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Viertes Kapitel.
Mein Vater setzt sich zur Ruhe

Es war beinahe 6 Uhr und ganz dunkel, als wir Newcastle erreichten. Wir wußten, daß der Vater diese Nacht noch bei uns eintreffen würde, wie spät es auch werden mochte. Wir unterhielten daher im Wohnzimmer ein großes Feuer, deckten den Tisch zum Abendessen und richteten das Zimmer so her, daß es auf einen Mann, der eben von der Reise und aus einem schrecklichen Sturme kam, wohl einen freundlichen Eindruck machen mußte.

Es schlug 10 Uhr; da hörte ich, wie sich die Hausthür öffnete. Ich lief hinaus und lag im nächsten Augenblick in meines Vaters Armen. Es war ein herzerfreuendes Wiedersehen, und die Mutter wollte Vaters Hand gar nicht mehr loslassen.

»Wir sahen dich kommen, Vater,« sagte ich. »Wir waren in Shields und erkannten die Brigg schon, als sie noch nicht größer wie eine Fliege war.«

»Was, Ihr waret beide in Shields?« sagte er und sah ganz gerührt von mir auf meine Mutter. »Ich kann mir denken, Mädel, daß dir der Atem stockte, als wir über die Barre hinübersegelten. Auf mein Wort, das war ein Wetter! Weißt du, Annie, daß zwischen Blyth und Marsden Bay fünfzehn Schiffe Schiffbruch gelitten haben und, schlecht gerechnet, über zweihundert Mann ertrunken sind? Der Sturm tobte die ganze Küste entlang bis zum Kanal. Da wird's wohl wochenlang täglich herzzerreißende Nachrichten geben.«

Er versank in Gedanken, wärmte sich die Hände am Feuer und sprach mit sich selbst.

Als aber das Abendessen fertig war und wir bei Tisch saßen, erzählte er uns von dem Sturme.

Ich konnte dabei meine Augen nicht von seinem Gesicht losreißen. Es schien mir, als wäre ich selbst auf dem kleinen Schiffe und sähe mit eigenen Augen das schrecklich-schöne Schauspiel, das er schilderte, als hörte ich das Krachen und Splittern des Holzes über mir, wenn sich die Brigg unter dem dröhnenden Schlage neigte und ihr Leedeck bis zur Großluke in dem Schaumberge vergrub, den der Wind glatt und eben fegte.

Nach dem Abendessen rückten wir unsere Stühle ans Feuer. Ich stopfte meinem Vater die Pfeife und stellte Spirituosen und heißes Wasser auf den Tisch. Unterdessen sah die Magd ins Zimmer und sagte, Kapitän Salmon wäre gekommen, um sich zu erkundigen, ob des Vaters Brigg glücklich eingelaufen sei.

»Ist Salmon da?« rief mein Vater.

»Ja, Tom Snowdon, hier ist er!« rief eine rauhe, zitternde Stimme. »Ich bin froh, euch lebend und sicher im Hafen zu finden, Kapitän!«

»Kommt herein, Salmon, kommt herein!« rief mein Vater, und nun trat das seltsamste und älteste Seegewächs ein, welches damals in Newcastle oder anderswo aufzutreiben war: ein alter, vertrockneter Kapitän von 82 Jahren, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Sein linkes Auge war erblindet und das andere hatte sich, als ob es ärgerlich wäre, nun alle Arbeit allein thun zu müssen, vorgedrängt und glänzte wie eine braune Glaskugel vor einem Lichte. Dichtes, schneeweißes Haar fiel an beiden Seiten des Kopfes auf den Rockkragen hinab, der Scheitel jedoch war kahl wie eine Marmorkugel. Der Verlust aller Zähne brachte sein Kinn der Nase ziemlich nahe und Wetter, Alter und Grog hatten seine Haut einem Trommelfell ähnlich gemacht. Er trug einen langen Tüffelrock, ein großes blaues Tuch mit weißen Punkten hatte er sich um den Hals geschlungen, und als Kopfbedeckung diente ein hoher Zylinderhut, der nach der verkehrten Seite gebürstet war und an den Rändern schon kupferrot aussah.

Er nickte der Mutter und mir zu, sah sich langsam um, nahm einen Stuhl, unter den er seinen Hut stellte und setzte sich dann mühsam.

Mein Vater hatte ihn fast sein ganzes Leben lang gekannt – war oft mit ihm gesegelt und zweiter Steuermann auf dem Schiffe gewesen, mit dem der alte Mann seine letzte Reise gemacht hatte.

