten.

Nach einiger Zeit, als ich kein Klatschen des Wassers mehr vernahm, ging ich etwas weiter nach vorne und sah eine Rauchsäule aus dem Deckhause aufsteigen. Ich rief Richard; er kam aus dem Hause und teilte mir mit, daß sie damit beschäftigt wären, Feuer anzumachen, um einen Kessel mit Pech zum Sieden zu bringen, damit die aufsteigenden Dämpfe das Haus, das offenbar als Logis für die Mannschaft diente, desinfizierten.

Er war mit Schweiß überströmt, und der aus Schauder und Grauen gemischte Ausdruck war noch nicht ganz von seinem Gesichte verschwunden, wie es nach der eben vollbrachten Arbeit ja auch leicht erklärlich war. Doch auch bei ihm wie bei mir überwog das Gefühl der Dankbarkeit gegen Gott für unsere Erlösung.

Er trat wieder in das Deckhaus und blieb darin, bis er mit dem anderen einen kleinen Kessel mit Pech auf den Herd gesetzt hatte. Darauf kamen sie beide an Deck und verschlossen die Thür hinter sich, damit nichts von dem Dampfe des kochenden Pechs entweichen könnte.

Jetzt betrachtete ich mir auch den einzigen, elenden Ueberlebenden der Schiffsmannschaft etwas genauer und entdeckte, daß er zwar ein sehr rauh aussehender Jüngling sei, aber doch kaum mehr als achtzehn Jahre alt sein könne. Als wir auf die Kajüte zuschritten, fragte ihn Richard nach dem Namen der Brigg. Er antwortete, daß es die ›Bolama‹ sei, die nach Sunderland zu Haus gehöre und auch nach jenem Hafen bestimmt wäre.

»Und wie heißen Sie?« fragte Richard.

»Joseph Spence,« versetzte er.

»Als was haben Sie gemustert?«

»Als Junge, Herr.«

»Und wie kommt es, daß sich das Deck in diesem Zustande befindet?« fragte Richard, und zeigte auf das unordentlich umherliegende Tauwerk.

»Na,« meinte Spence, »ehe der Kapitän krank wurde, steuerte er, und alle Mann außer mir waren tot oder lagen fieberkrank. Da drehte sich der Wind, und der Kapitän ruft mir zu, hier was loszuwerfen und da was wegzufieren und dort einen Poll zu versuchen und so weiter. Ich warf alles an Deck, wo so schon Unordnung genug war, und nachher habe ich's nicht mehr der Mühe für wert gehalten, wieder aufzuklaren.«

»Nun,« sagte Richard, »wir müssen das sogleich besorgen. Die Brigg sieht ja aus, als ob sie in einem Gefecht gewesen wäre.«

Er öffnete die Kajütenthüre und steckte den Kopf hinein. »Hier kann ich nichts Verdächtiges riechen,« meinte er. »Wie viel Steuerleute waren an Bord?«

»Einer, Herr,« antwortete Spence.

»Wo ist denn der gestorben?«

»In seiner Kammer,« erklärte Spence indem, er auf die Kajüte deutete. »Er war der erste.«

»Wenn wir diese Kajüte benutzen wollen, Jeß,« meinte Richard, »müssen wir sie zunächst ausräuchern. Du kannst an Deck bleiben und Ausguck halten. Dort achtern steht ja ein kleiner eiserner Ofen. Spence, mein Junge, laufen Sie mal nach vorne und bringen mir, was Sie dort an Feuerungsmaterial finden können und ein Stück Segeltuch, um den Schornstein zu verstopfen. Kohlenrauch ist zwar schmutzig, aber gut gegen das Fieber. Wenn kein anderer Pechkessel da ist, nehmen wir einen Tiegel oder eine Kasserolle aus der Kombüse.«

Im Augenblick war der Jüngling, mit allem Notwendigen versehen, wieder da; offenbar befand sich ein kleiner Kohlenvorrat in der Kombüse. Innerhalb einer Viertelstunde hatten sie nicht nur das Feuer in Gang gesetzt, sondern auch Matratzen, wollene Decken und sonstiges Bettzeug aus den verschiedenen Kammern an Deck ausgebreitet und das Kojenzeug aus der Steuermannskammer über Bord geworfen.

