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Zweites Kapitel.
Kindheit

Unbeschreiblich ist der Reiz, den unser altes Wohnzimmer in meiner Kindheit für mich hatte. Es war mir streng verboten worden, irgend etwas anzufassen; doch wurde ich nie müde, mir die ›Kuriosa‹, wie mein Vater sie nannte, anzusehen, was wohl zur Genüge beweist, wie groß ihre Anziehungskraft für mich war. Denn welches Kind mag lange beschauen, was es nicht anfassen darf? All diese Sachen riefen in mir kindliche, harmlose Gedanken wach. Meines Vaters Gespräche, wenn er daheim war, die Geschichten, die mir meine Mutter von seinen Reisen erzählte, und die Wunder der tiefen See kamen mir bei meinen Gedankenbildern zu Hilfe oder bildeten vielmehr das Fundament derselben. Meine frühesten Erinnerungen sagen mir, daß ich die Speere und den Schild über dem ovalen Spiegel nie ansehen konnte, ohne an unermeßliche blaue Wasserflächen und an grüne, schimmernde Inseln zu denken, die wie in einem Bette flüssigen Glases ruhten. Ich sah im Geiste dunkle Gestalten durch die schneeweiße Brandung schwimmen oder auf dem goldgelben Sande dahinlaufen; die Luft war mit dem Dufte der Orangen- und Limonenbäume erfüllt und die würzigen Haine verbreiteten einen berauschenden Geruch. Die chinesischen Elfenbeinschnitzereien ließen mich von Elefanten und grünen sonnenschirmähnlichen Palmen und seltsam geformten Tempeln träumen, deren Inneres von Edelsteinen glänzte. Wahrhaftig, im Herzen war ich schon wanderlustig, als ich noch nicht alt genug war, meine Hafergrütze allein zu essen, und ich schwärmte für Seeleute und Schiffe und flog im Geiste wie ein Vogel über den Spiegel des Ozeans, noch ehe meine Zunge die Worte korrekt aussprechen konnte.

Ich war das einzige lebende Kind meiner Eltern, und aus diesem Grunde hatte ich, obgleich ich viele Kinder kannte und es mir außerhalb nie an Spielgefährten mangelte, im Hause selbst nur meine Mutter, die Magd und die Freunde, die uns besuchten, zur Unterhaltung. Daher wurde ich ohne Zweifel für etwas altmodisch in meinem Benehmen und für über meine Jahre altklug gehalten.

Meine Mutter war nicht aus dem Norden, sondern aus der Gegend von Brighton zu Hause. Wie sie mit meinem Vater bekannt wurde, das ist ein kleiner Roman, der ein interessantes Kapitel bilden würde. Es würde zu weit führen, die Geschichte ausführlich zu erzählen. Ich begnüge mich also mit einem kurzen Abriß. Als zweiter Steuermann eines Ostindienfahrers befand sich mein Vater auf der Heimreise. In den Breitegraden des Kaps der guten Hoffnung mußte das Schiff eines orkanartigen Sturmes wegen beigedreht werden. Bald darauf wurde am Horizont ein augenscheinlich im Sinken begriffenes Schiff bemerkt, das bereits zwei Masten verloren hatte. Auf dem Wrack befanden sich noch einige Menschen und unter der Leitung meines Vaters gelang es, trotz der schwierigen Umstände, sie sämtlich mit dem von dem Ostindienfahrer ausgesetzten Boote zu retten.