Salmon war erst Leichterschiffer, dann Matrose gewesen. Er hatte sich etwas Geld erspart, das er in Küstenfahrern angelegt, sobald er selbst ein Kommando bekam. Alle seine Verwandte hatte er begraben und lebte nun allein in einem kleinen Häuschen draußen an der Northumberland-Straße, kochte selbst seine Mahlzeiten und räumte eigenhändig seine Wohnung auf.

»Ich habe bei Ben Stephenson eine Pfeife geraucht,« sagte er mit einer Stimme, die man kaum ohne Lachen anhören konnte, »aber ich wollte nicht heimgehen, ohne nachzufragen, ob man etwas von euch gehört hat. Das war ein harter Sturm, mein Junge! Was für'n Schiff war's? Eine Brigg?«

»Die ›Gräfin Durham‹,« antwortete mein Vater und gab mir einen Wink, dem alten Manne einen steifen Grog zu mischen.

»Die kenne ich ganz gut,« quackte der alte Bursche und folgte dabei mit seinem einzigen, glänzenden Auge allen meinen Bewegungen. »Was für Wetter hattet ihr?«

»So, so!« rief mein Vater und stieß eine Rauchwolke aus. »Wir waren in Ballast und das Schiff war so rank wie ein Kreisel, der sich ausgetanzt hat. Die Vormarsstenge ging zum Teufel und nahm den Klüverbaum mit. Salmon, einen ärgern Sturm habt Ihr noch nicht durchgemacht. Mann, ich sage Euch, er stand wie eine Mauer.«

Der Alte that einen langen Zug aus dem dampfenden Glase und sah sich dann mit einer ziemlich sauren Miene im Zimmer um, als ob dieser Vergleich mit seinen eigenen Erfahrungen nicht nach seinem Geschmack wäre. Als sein Blick endlich auf meine Mutter fiel, sah er sie nachdenklich an und sagte:

»Liebe Frau, jetzt müßt Ihr Tom Snowdon veranlassen, die Seefahrerei aufzugeben. Er hat sein Schäfchen ins Trockene gebracht und kann nicht verlangen, daß Ihr Euch bei jedem Sturm halb zu Tode ängstigen sollt.«

»Wenn er wüßte, was Jessie und ich diese Nacht und heute morgen durchgemacht haben,« erwiderte sie und blickte ihren Mann liebevoll an, »so würde er nie wieder ein Schiff ansehen.«

»Annie, mein Herz,« sagte der Vater feierlich, »du sollst deinen Willen haben. Jetzt gebe ich das Seefahren für immer auf. Der alte Ozean soll mir keine solchen Streiche mehr spielen. Mein Kabel ist abgelaufen. Von nun an bleibt Tom Snowdon an Land.«

Die Pfeife zitterte in seiner Hand, als er zuerst meine Mutter und dann mich anblickte; sein wettergebräuntes Gesicht zuckte vor innerer Bewegung und er sprach mit gebrochener Stimme. Meine Mutter sprang auf und schlang die Arme um seinen Hals, und als sie ihn genug geherzt hatte, kam ich an die Reihe. Trotzdem er schon oft versprochen hatte, sich zur Ruhe zu setzen und doch immer wieder zur See gegangen war, so merkte man doch, daß es ihm diesmal heiliger Ernst war.

»O Tom,« sagte meine Mutter, »das ist eine rechte Freudenbotschaft.«

»Aber haltet auch Euer Versprechen,« rief Kapitän Salmon aus, indem er sein Glas mit einer Hand erhob und seinen langen, hornartigen Zeigefinger darüber legte. »Ich kenne die Seeleute. Ich weiß, wie ich war. Kein Kabeltau ist lang und stark genug, um eine echte, rechte Teerjacke an Land festzuhalten. Die See hat eine unwiderstehliche Anziehungskraft und er wird schon eine Ausrede zum Entwischen finden, liebe Frau,« wandte er sich an meine Mutter, »wenn Ihr ihn nicht fest und kurz haltet.«

