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Elftes Kapitel.
Der Kirchhof von Elswick

Richard kam diesmal erst eine Woche später, als er gehofft hatte. Das erste, aus Furcht und Hoffnung gemischte Gefühl, das sich meiner bemächtigt hatte, als mein Baby starb, hatte inzwischen einer leidenschaftlichen Sehnsucht Platz gemacht. Ich wünschte, ihn bei mir zu haben, damit er meinen Schmerz teilen und mich trösten könne. Als an dem Tage, wo ich ihn erwartete, kein Brief kam, wurde ich besorgt, und als ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß der Postbote klingelte, wuchs meine Besorgnis immer mehr. Endlich am Freitag – genau sechs Tage später, als gerechnet war – kam ein Brief aus Sunderland, der ihn für den nächsten Abend anmeldete.

Mich ergriff wieder die alte Furcht, wenn ich dieses Gefühl, das sich nicht näher beschreiben läßt, so nennen kann. Richard konnte nicht wissen, daß unser Baby tot sei; ja, ich wußte nicht einmal, ob er den Brief, worin ich ihm seine Geburt mitgeteilt hatte, auch empfangen habe. Jetzt hoffte ich von Herzen, daß dies nicht der Fall sei und daß er keine bestimmte Nachricht habe, daß zu Hause ein kleiner Sohn darauf warte, ihn zu begrüßen. In diesem Fall würde ihn die Todesnachricht doch nicht so bekümmern, als es geschehen mußte, wenn er sich auf der ganzen Heimreise schon die ihn erwartende Freude ausgemalt hätte.

»Jessie,« sagte der Vater an jenem Sonnabend zu mir, »willst du deinen Mann in diesen Trauerkleidern empfangen?«

»Ja, Vater,« antwortete ich, »wenn er unsern Verlust erfährt, würde er mich wohl nicht gerne in einem andern Kleide sehen.«

»Gut, mein Kind, wie du meinst,« entgegnete er mit derselben beruhigenden Sanftmut des Wesens und der Stimme, mit der er mich jetzt stets anredete.

Gleich nach sieben Uhr ertönte die Hausklingel und in der nächsten Minute lag ich in Richards Armen. Thränen stürzten mir über die Wangen und ich konnte vor Bewegung nicht sprechen. So fest ich mir auch vorgenommen hatte, mich zu beherrschen, es war mir unmöglich. Als ich ihn sah, dachte ich an unser Baby, und da war es um meine Selbstbeherrschung geschehen.

Wir standen im Flur; er blickte mich schweigend und erstaunt an und zeigte dadurch seine Unwissenheit über die Ursache, meines Kummers.

»Bring sie herein, Dick!« rief mein Vater. »Laß sie nur ein Weilchen weinen; ihr wird besser darnach werden.«

Mein Mann führte mich ins Wohnzimmer. Vor Erstaunen und Spannung vergaß er sogar, dem Vater die Hand zu reichen. Er setzte sich auf das Sopha und zog mich dicht zu sich heran.

»Was ist denn geschehen, mein Liebling?« fragte er. »Ist denn jemand gestorben?«

Offenbar hatte er jetzt erst bemerkt, daß ich in tiefer Trauer war.

»Hast du denn keinen Brief von ihr in Pensacola erhalten?« fragte der Vater mit zitternder Stimme.

»Einen,« antwortete Richard. »Darin war aber keine Trauernachricht.«

»Hast du denn nicht erfahren, Dick, daß deine Frau Mutter geworden war?«

»Nein,« erwiderte mein Gatte schnell; dann zog er mich dichter zu sich heran, als ob er jetzt alles erraten habe.

»Ich wußte, daß ein Baby erwartet wurde,« sagte er.

»Es ist gekommen und auch wieder gegangen,« erklärte mein Vater feierlich. »Gott hat es zu sehr geliebt, um es selbst für dich, mein Junge, hier zu lassen. Das ist Jessies Kummer. Aber nun da sie dich hier hat, wird ihr Herz schon wieder gesund werden.«

Damit verließ er das Zimmer, damit mein Mann und ich allein blieben.