Einer der Geretteten, ein junger Mann Namens Mills, bat meinen Vater dringend, als er erfuhr, daß er hauptsächlich ihm seine Rettung zu danken habe, ihn nach seiner Rückkehr in Sussex zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit lernte mein Vater seine zukünftige Frau kennen und lieben. Annie war die Schwester des jungen Mills, ein hübsches, sanftes Mädchen von neunzehn Jahren. Sie waren drei Jahre verlobt, ehe sie heirateten, und der Brautstand hätte möglicherweise noch länger gedauert, wären nicht die alten Mills innerhalb eines Monats gestorben und infolgedessen Vaters Braut ganz allein auf der Welt zurückgeblieben. Ihr Bruder war nämlich nach Indien zurückgekehrt und hatte sich dort niedergelassen. Sie brachte meinem Vater nur ein kleines Vermögen zu; allein sie besaß, was kostbarer ist als Gold – das sanfteste, liebevollste Herz, das je in der Brust eines Weibes geschlagen hat. Als ich zur Welt kam, war mein Vater vierzig Jahre alt und mit vierzig Jahren ist ein Seemann so alt wie ein Landbewohner mit fünfzig. Seit seinem dreizehnten Jahre hatte er zur See gefahren und seit Generationen waren die Männer seiner Familie Seeleute und die Frauen Seemannsfrauen gewesen. Auch ein ganz Fremder konnte nicht in das Gesicht meines Vaters sehen, ohne daß ihn die unverfälschte, großherzige, treue und herzhafte Natur anzog, die auf demselben ausgeprägt war. Wenn ich an ihn denke, so fallen mir immer die folgenden Worte aus Dibdins Lied ein, das niemand schöner singen konnte als er:

In seinem treuen Antlitz paarten
Sich Mut und milder Sinn.
Stets blieb er treu der Pflicht, der harten.
Nun ist er längst dahin.

Nie schaute man in seine schönen grauen Augen, ohne daß man ein zutrauliches Leuchten darin sah, welches ihnen einen unbeschreiblichen Zauber verlieh. Sein Lachen war so tief und klangvoll, daß jeder Ausbruch seiner Heiterkeit wie ein lustiges Lied ertönte. Jeder Zug in seiner Haltung und Erscheinung verriet den Seefahrer, obwohl er es für lächerlich hielt, ein seemännisches Aeußere und seemännische Gewohnheiten zur Schau zu tragen. Kein Mann, der sich von Kindheit an auf allerhand Schiffen und unter allerlei Schiffsleuten herumgetrieben hat, wird sich jedoch – vorausgesetzt, daß er sie je besessen hat – die Sitten und das feine Benehmen eines Salonhelden bewahren können.

Obgleich ich nun diesen äußeren Schliff durchaus nicht verachte – offen gesagt, finde ich das Fehlen desselben bei jedem Manne, der nicht zur Entschuldigung angeben kann, daß er Seefahrer ist, unverzeihlich – so wird der Mangel daran doch wohl reichlich durch den Umstand aufgewogen, daß der echte Seemann Gott fürchtet, jede seiner Pflichten auf das getreueste erfüllt, den Adel und die Größe seines Berufes richtig schätzt, in seiner Häuslichkeit fromm und ehrenhaft lebt und stets bereit ist, einem Kameraden, der im Kampfe ums Dasein ermattet hintenan bleibt, hilfreich seine Hand zu reichen.

So war meines Vaters Charakter beschaffen, und viele Seeleute seiner Zeit glichen ihm, ganz besonders diejenigen in unserer Heimat. Das waren Männer, die, solange sie ein Schiff führten und als Seeleute an Land bekannt waren, nie zugegeben hätten, daß ein Fleck auf den Ehrenschild ihres Berufes fiel. Mein Vater gehörte zu jener Klasse von Seeleuten, die nun bald aussterben wird. Er hätte zu jeder Zeit den Oberbefehl über ein Kohlenschiff mit seinem rußigen Deck und den rauhen Gesellen, wie es auf einem solchen Fahrzeuge sowohl die Offiziere als auch die übrige Mannschaft sind, mit dem eines Passagierschiffes voll feiner Herren und Damen vertauschen können, und würde sich unter diesen mit derselben ungezwungenen Höflichkeit bewegt haben, wie irgend ein Seekapitän, der in einem schwimmenden Dampfpalast erzogen und unter den Passagieren groß geworden ist. Ich kenne keinen Kohlenschiffer, der ihm heutzutage das nachmachte.