»Keine Furcht, Salmon; keine Furcht, Annie,« antwortete mein Vater, noch immer tief bewegt. »Als ich gestern Nacht luvwärts in die pechschwarze, tobende Schaumflut sah und daran dachte, was die, die ich in dem alten Hause zurückgelassen, wohl fühlten, wenn sie den Sturm so heulen hörten, da sagte ich zu mir selbst: ›Thomas, wenn Gott der Allmächtige dich noch diesesmal glücklich heimführt, dann machst du ein Ende und gehst nicht mehr zur See, sondern bleibst zu Hause. Du wirst dich zwar nach dem freien Leben hier draußen sehnen und deine Gedanken auf Reisen gehen lassen, aber du wirst deinen Lieben gegenüber deine Pflicht erfüllen. Du wirst es ihnen ersparen, noch einmal solche Herzensangst zu durchleben und wirst Vergnügen und Unterhaltung auf dem Lande suchen. Auf die Knie wirst du fallen und Gott danken, daß du dich nach 47jährigem Seedienst als gesunder Mensch mit geraden Gliedern, gutem Appetit und Humor und mit etwas Geld im Kasten zur Ruhe setzen kannst, so daß dir die Gerichtsvollzieher stets zehn Schritt vom Leibe bleiben.‹ Das waren meine Gedanken, und hier sitze ich nun, danke Gott und bin fest entschlossen. – Nein,« rief er mit großer Energie und heftigem Kopfschütteln aus, »ihr sollt sehen, ich werde nicht anderer Meinung. Hier bin ich und hier bleibe ich. Ich brauche Ruhe und will sie genießen.«

Dann steckte er wieder die Pfeife in den Mund und rauchte schnell und förmlich herausfordernd. Dabei sah er Kapitän Salmon unverwandt an, als wollte er sagen, wenn wir an seine Aufrichtigkeit glaubten, so sollte der alte Mann es auch thun.

»Kein Mann, der Gatte und Vater ist, sollte auf der See bleiben, sobald er Geld genug erspart hat, um sie aufgeben zu können,« sagte meine Mutter. »Giebt es ein gefährlicheres Leben? Und welche Ehre bringt es einem Manne ein, Seemann zu sein? Letzte Nacht und heute, Tom, hast du schrecklicheren Gefahren getrotzt, als irgend ein Soldat auf dem Schlachtfelde. Und welchen Lohn bekommst du dafür? Wenn du dein Schiff verlierst, so kann es sein, daß sie dir dein Patent nehmen, und wenn du arm bist, so kannst du dann betteln gehen. Wenn du ertrinkst, bricht deinem Weibe das Herz und deine Tochter ist eine verlassene Waise. Wenn du aber wohlbehalten nach Hause kommst, so verliert niemand ein Wort darüber, niemand nimmt Notiz davon, niemand lobt dich wegen deines Mutes und deiner Geschicklichkeit.«

»Das ist alles wahr,« erwiderte mein Vater und schüttelte gedankenvoll den Kopf, indem er nach dem alten Salmon blickte. »Kein Leben ist undankbarer, als das des Seemanns. Die Leute auf dem Lande haben kein Interesse für Janmaat, verstehen ihn nicht und mögen sich nicht mit ihm befreunden. Sein Sold ist armselig, und er arbeitet für sein Leben und für seiner Dienstherren Gewinn. Wenn er stirbt, so giebt man ihm den letzten Stoß; niemand weint ihm nach, und die Ringe und Blasen im Wasser, nachdem die Hängematte, in die man ihn genäht hat, über Bord gegangen ist, sind das einzig wahre Bild von eines Seemanns Leben und Tod.«

Kapitän Salmon hörte regungslos zu und nur seine Unterlippe bewegte sich.

»Aber Seeleute werden doch auch geliebt, Vater,« sagte ich schüchtern. »Zu jeder Stunde, Tag und Nacht, beten Tausende treuer Herzen für die Seeleute, die unterwegs sind.«

»Nun, das weiß ich noch nicht so genau, mein Mädel,« rief der alte Salmon plötzlich aus. »Es wird zwar sehr gefühlvoll über uns Seeleute gesprochen und es werden mehr Lieder auf uns gedichtet, als ich singen hören möchte, und wenn ich bis zum Jahre 1895 lebte. All dies Gewäsch über den Janmaat ist aber erst aufgekommen, seitdem ich zur See ging. Früher war ein Seemann ein Seemann, nicht bloß ein Mann in einer blauen Jacke. Der Dampf hat die Leute verdorben. Da sie immer warm im Maschinenraum sitzen, ist ihre Gesundheit so zart geworden, daß sich die Weiber hingesetzt haben und Gedichte über sie schreiben, und, wie Fräulein Jessie hier, von den treuen Herzen reden, die ihnen überallhin folgen.«

»Ich wundere mich, Kapitän Salmon, daß Sie so etwas sagen können, wenn Ihnen ein Seemann wie mein Tom zuhört,« sagte meine Mutter ziemlich aufgeregt und sah meinen Vater an, dessen Gesicht von schlecht verhehlter Lustigkeit glänzte.