Nachdem mein Mann die Kajütenthür geschlossen hatte, stand er da und blickte sich aufmerksam und genau rings um. Er betrachtete die Einrichtung und Takelung der Brigg und überlegte offenbar, was nun zu thun sei. Sein Blick fiel auf das dicht vor der Kajütenthür stehende, an einigen Ringbolzen festgezurrte Fleischfaß. Er öffnete den Deckel und rief: »Hier ist ein guter Vorrat von Rindfleisch, Jeß. Spence, wissen Sie, ob etwa schon gekochter Proviant vorhanden?«

»Es muß noch genug in der Kajüte sein, Herr,« antwortete Spence.

Richard ging in die Kajüte und erschien gleich darauf mit einer Porzellanschüssel, auf der die Ueberreste eines Stückes Schweinepökelfleisch lagen.

»Das ist alles, was ich in dem Rauch entdecken konnte,« sagte er. Er pustete und nieste, und seine Augen standen voller Wasser. »Spence, sehen Sie, ob Sie in der Kombüse nicht einen Teller und ein oder zwei Messer finden können.«

Der junge Bursche rannte nach vorne, ganz Eifer und Dienstfertigkeit, und kam mit einem Paar zinnerner Teller, einigen Messern, einem Senfgefäß uns einer zur Hälfte mit Essig gefüllten Flasche zurück. Er setzte alles dieses an Deck und sah äußerst vergnügt aus, etwas für uns thun zu können. Auf Richards Geheiß sprang er sodann in das längsseit liegende Boot und brachte unseren Brotsack an Deck.

Wir hatten jetzt alles zu einer Mahlzeit Erforderliche und begaben uns in den Backbordgang unter den Schatten des Großsegels. Dort häuften wir das Tauwerk zu Sitzen zusammen und begannen unser Mahl. Das Schweinefleisch war ziemlich gut und schmeckte mit tüchtig Essig und Senf ganz ausgezeichnet. Sowohl Richard als ich waren mehr erschöpft als hungrig; aber doch that uns dieses Frühstück, nachdem wir im Boot nur von Zwieback gelebt hatten, sehr wohl, namentlich aber auch die Ruhe und die bequeme Stellung, in der wir es verzehren konnten. Spence aß mit großem Appetit; der arme Bursche schien halb verhungert zu sein.

»Nun, mein Junge,« meinte Richard, »Sie haben wohl großen Hunger? Wie kommt das? Sie erzählten doch, es wäre so viel zu essen hier an Bord?«

»Ich hatte auch genug, Herr,« erwiderte er, »so lange alle Mann wohlauf waren. Als aber auch der Kapitän starb und ich nun der einzige Mann an Bord war, da dachte ich nicht mehr ans Essen. Ich ging nach vorne und setzte mich zwischen dem Fockmast und dem Hause nieder und erwartete den Tod.«

»Das war nicht britische Seemannsart, Spence,« meinte Richard. »Sie sollten ein Notsignal gehißt und einen scharfen Ausguck gehalten haben. Wieviel Mann gehörten zu eurer Besatzung?«

»Da war der Kapitän und Steuermann, zwei; vier Matrosen, sechs; zwei Jungens, acht, und der Koch, neun.«

»Sie sagen, der Steuermann wurde zuerst krank und starb?«

»Ja,« antwortete der arme Bursche, indem er sein wildes, rötliches Haar zurückwarf, so daß die Augen, die wie mit roten Ringen umzogen aus dem das Gesicht bedeckenden Schmutz hervorblickten, sichtbar wurden. »Der Steuermann war der erste. Das war, als wir acht Tage von Sherborough aus waren. Er war zwei Tage krank, und während dieser Zeit legten sich noch zwei andere, beides Vollmatrosen. In fünf Tagen waren sie alle tot. Dann wurde der andere Junge krank und starb zwei Tage darnach, und wir warfen auch ihn über Bord wie die anderen. Wir waren nun noch fünf, den Kapitän mitgerechnet. Dann legten sich wieder zwei, und am Tage darauf auch der dritte, der Koch. Der Kapitän war ganz abgemattet; Medizin hatten wir nicht an Bord und konnten ihnen auch nicht helfen. Wir hörten sie manchmal schreien, wenn sie phantasierten. Aber der Kapitän und ich, wir mußten auf die Brigg aufpassen und konnten nichts weiter für sie thun, als ihnen einen Topf mit Wasser hinstellen, damit sie trinken konnten, wenn sie durstig waren. Gott, was war das für 'ne Zeit!« Bei diesen Worten strich sich das arme Wesen mit der Hand über die Stirn, um sich einige große Schweißtropfen abzuwischen. Seine Hand zitterte wie bei einem alten Manne.