Wenn ich wie ein Seemann schreiben kann, so verdanke ich dies meinem Vater. Mein Mann lehrte mich auch einiges, doch nur wenig. Schon ehe ich heiratete, konnte ich jeden Teil eines Schiffes, die Masten, Raaen und Taue mit Namen nennen; und ich glaube, als ich fünfzehn Jahre alt war, hätte ich, was praktische Kenntnis des Takelwerks anbetrifft, jedes Examen bestehen können.

Ich erwähne dies nur, um die Vertrautheit mit seemännischen Fachausdrücken zu erklären, die ich möglicherweise zeigen werde, wenn wir erst miteinander auf See kommen.

Es klingt vielleicht seltsam, daß eine Frau solche Dinge kennt. Ein Mädchen mag wohl vom Militärwesen alles mögliche wissen, es mag über das Kasernenleben genau orientiert sein und wissen, was man unter Parademarsch, Augen rechts, Präsentiert das Gewehr und ähnlichem Zeug versteht. Das alles thut der weiblichen Bescheidenheit und Zurückhaltung weniger Abbruch, als das Geständnis, etwas vom Seewesen zu wissen. So ist es, aber warum? Wahrscheinlich, weil es absolut unmöglich ist, in den Attributen des seemännischen Berufes irgend etwas Weibisches zu finden.

Trotzdem bin ich nicht die einzige Seemannstochter, die, wie man bei uns im Norden sagt, eine ganz ›anständige‹ Schiffskenntnis besitzt. Ich sah einst das Modell eines Vollschiffes, welches die Tochter eines Seekapitäns tadellos gebaut und in jeder Hinsicht richtig getakelt hatte. Kein Schiffsbaumeister hätte den Rumpf besser zusammensetzen, und kein Takelmeister die Takelage mit größerer Genauigkeit anbringen können. Warum soll mein Geschlecht nichts von Schiffen verstehen? Ein bischen seemännische Kenntnis bei Frauen hat schon mehrfach Schiffe mit wertvollen Ladungen vor dem Untergange gerettet.

Ich will nicht weiter von meiner Erziehung sprechen, um diese Einleitung nicht unnötigerweise zu verlängern. Als ich neun Jahre alt war, nahm mein Vater meine Mutter und mich auf eine Reise mit. Er führte damals eine Bark. Unser Ziel war Westindien, und die Fahrt dauerte sechs Monate. Er nahm uns nachher noch auf zwei kleinere Reisen mit, eine in das Mittelmeer und eine in die Ostsee, und ich glaube, er würde uns auf jede Reise mitgenommen haben, wenn meine Mutter es zugegeben hätte. Aber sie war nicht seefest; sie litt viel durch Seekrankheit und hatte Furcht vor schlechtem Wetter. Obgleich diese Reisen ihrer Gesundheit sehr dienlich waren, so sagte sie doch, nachdem wir von der Ostsee heimgekommen, daß sie nicht wieder zur See gehen wollte, und sie hielt Wort trotz aller Bitten meines Vaters. Da hätte er gern mich mitgenommen; aber meine Mutter sagte nein; sie brauchte mich zu Hause; ich wäre ihr einziges Kind; sie könnte nicht mich und ihren Mann zugleich missen.