»Entschuldigen Sie, Frau Snowdon,« sagte der alte Mann ziemlich scharf und hielt sein Glas krampfhaft fest; »wenn auch fünfzig Seeleute wie Tom Snowdon hier wären, so würde ich meine Behauptung wiederholen, ohne Widerspruch zu fürchten. Ich kannte Ihren Mann lange, ehe Sie ihn kannten, Madame, und bitte, es nicht übel zu nehmen, aber ich kann nichts dafür. Tom Snowdon und ich haben zusammen in Schiffen gesegelt, die versunken und untergegangen sind. Sie können dreist zehntausend Pfund bieten, um nur noch einen Kupferbolzen zu sehen, der dazu gehörte; es wäre vergebens. Niemals, weder zu meiner Zeit, noch vor- oder nachher wird's einen bessern Seemann geben als Tom Snowdon. Das kann er meinetwegen hören. Aber wenn er auch zuhört, so werde ich doch nichts sagen, was ich nicht meine. Ich sage Ihnen, Madame, jetzt sind die Seeleute nicht mehr, was sie zu meiner Zeit waren. Sehen Sie 'mal die Schiffe an, die sie jetzt bauen. Stellen Sie sich 'mal an den Lawe hin und sehen Sie zu, wenn die eisernen Kasten vorbeischwimmen. Der Bug ist so in die Höhe gestülpt, als ob er sich der Stengen schämte, die sie Masten schimpfen. Mittschiffs sind diese Bauwerke so schmal, daß ein Mann mit etwas langen Beinen mit einem Fuß auf jeder Seite stehen könnte. Und dann seh'n Sie sich 'mal die innere Einrichtung an und schauen Sie, wie die Teerjacken mit schwarzen Gesichtern sich in den Kohlenkellern ihr Brot verdienen.«

»Der Whisky steht neben euch, Salmon,« sagte mein Vater beschwichtigend. »Was Ihr da sagt, ist ganz richtig;« dabei gab er meiner Mutter einen Wink, um ihr bemerklich zu machen, daß er nur zustimme, um den alten Mann nicht zu ärgern.

»Wenn nun Seeleute einmal keine Seeleute mehr sein sollen,« sagte meine Mutter lächelnd, »so haben sie, wenn sie das Seefahren nicht aufgeben wollen, nicht einmal die Entschuldigung, daß sie es aus Liebe zur See thun.«

»Sie lieben die See auch nicht,« versetzte mein Vater. »Nur solche alte Seebären, wie Salmon und ich, sehnen sich zurück, wenn sie einmal an Land sind.«

»Nur mein Alter vertrieb mich von meinem Platze,« sagte Kapitän Salmon. »Wenn die Zeit noch einmal Kehrt machte, so würdet Ihr mich wieder draußen seh'n, Thomas.«

Ein trüber Schatten glitt über meines Vaters Gesicht, während er frischen Tabak in seine Pfeife stopfte.

»Was ich sagen will,« sagte er, indem er sich an Salmon wandte, aber doch mehr zu meiner Mutter sprach, »ist nicht von Bedeutung, denn Ihr wißt, daß mein Entschluß fest steht: ich bin und bleibe an Land. Aber kein Weib und kein Landbewohner auf der Welt kann den Kampf im Herzen eines Seemannes nachfühlen, der dem Meere auf immer Valet sagt. Ich komme eben aus einem fürchterlichen Sturm und danke dem allmächtigen Gott für meine Rettung und doch denke ich kaum noch daran. Nur an die sonnigen Tage, an die Freuden, die mir das Meer geschenkt, erinnere ich mich, und an meine Triumphe auf den alten Schiffen. Nein, Annie, fürchte nichts, ich bin fest entschlossen; aber dennoch werde ich – wielange mir auch zu leben vergönnt sein mag – mit der Erinnerung ins Grab steigen, daß die See mir 47 Jahre lang freundlich gewesen ist, von dem Tage an, wo ich als Junge zuerst den Fuß auf ein Schiff setzte und stolz war, die erste Planke zu verladen, das erste Tau anzuholen, während meiner Wache zur Koje auf das Kommando: ›Alle Mann an Deck‹ als der erste hinaufzustürzen, – bis zu dem Augenblicke, wo ich mit Gottes Hilfe den letzten Sturm überlebte und die ›Gräfin‹ sicher über die Barre brachte. Die schönsten Stunden, die ein Mensch überhaupt durchleben kann, habe ich unter freiem Himmel und auf offener See genossen, deren Horizont, solange ich lebe, die Grenze meiner Welt gebildet hat.«