Richard sah mich an und sagte leise: »Das ist das Seemannsleben! Alle diese Schrecken gehören mit dazu und sind unzertrennlich davon, was viele Landbewohner kaum glauben werden. Und jetzt,« rief er, indem er aufsprang, »ist das Frühstück vorbei und wir drei fühlen uns etwas besser darnach. Also nun an die Arbeit, damit wir diese Brigg in solche Breiten bringen, wo es außer uns auch noch Leute giebt. Spence, zunächst wollen wir das Deck aufklaren, damit wir sehen, wo wir eigentlich sind.«

Alle drei begaben wir uns sofort daran, das Tauwerk über den Coffeynägeln aufzuschießen. Diese Arbeit war bald gethan, und als wir damit fertig waren, sprang Richard auf das flache Dach der Kajüte und warf einen langen Blick rings um den Horizont.

»Nichts in Sicht,« rief er aus, »nichts als schönes Wetter. Spence, springen Sie raus auf den Klüverbaum und machen den Außenklüver fest. Wenn er zu schwer für Sie ist, rufen Sie, und ich werde Ihnen dabei helfen.«

Dann stieg er an einer achtern am Deckhause angebrachten kleinen Leiter wieder herab, blickte in den Kompaß und rief mir zu, ihm zu helfen, die Raaen herumzuholen. Es war kein langes Manöverieren nötig, denn das Schiff lag nur ein paar Striche von dem Kurse ab, den es steuern sollte. Jetzt konnte ich mich wirklich nützlich machen. Vermöge meiner Kenntnis der Takelage und des laufenden Gutes war ich im stande, jeden Befehl sofort auszuführen. Wenn Richard mir sagte, ich solle die und die Brassen loswerfen, that ich es sofort und ging dann hinüber, um ihm auf der anderen Seite beim Holen zu helfen. Er schien seine ganze Kraft wiedergewonnen zu haben und arbeitete mit großem Eifer.

»Jeß,« sagte er während einer Pause, »diese Brigg ist wirklich eine Gottessendung für uns, nicht nur weil wir nun ein solides Schiff unter den Füßen haben, sondern auch weil das Geld, welches wir für die Bergung beanspruchen können – wenn es Gottes Wille ist, daß wir sie bergen werden –, uns zwanzigfach für den Verlust unserer Sachen auf der ›Aurora‹ entschädigt.«

Die Brigg war nur ungefähr zwei hundert Tonnen groß, und es war also nicht besonders schwierig, ihre Raaen in einer so leichten Brise herumzuholen. So gering der Luftzug auch war, so half er doch mit, sobald er die Segel gefüllt hatte, die Raaen herumzudrehen, und ein paar Augenblicke darauf hörten wir schon an dem Plätschern des Wassers, daß die Brigg begonnen hatte, es zu durchschneiden.

»Jessie, du kannst ja steuern,« sagte Richard. »Lauf an das Rad, mein Schatz. Steuere vorläufig Nordwest zu Nord. Der Kurs wird genügen, bis ich eine Karte und einen Sextanten aufgetrieben habe.«

Ich rannte nach achtern, ergriff die Speichen des Rades und drehte es herum, bis ich das Schiff auf den von Richard angegebenen Kurs gebracht hatte. Hierdurch bekamen wir den Wind von achtern, etwas an Steuerbord. Jetzt, wo wir in Bewegung waren und vor dem Winde hersegelten, schien es, als ob er gänzlich abgeflaut sei. Die Sonne strahlte ebenso versengend auf meinen Rücken wie gestern im Boot; ja, die Speichen des Rades waren so heiß, daß ich beständig die Hände von einer nach der anderen Speiche wechseln mußte.

So grausam die stechende Sonne auch war, im Vergleich zu dem, was ich bereits ertragen hatte, war die Unannehmlichkeit doch nur gering zu achten. Als ich längs Deck und dann hinauf an den Segeln emporblickte, überwältigte mich das Gefühl der Dankbarkeit so gewaltig, daß mir die Thränen aus den Augen stürzten. Ich hätte das Rad loslassen mögen, um niederzuknieen und Gott für die barmherzige Erhaltung und für die Errettung von den Qualen und der Einsamkeit des offenen Bootes zu danken.