Ihre Weigerung betrübte mich sehr, und ich weinte heftig, als sie sagte, sie würde mich nicht gehen lassen. In meinem jungen Leben hatte ich bis jetzt kein größeres Glück gekannt, als auf einem Schiffe zu leben. Die Matrosen hörten auf zu arbeiten und lachten über mich, wenn ich in die Hände klatschte, sobald das Schiff seinen Bug in die grünen rauschenden Wogen tauchte, und wenn dann der weiße Sprühregen durch die Luft flog und im Sonnenschein wie weiße Seide erglänzte. Meine Mutter konnte mich kaum aus dem Volkslogis herausbekommen. Die Leute lockten mich einerseits dorthin, und meiner Mutter Befehle hielten mich anderseits zurück, so daß ich manchmal mit meinem Witz zu Ende war. Trotz des Verbots meiner Mutter war ich jedoch viel unter den Matrosen, und wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, so geht mir erst das richtige Verständnis für den Seemannscharakter auf. Welch zarte Achtung zeigten sie dem kleinen Mädchen, das unter ihnen umherschlüpfte und schwatzte! Mit welch herzlichem Vergnügen bewachten und hüteten sie mich!

Wie treu waren ihre Herzen, und wie hätten sie jeder Gefahr getrotzt, damit mir nur kein Haar gekrümmt würde auf jener unermeßlichen Tiefe, deren kalter, stürmischer Schoß ihre Wiege war, und mit deren mannigfachen Gefahren sie Tag und Nacht kämpften, um für sich einen kärglichen Lebensunterhalt und Geld für ihre Herren zu erwerben.

Auf diesen Reisen lernte ich einen großen Teil vom Seewesen kennen. Man lehrte mich steuern, und manchmal stand ich eine halbe Stunde lang am Rade, und der Matrose, der steuern sollte, stand dabei und erklärte mir die verschiedenen Steuerkommandos wie ›Dicht am Winde!‹ ›Anluven!‹ ›Ruder in Lee!‹ u. s. w. Ich studierte die Striche auf dem Kompaß, bis ich sie ebenso geläufig wie mein Vater herbeten konnte, und wenn er mich nach dem Kompaßhäuschen schickte, damit ich nachsähe was ›anläge‹, so konnte ich ihm dies sofort bis auf einen Viertelstrich angeben.

Es gehört kein großes Genie dazu, um Seeausdrücke zu verstehen, und einem Mädchen wie mir, das so für Schiffe schwärmte und soviel mit Matrosen in Berührung kam, konnte es nicht schwerer fallen, die das Seewesen betreffenden Namen zu beherrschen und den Gebrauch der so benannten Dinge zu begreifen, als auf der Maschine nähen oder ein Paar Strümpfe stricken zu lernen.

Manchmal half mir ein Matrose in die Wanten und leitete mich bei der Hand auf den Großmars. Nie werde ich den Eindruck vergessen, den es auf mich machte, als ich zum erstenmal das Meer aus der Höhe der Untermastspitze erblickte und mit glänzenden Augen das herrliche Schauspiel der Tiefe überschaute.

Mit der Zeit blieb mein Vater mehr zu Hause und unternahm nur noch kürzere Reisen. Er war zeitlebens sparsam gewesen und hatte sein ganzes Vermögen in Schiffen angelegt, was zu seiner Zeit noch ein hübsches Sümmchen abwarf. Er pflegte oft davon zu reden, daß er sich zur Ruhe setzen wollte; er hätte, meinte er, genug gearbeitet und würde nun alt. Es wäre auch Zeit, jüngeren Leuten Platz zu machen, und jede Reise sollte seine letzte sein. Wenn es aber soweit war, konnte er sich nicht dazu entschließen.

»Was soll ich anfangen,« pflegte er zu sagen, »wenn ich die See verlasse? Wie soll ich mir die Zeit vertreiben? Neulich riet mir Michel Hanson, die See aufzugeben und mich am Land als Wetterprophet niederzulassen. Aber es ist ein erbärmliches Geschäft, andere auf Stürme aufmerksam zu machen, noch dazu, wenn man seiner Sache selbst nicht so sehr sicher ist. Ebenso gern möchte ich Wanderprediger werden. Nein, ich will noch einmal auf die Reise gehen; da habe ich Zeit, mir die Sache nochmals zu überlegen und vielleicht da noch zu einem Entschlusse zu kommen.«


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