»Ja,« rief der alte Salmon, der aufmerksam und zustimmend dieser Rede zugehört hatte, »aber ich kann Ihnen sagen, Frau Snowdon, daß Thomas, wenn er dies auch sagt, Ihnen nicht unrecht thun will, sondern ganz genau weiß, wie viel Glück er Ihnen verdankt.«

»Das weiß sie – das weiß sie,« rief mein Vater mit bewegter Stimme.

»'s ist natürlich und 's ist schön,« fuhr der Alte fort, »daß, wenn ein Seemann die See verläßt, er ihr noch einen Segenswunsch nachschickt. Welchen Beruf kann ein Mann leichten Herzens aufgeben, dem er von Kindheit auf gedient hat? Vergangene Woche traf ich Jackson, der vor einem kleinen Laden stand und ihn beschaute. ›Ei,‹ sag ich, ›Jackson, Ihr denkt doch nicht daran, wieder anzufangen, da Ihr es Euch so genau beguckt?‹ ›Nein,‹ antwortete er, ›daran denke ich nicht, aber 35 Jahre habe ich dadrinnen verbracht, und wenn ich hineinblicke, sehe ich mich wieder als jungen Mann voller Hoffnung und Kraft vor mir. Ich kann nie vorbeigehen, ohne das alte Haus zu grüßen wie einen alten Freund.‹ Das liegt in der Menschennatur, Frau Snowdon, und wenn ein in Ruhestand getretener Schnittwarenhändler so fühlt, was muß da ein Seemann empfinden, der von dem Meere scheidet, das ihn ein halbes Jahrhundert lang auf seinem Schoße gewiegt hat wie eine Mutter ihr Kind, das ihn oft geliebkost und noch öfter hart angelassen hat, und das ihn jetzt seinen Lieben mit Erinnerungen zurückgiebt, die einen Mann nur stolz und glücklich machen können.«

»Genug, Salmon,« rief mein Vater beinahe weinend. »Wenn Ihr noch lange redet, werde ich mir bald wie der verlorene Sohn vorkommen.«

»Ich denke, mein Mann braucht sich bei niemand zu entschuldigen, daß er die See verläßt, Kapitän Salmon,« sagte meine Mutter etwas scharf.

»Nun, nichts für ungut, Madame,« antwortete der Alte, indem er aufstand und seinen Hut suchte. »Ich kam nur herein, um mich nach Snowdon zu erkundigen und bin schon länger geblieben, als ich sollte.«

Nachdem er uns allen die Hand geschüttelt und ich ihm die Hausthür öffnete, blieb er stehen, sah mich an und murmelte: »Wahrhaftig, sie ist ein ganzes Fräulein geworden, und gestern hätte ich sie noch in meinen alten Hut einpacken können.«

Dann schwankte er aus dem Hause.

Wir blieben noch fast eine Stunde auf und plauderten miteinander. Niemand mochte das freundliche, warme Zimmer verlassen. Mir schien es, als sähe die Mutter müde und blaß aus; aber als ich ihr riet, zu Bette zu gehen, sagte sie, sie wäre gar nicht schläfrig, und es sei ihr eine Freude, nach der Angst der vorigen Nacht, aufzubleiben und zu plaudern.

Mein Vater ging ans Fenster und sah schweigend eine Weile zu den glänzenden Sternen empor. Dann riß er sich plötzlich los und sagte:

»Jessie, mein Mädel, morgen werde ich dir wahrscheinlich einen schmucken, jungen Mann vorstellen, der so brav ist wie die, von denen du in den Geschichtenbüchern gelesen hast. Annie, erinnerst du dich, daß wir einmal zusammen nach Tynemouth gingen, um eine gewisse Frau Fowler zu besuchen, eine sanfte, hübsche Dame in Schwarz, die Witwe eines englischen Predigers?«

Sie konnte sich nicht gleich besinnen.