Von Zeit zu Zeit hörte ich meinen Mann nach Spence rufen, und bald darauf geiten sie das Vor- und Groß-Royal auf und gingen nach oben, um diese Segel festzumachen, mein Mann im Großtop. In den Bramsalingen blieb er stehen und hielt lange Umschau; dann rief er mich an und fragte, ob es mir dort am Ruder auch nicht zu heiß sei.

»Ich kann es ertragen,« antwortete ich. »Aber daß es gerade besonders angenehm hier wäre, kann ich nicht behaupten.«

Er stieg herunter und erschien gleich darauf mit einem Bootssegel, das er in Form eines Sonnensegels über mir ausspannte. Das vordere Ende befestigte er an dem um das Dach des Deckhauses laufenden Geländer, so daß ich ebenso viel voraus sehen konnte als zuvor. Dieser Schutz war ebenso angenehm für mich wie ein Trunk kühlen Wassers für den Durstigen. Ich konnte jetzt den Hut abnehmen und mich von der leichten Brise erfrischen lassen.

»Du bist ein braves Weib, Jeß,« sagte Richard, indem er mich zärtlich auf die Stirn küßte. Er schien seine Furcht, mich etwa anzustecken, völlig vergessen zu haben. »Dein alter Vater würde sich freuen, wenn er sehen könnte, wie tapfer sein Mädel Matrosenarbeit verrichtet, sobald die Umstände es erfordern. Was sollten wir jetzt anfangen, wenn du nicht steuern könntest?«

»Ja,« meinte ich, »aber was wird es viel nützen, wenn ich auch steuern kann? Werden wir drei – wovon einer ein Junge und die andere ein Weib ist – jemals im stande sein, diese Brigg über See zu bringen?«

»Solche Fragen müssen wir uns gar nicht vorlegen,« rief er munter. »Wir müssen eben nur sehen, so gut vorwärts zu kommen, wie wir können. Ich habe mir bereits ein Programm zusammengestellt. Ein Punkt darin ist der, daß wir Segel bergen müssen, so lange das Wetter noch schön ist, und dann eben die Brigg nur unter kleinen Segeln halten. Es ist besser, etwas Zeit zu verlieren, als Gefahr zu laufen, in einem plötzlichen Sturme unterzugehen.« Damit verließ er mich und ging wieder nach vorne, wo Spence eben die Fockwanten herabstieg.

In Zeit von ein und einer halben Stunde hatten sie ein neues Pickfall geschoren, das Großtrysegel gerefft, das Vorbramsegel und sogar das Großsegel festgemacht. Schließlich erschien Spence, und ich muß gestehen, daß mich sein Anblick aufs höchste überraschte. Auf Richards Geheiß hatte er sich gewaschen und reine Kleider angezogen, und nun stand ein Jüngling vor mir, den ich noch gar nicht gesehen zu haben glaubte.

Das dicke, rote Haar war gekämmt und mit einer Mütze bedeckt und die ungeschlachte, aber muskelkräftige Gestalt mit einem blauen Jersey und weißen Drillichhosen bekleidet.

»Was,« rief ich, »sind Sie Spence?«

»Ja, Madame,« antwortete er.

»Ich habe Sie gar nicht wiedererkannt. Wo ist mein Mann?«

»In der Kajüte, und Sie möchten auch dorthin kommen.«

Ich gab ihm den Kurs und ging in die Kajüte. Es war kein Rauch mehr darin, aber ein entsetzlich starker Pechgeruch. Die Kajüte war ein kleines, starkgebautes Gemach, durch ein Schott in zwei Teile geteilt und fast so einfach wie ein Volkslogis eingerichtet. Ein schmaler, alter Teppichstreifen bedeckte den rechts von dem Tische liegenden Teil des Fußbodens. Die Decke war eichenartig gemalt und schon so oft gefirnißt, daß sie wie dunkler Mahagoni aussah. Die Tischplatte war zwischen zwei Pfeilern angebracht, an denen sie bis unter die Decke hinaufgeschoben und so aus dem Wege geräumt werden konnte, wenn sie nicht gebraucht wurde. Außer einer von der Decke herabhängenden Schwingelampe bestand die ganze übrige Einrichtung nur aus ein paar Stühlen und den unter dem Sopha angebrachten Truhen.