Ich konnte nicht erwarten, daß Richard dasselbe fühlen sollte wie ich. Er hatte unsern Liebling nie gesehen, niemals wie ich seine Schönheit und die allmähliche Entwicklung der kleinen Knospe bewundert, die nun, noch ehe sie zur Blüte gediehen, von der kalten Hand des Todes zerstört war. Und doch zeigte sich auch in seinem Gesicht eine so tiefe Enttäuschung, ein so aufrichtiger Gram, wie es überhaupt bei einem Manne möglich war, der nur mit dem geistigen Auge das Pfand seiner Liebe schauen konnte, das in seiner Abwesenheit gekommen und verschwunden war, das in Wirklichkeit voll Leben und Schönheit gewesen und doch für ihn nur ein Traumgebilde geblieben war.

Noch ehe mein Vater wieder eintrat, hatte ich meinem Manne alles erzählt und meine Thränen getrocknet. Jetzt sprach ich mit ihm über ihn selber und seine Reise – und lächelte, wenn er mich küßte und daran erinnerte, daß wir uns wieder hätten.

»Ja,« sagte ich, »und jetzt wollen wir beisammen bleiben. Du mußt mich das nächstemal mitnehmen. Ich bin jetzt so einsam – selbst in meines guten Vaters Gesellschaft – daß es mir das Herz brechen würde, wieder von dir Abschied nehmen und kinderlos und verwitwet hier zurückbleiben zu müssen.«

In diesem Augenblick trat der Vater wieder ein. Ich glaube, er hatte meine letzten Worte gehört, obgleich er nichts dazu sagte. Erst später, als das Abendbrot vorüber und der Tisch abgeräumt war und wir uns an den Kamin gesetzt hatten, in welchem er das Feuer so aufgeschürt hatte, daß es wie in einem Schmiedeofen emporloderte, sagte er plötzlich:

»Dick, wenn du Lust hast, Jeß auf deiner nächsten Reise mitzunehmen, habe ich nichts dagegen.«

»Nun, Kapitän,« antwortete Richard, »ich mag sie Ihnen zwar nicht gerne wegnehmen und Sie in dem alten Hause allein lassen. Indessen ist sie sehr heruntergekommen und mit ihrer Gesundheit steht es nicht, wie es sollte. Ich glaube, ein paar Monate auf See würden ihr gut thun, und es gäbe wohl keinen glücklicheren Mann als mich, wenn ich sie bei mir an Bord haben könnte.«

»Was meinst du, Jeß?« fragte der Vater.

»Wenn du dich ohne mich behelfen kannst, Vater,« erklärte ich, »so würde ich meinen Mann gerne begleiten.«

»Gut, dann ist die Sache abgemacht. Es kann nichts nützen, wenn du hier zu Hause bleibst, während dein Herz ganz wo anders ist. Dick hat recht, du brauchst Veränderung. Und die Freude, mit ihm zusammen zu sein, wird dich bald wieder aufrichten. Wo geht die nächste Reise hin, Dick?«

»Das werde ich erst im Laufe der nächsten Woche erfahren,« antwortete Richard. »Heute morgen hörte ich, daß Kapitän Gardener die ›Phantasie‹ übernehmen solle und daß ich Aussicht habe, das Kommando einer feinen, kleinen Klipperbark zu erhalten, die erst kürzlich bei Laing auf dem Wear vom Stapel gelaufen ist. Wenn ich die bekomme, dann ist Sierra Leone mein Bestimmungshafen.«

Der Vater schüttelte den Kopf. »Des Europäers Grab, Dick!«

»Ich gebe zu, daß es ein böses Klima ist, Kapitän; wir wollen ja aber auch nicht dort wohnen.«

»Du hast recht,« meinte der Vater. »Und schließlich weiß ich auch nicht, ob es dort schlimmer ist, als in Westindien oder den Südstaaten, wo du gerade herkommst. Wie heißt die Bark, Dick?«

»Die ›Aurora‹.«

»Sie hat wohl jedenfalls eine hübsche Kajüteneinrichtung?«

»Sicherlich.«

»Holz oder Eisen, Dick?«

»Holz.«

»Na, dann geht's ja,« meinte der Vater, steckte sich eine Pfeife an und sah sehr vergnügt darein. »Holz ist von der Vorsehung dazu bestimmt, zu schwimmen, Eisen zu sinken. Wenn du gesagt hättest, Eisen, so weiß ich nicht, ob das und Sierra Leone zusammen mich nicht dazu bestimmt hätten, mich gegen Jessies Mitgehen zu erklären.«

»Und was wirst du anfangen, Vater?« fragte ich schüchtern. Fast fühlte ich Gewissensbisse über die Freude, die mir seine Zustimmung zu der Seereise bereitete.