»Ach was, du kannst es nicht vergessen haben. Du sagtest damals noch, sie hätte so feine Manieren; sie hatte große, schwarze Augen, und du hieltest sie für schwindsüchtig.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich; aber das muß mindestens zehn Jahre her sein.«

»Ja, ungefähr zehn Jahre,« sagte er. »Nun, ich erinnere mich, wie sie uns sagte, sie hätte einen Sohn, Namens Dick, der auf einem Schiffe, das einer Londoner Firma gehörte, Schiffsjunge war. Und wer, meint ihr, war mein Steuermann auf dieser letzten Reise mit der ›Gräfin‹? Kein anderer als jener Bursche. Seine Mutter ist vor einem Jahre gestorben. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, und einen besseren Seemann kann es nicht geben. Gestern im Sturm war er meine rechte Hand, so behend und so leise wie eine Katze. Ich habe ihm versprochen, meinen ganzen Einfluß aufzubieten, ihm ein Schiff zu verschaffen, und ich werde Wort halten. Morgen wird er uns besuchen; nimm dein Herz in acht, Jessie. Wenn du ihn mit deines Vaters Augen siehst, wird er dir gefallen. Du wirst ihn bewundern, und Mutter mag dir sagen, was es bedeutet, wenn ein Mädchen einen Mann bewundert.«

»Da er Seemann ist, wird er mir schon gefallen,« entgegnete ich lächelnd.

»Wie alt ist Jessie, Mutter?« fragte er und musterte mich von oben bis unten.

»Nächsten Monat wird sie zwanzig Jahre alt,« sagte die Mutter und sah mich zärtlich an.

»Ja, richtig. Dann, Jessie, wirst du dich bald nach einem Manne umsehen müssen, wenn du nicht eine alte Jungfer werden willst.«

»Sich umsehen!« rief meine Mutter. »Ich hoffe, das wird sie nicht nötig haben. Die Männer, die man sich sucht, sind gewöhnlich keine besondere Sorte. Und warum soll Jessie schon heiraten? Du bist eben erst aus einem schrecklichen Sturm nach Hause gekommen, und statt daß wir hier mit dankbarem Herzen beisammen sitzen sollten, machst du schon Pläne, uns wieder zu trennen.«

»Ich scherzte ja nur, mein Herz,« sagte er, stand auf und küßte mich zärtlich. »Nein, sie soll noch ein Weilchen bei uns bleiben. Aber, gütiger Himmel!« rief er, indem er seine altmodische goldene Uhr herauszog und mit der auf dem Kaminsims verglich, »wie spät ist es, meint ihr?«

»Dreiviertel auf zwölf!«

Ich erhob mich.

»Bleibe, Jessie,« sagte er mit leiserer Stimme; »ehe wir zur Ruhe gehen, haben wir noch eine Pflicht zu erfüllen. Gott hat mich beschützt und sicher heimgeführt; wir wollen ihm für seine Güte danken.«

Ein altes Sprichwort sagt: »Wer nicht beten lernen will, der muß zur See gehen.« Wer zugehört hätte, wie mein Vater Gott für die Erhaltung seines Lebens dankte, würde dies alte Sprichwort verstanden haben. Keine Erinnerung ist mir so heilig, wie das Andenken an jene Nacht. Damals ahnte ich die nahende Trübsal nicht; aber wenn ich jetzt zurückdenke, sehe ich den Schatten des Todes, wie er in dem alten Wohnzimmer über uns hing und meine Mutter unter ihm kniete.

Als mein Vater geschlossen hatte, stand meine Mutter auf und sah ihn mit thränenfeuchtem Gesichte an, auf dem ein fremder Ausdruck lag. Ich sah meinen Vater an, ob er ihn auch bemerkte; aber er lächelte und wollte etwas sagen, und als ich wieder nach der Mutter schaute, war der fremde Ausdruck verschwunden, und sie hörte auf ein paar lustige Worte, die der Vater ihr zurief.

Ich nahm an, daß ich mich getäuscht habe und daß der jähe Wechsel eine Folge des doppelten Lichtscheins war, der von der Lampe und dem Kaminfeuer auf ihr Gesicht fiel. Aber als ich am nächsten Tage daran dachte, war ich überzeugt und bin es noch heute, daß die Vorahnung in ihrem Herzen auf ihrem Gesicht geschrieben stand. Die instinktive Erkenntnis dessen, was da kommen würde – eine Erkenntnis, die ihr kam, ohne daß ihr Verstand etwas dabei that – hatte die kaum merkliche, schnell vorübergehende Veränderung in ihren Zügen hervorgerufen, welche mich beunruhigte.

Obwohl ich nicht mehr daran dachte, nachdem sie mich geküßt und mir Gute Nacht gesagt hatte, so regt mich der Gedanke daran doch jetzt noch in einem Grade auf, der fast kindisch zu sein scheint.


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