Richard befand sich in der Kammer des Kapitäns und untersuchte den Inhalt eines Kartenfutterals.

»Ich möchte gern eine Meridianhöhe nehmen,« meinte er. »Ein guter Sextant steht dort.« Dabei zeigte er auf einen dreieckigen Mahagonikasten, der auf einem kleinen Tische in der Ecke stand. »Ob ich mich aber auf jenen Chronometer verlassen kann, ist eine andere Sache. Hast du dir schon die anderen Kammern angesehen, Jeß?«

Ich verneinte es.

»Dann thue es und suche dir eine aus. Sie sind alle gleich groß und zu klein für zwei Personen.«

Es waren im ganzen vier Kammern, richtige Schachteln, eine neben der anderen. Eine jede war mit einem kleinen, runden Seitenfenster und darunter mit einer Koje versehen. Die vorderste war als Pantry eingerichtet, und aus der Koje war hier durch Anbringen von Regalen und Schubladen eine Art Küchenschrank gemacht. Teller und Schüsseln, Messer und Gabeln und sonstige Tafelgerätschaften waren ausreichend vorhanden und in einer Schublade fand ich ein paar Dutzend Blechbüchsen mit Konserven, Fleisch, kondensierter Milch und so weiter. Die anderen Kammern waren mit Schränken, Waschtischen und Kleiderriegeln versehen. Offenbar waren nur zwei derselben bewohnt gewesen, und da ich Richard die Kapitänskammer überlassen wollte, weil er dort alle zur Navigation nötigen Bücher und Instrumente zur Hand hatte, entschied ich mich für die bis jetzt unbewohnt gebliebene Kammer.

»Und wo soll Spence schlafen?« fragte ich.

»O, der arme Teufel,« rief Richard. »Wir wollen ihm die Steuermannskammer überlassen. Ich zweifle, ob er Mut genug hat, sich vorne einzuquartieren, nach allem, was in jenem Hause vorgefallen ist. Laß ihn nur hier in der Kajüte bleiben. Das Haus da vorne wollen wir lieber verschließen. Wenn du die Leichen dort gesehen hättest – still! wir wollen gar nicht mehr daran denken. Das alles liegt jetzt hinter uns, Jeß, und wir segeln nach Hause, mein Schatz. Bist du nicht ermüdet von deinem langen Ruderturn? Du bist jetzt fast vierzig Stunden lang nicht aus den Kleidern gekommen. Also laß dir raten, mein Kind, und gehe in deine Kammer. Dort kannst du, während ich meine Beobachtung mache, ein ordentliches Bad nehmen.«

Er hätte mir keinen besseren Rat geben können. Unter der Koje in der Kapitänskammer stand eine ziemlich große, zinnerne Badewanne, die ich in meine Kammer trug, und nun hatte ich einen Genuß, den nur derjenige völlig zu würdigen weiß, der in einem tropischen Klima Schiffbruch erlitten hat und gezwungen gewesen ist, die Kleider Tag und Nacht auf dem Leibe zu behalten.

Glücklicherweise war ich niemals besonders eitel. Sonst wäre ich durch das Bild, das mir aus dem kleinen Spiegel entgegenblickte, vor dem ich mich frisierte, wohl etwas herabgestimmt worden. Die ganze rechte Seite meines Gesichts war scharlachrot von der Sonne verbrannt, die andere mit verschiedenen Flecken bedeckt, und mein Nacken, auf den die Sonne damals im Boot so erbarmungslos herabsengte, sah aus wie die Schale eines gekochten Hummers. Mein Aussehen überraschte mich jedoch nicht im mindesten. Im Gegenteil, ich war erstaunt, daß es nicht noch schlimmer sei, da ich mich völlig darauf vorbereitet hatte, zu entdecken, daß die Gluthitze des vergangenen Tages mich in eine Negerin verwandelt haben würde.

Ehe ich die Kajüte verließ, trat Richard mit dem Sextanten in der Hand wieder ein. Er sagte, daß er die erwünschten Höhen gemessen habe und sie nun zur Ortsbestimmung anwenden wolle. Wenn er mit seinen Rechnungen fertig sei, würde er meinem Beispiele folgen und ein Seewasser-Sturzbad nehmen.

»Was kann ich inzwischen thun, Richard?« fragte ich.