»Anfangen?« versetzte er. »Nun, wegziehen und eine andere Wohnung suchen, hoffentlich die letzte in dieser Welt. Ich werde nach Shields gehen und dort einen Haushalt einrichten, wo du und Dick euch niederlassen könnt, wenn ihr erst 'mal das Salzwasser satt habt.«

Er blickte sich langsam im Zimmer um und betrachtete mit wehmütigem Ausdruck die alten Raritäten, mit denen die Seitentische, das Büffet und der Kaminsims bedeckt waren.

»Es wird wohl ein bischen schwer fallen,« fuhr er fort, »aber das geht bald vorüber.«

»Weshalb willst du umziehen?« sagte ich. »Es würde mich glücklich machen, wenn ich auf der Heimreise erwarten könnte, in das alte Haus zurückzukehren.«

»Denk ein bischen nach, Jessie, und du kannst dir selbst antworten. Hier starb die Mutter und unser kleines Baby. Hier bist du geboren, mein Mädel, und hier hast du dein ganzes Leben bis jetzt zugebracht. Denke dir, wenn ich nach Hause komme und hier allein in diesem Zimmer sitze und nichts höre als das Ticken der Uhr und das Geräusch der Asche, die aus dem Kamine fällt, glaubst du, daß ich das ertragen könnte mit der Vergangenheit so klar und deutlich vor den Augen? Nein, wenn ihr fort seid, dann gehe ich auch.«

Am folgenden Tage, dem Sonntag, gingen wir alle drei zur Kirche. Nach dem Gottesdienst wanderte ich mit Richard auf den Kirchhof von Elswick, um das Grab unseres Babys zu besuchen. Jener große Friedhof ist jetzt ziemlich gefüllt; Grabsteine stehen dicht neben einander unter dem Schatten der Bäume. Der Abhang, von dessen Gipfel man die Höhen von Durham erblickt, während im Thale der Tyne sein Silberband nach Blaydon und Newburn und dem, in der Geschichte Englands als Geburtsort von Georg Stephenson unsterblichen Wylam entlang windet, ist heute wellenförmig mit unzähligen Grabhügeln bedeckt. Damals war er noch größtenteils Gartenland und nur hier und da erhob sich ein Rosenhügel oder ein weißes Steindenkmal im Gebüsch und deutete auf die Bestimmung des Ortes hin.

Die Ruhestätte unseres Lieblings bezeichnete ein kleines Kreuz, auf dem der schöne Spruch stand: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.‹

Der Tag war bitter kalt, der Nordostwind heulte durch das Tynethal und der Sonnenschein blitzte zuweilen über die Hügel hin und verschwand wieder, wenn die am Himmel dahinjagenden dunkeln Wolken das Tagesgestirn bedeckten.

Mein Mann stand eine Zeitlang schweigend an dem kleinen Grabe. Der winzige Hügel, unser Name, sowie das Alter des Kindes auf dem Kreuz – ›fünf Monate und acht Tage‹ – machten einen tiefen Eindruck auf ihn. Dann nahm er den Hut ab, kniete nieder und betete.

Ein Herz von Stein würde gerührt worden sein bei dem Anblick des Seemannes, der mit im Winde flatternden Haaren und gefalteten Händen, die Augen auf das kleine Kreuz gerichtet, hier an der Ruhestätte seines Kindes betete, das er nie gesehen, das er zwar liebte, aber sich nur als verklärten Geist vorstellen konnte.

Niemals war ich so tief durchdrungen von dem wunderbaren Geheimnis des Todes, als in jener Stunde.


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