»Du kannst dich um das Mittagessen bekümmern,« meinte er. »Es ist soweit alles in Ordnung. Das Feuer in der Kombüse haben wir schon angezündet, ehe Spence dich vom Ruder ablöste. Der Kessel ist mit Wasser gefüllt und ein Stück Rindfleisch zum Kochen aufgesetzt.«

Das Deck hatte jetzt, nachdem all das umherliegende Tauwerk aufgeklart war, ein sauberes Aussehen und die kleine Brigg machte einen ganz hübschen Eindruck, als sie sanft über die langgestreckte, dunkelblaue Ozeandünung dahinglitt. Die Segel wurden nur knapp von der lässigen Brise gefüllt. Ueber den Schanzkleidungen war das himmlische Blau des Horizonts sichtbar und ringsumher ertönte das schwache Geplätscher des langsam vorbeiströmenden Wassers.

Sobald das Fleisch gar war, trug ich es nach der Kajüte. In der Pantry fand ich Tischtuch und alles sonst noch Erforderliche. Bei der Suche nach dem Tischtuch entdeckte ich einige Krüge mit eingemachten Früchten, ein paar Büchsen mit Sardinen und eine Menge feiner, weißer Biskuits. Ich stellte, soviel ich davon für nötig hielt, auf den Tisch und wollte eben Richard rufen, als er auch schon aus seiner Kammer trat.

»Ich hörte dich herumhantieren,« sagte er. »Meine Beobachtungen sind ausgerechnet, und ich habe mir ein prachtvolles Bad geleistet.« Er warf einen Blick auf die Tafel und fuhr fort: »Das sieht ja ganz schön aus, Jeß. Was hast du denn in dem Glase dort?«

»Himbeer-Marmelade.«

»Man könnte glauben, du wärest einkaufen gegangen.« rief er lachend. »Aber warte nur, bis ich erst 'mal Nachforschungen anstelle. Wir können erwarten, in dem Proviantraum noch allerlei gute Dinge zu finden. Ich will nur geschwind Spence benachrichtigen, daß wir beim Mittagessen sind.« Damit sprang er an Deck. Er war heiterer und zeigte mehr von seinem alten munteren und herzlichen Wesen, als ich seit jenem unglückseligen Tage der Meuterei an Bord der ›Aurora‹ an ihm bemerkt hatte.

Gleich darauf trat er wieder ein und setzte sich, indem er erklärte, daß das Wetter noch immer unverändert sei und ein wunderbar beständiges Aussehen habe.

»Ich habe Spence anempfohlen, einen scharfen Ausguck nicht nur voraus, sondern auch achterraus zu halten. Darauf müssen auch wir beide stets achten, Jeß. Es ist ebenso wichtig wie das Steuern.«

»Wo sind wir denn nach deinen Berechnungen, Richard?«

»Weiter nach Westen und Süden als ich glaubte.«

»Dann wirst du wohl den Kurs ändern müssen,« meinte ich.

»Ja, um ein geringes, und es ist auch bereits geschehen. Wahrhaftig, Jeß, das ist ein ganz ausgezeichnetes Stück Fleisch. Oder schmeckt es nur so gut infolge des Schiffbruchs und nach meinem Seewasserbade?«

»Warum steuerst du nach den Kap Verdeschen Inseln?« fragte ich, indem ich bei meinem Thema blieb, das mir von größerer Wichtigkeit zu sein schien als das Fleisch, »und nicht lieber nach Sierra Leone oder Sherborough, wo die Brigg herkommt?«

»Aus verschiedenen Gründen,« erwiderte er. »Zunächst sind wir den Inseln um zweihundert Meilen näher als den Häfen, die du eben nanntest. Zweitens habe ich keine Lust, auf einen Punkt der afrikanischen Küste loszuhalten, wo wir mit nur drei Personen zur Bedienung des Schiffes an eine Küste geraten könnten, die von wenig zivilisierten und vielleicht feindlichen Völkerstämmen bewohnt wird. Drittens, je weiter wir nach Nordwesten kommen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß wir Hilfe antreffen: entweder ein Segelschiff, das uns zwei oder drei Mann abgeben kann, oder einen Dampfer, der uns ins Schlepptau nimmt. Bist du von diesen Gründen befriedigt, Schatz?«

»Ach, Richard, du weißt ja, wie unwissend ich in diesen Dingen bin. Sicherlich beurteilst du es am richtigsten.«


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