Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXI

Langsam zuerst, vorsichtig und dann immer heftiger begannen die Zeitungen, nach langen Jahren wieder einmal von Persien zu sprechen, dem befreundeten Königreich im nahen Orient und von Seiner Majestät dem Schah, dessen letzter Besuch in Wien dem Volk von Österreich, ja allen Völkern der Monarchie noch in Erinnerung sein mußte. Russische Aspirationen, englische Winkelzüge, französische Intrigen berichteten die Korrespondenten aus Petersburg, London und Paris.

Das »Fremdenblatt« schickte einen Journalisten nach Teheran. Er erzählte von persischen Sitten, persischen Frauen, persischen Gärten, von der persischen Armee, von persischen Bauern. Nach einigen Artikeln glaubte sich ein Wiener ebenso heimisch in Teheran wie in Döbling, Grinzing, in der Leopoldstadt und am Alsergrund.

Nichts steht in den Zeitungen über Persien, was nicht eine besondere Bedeutung hätte, eine besondere politische Bedeutung. Die Politiker, die Diplomaten, die Journalisten wissen es: Der Schah von Persien wird noch einmal nach Wien kommen.

Am Ballhausplatz durchstöbert man die Protokolle. In der Hof- und Kabinettskanzlei Seiner Majestät forscht man nach dem geringsten Vorfall, der sich seinerzeit, beim letzten Besuch des Schahs von Persien, ereignet hatte. Man blätterte auch in den alten Archiven der Wiener Sicherheitspolizei.

In diesen Tagen hatte Lazik den glänzenden, um nicht zu sagen: unbezahlbaren Einfall, das neue »Welt-Bioscop-Theater« im Prater um eine Aktualität zu bereichern. Alle Zeichnungen, Skizzen und Porträts der »Kronen-Zeitung« vom Besuch der persischen Majestät besaß er noch. Zehn Gulden zahlte Mizzi Schinagl für die Idee.

Es war kein Zweifel: Die Reichshaupt- und Residenzstadt bereitete sich auf einen Empfang der persischen Majestät vor. Alle Redaktionen wußten es. Bald wußten es alle Amtsdiener, alle Hoflakaien, alle Kutscher, alle Dienstmänner, alle Wachleute. (Zuletzt erfuhren es, wie gewöhnlich, die fremden Diplomaten.)

Tino Percoli stellte für fünfzig Gulden die »brennende Aktualität« her: den Schah von Persien, den Großwesir und dessen Adjutanten und den Obereunuchen. Die Haremsfrauen waren überflüssig. (Zur Not konnte man sie aus dem bereits fertigen Harem des Sultans in das neu zu errichtende »Persische Zimmer« übernehmen.) In der Hof- und Kabinettskanzlei, im Ministerium des Innern und im Ministerium für Verkehr und Handel, in der Wiener Polizei und in der von Triest, im Triestiner Hafen und in der Direktion der Südbahn: überall war man parat. Winzige Rädchen, unverständige, im unverständlichen Betrieb des vielfältigen Reiches, begannen die kleinen Beamten, mit sinnlosem Eifer zu surren, zu suchen, zu schreiben, zu schwirren, Berichte zu erstatten, Berichte entgegenzunehmen. Man erinnerte sich, daß die Koffer Seiner persischen Majestät einst eine unverzeihliche, fast irreparable Verspätung erlitten hatten. An alles erinnerte man sich. Alles grub man aus: Zeremonielle, Namen, Programm des Hofballs, des Empfangs, die Offiziere des seinerzeit an der Franz-Josephs-Bahn gestellten Ehrenregiments, die Oberstenuniform des persischen Eliteregiments, dessen Inhaber der Kaiser war. Man erinnerte sich auch an den Rittmeister Baron Alois Franz von Taittinger, der seinerzeit, zwecks besonderer Verwendung, von seinem Regiment detachiert gewesen war. Und einer der besonders eifrigen Beamten, Werkzeug des Schicksals und ahnungslos, wie die Werkzeuge des Schicksals sein sollen, folgte gewissenhaft den Spuren, die Taittingers Taten und Untaten hinterlassen hatten, und berichtete getreulich, was er erfahren hatte, der Polizei. Auch hier gab es eifrige Werkzeuge des Schicksals, und sie schickten Berichte an das Kriegsministerium.

Um jene Zeit befand sich der Akt Taittinger in den Händen des Kriegsministerialrats Sackenfeld. Schon war er im Begriff gewesen, die Überprüfungskommission zu bestimmen und das Datum, an dem sich der Rittmeister vor ihr präsentieren sollte, als er den Bericht bekam mit der Überschrift: »Streng geheim, betrifft Taittinger«. Er ging mit dem Akt und dem Bericht zum Oberstleutnant Kalergi in den linken Trakt. Es war beiden Herren klar, daß man jetzt, im Augenblick, an Taittingers Gesuch nicht denken dürfe.

Man mußte es dem Baron sagen. Oberstleutnant Kalergi schnallte den Säbel um und ging.


Er traf Taittinger im Hotel; einen verbitterten, veränderten und, wie es Kalergi schien, sehr schnell gealterten Taittinger. Das runde Tischchen in der Hotelhalle, an dem er saß, war von einem riesigen, viereckigen Plakat überdeckt, das der Baron bekümmert studierte. Er erhob sich schwerfällig. Obwohl Taittinger keinen Stock hatte, schien es Kalergi, als stützte er sich auf einen unsichtbaren Stock. Kalergi setzte sich. Taittinger unterließ die übliche Frage nach Wohlergehen und Gesundheit und Frau.

»Du kennst ja mein ganzes Leben, Kalergi«, begann er sofort. »Du weißt ja die blöde Geschichte mit der Schinagl und dann die Affäre. Und von meinem Sohn hab' ich dir auch erzählt. – Jetzt also, vor zwei Wochen, hab' ich alles geregelt. Ich hab' das Panoptikum bezahlt, du weißt, das neue ›Welt-Bioscop-Theater‹. Ihr Sohn, das heißt: mein Sohn, Xandl heißt er – das wirst du auch wissen, ist wegen Raubmordversuchs, glaub' ich, eingesperrt –.«

»Ah, die Geschichte!« sagte Kalergi. »Die hab' ich gelesen!«

»Ja, also!« fuhr Taittinger fort. »Jetzt hab' ich natürlich, bevor ich wieder in die Armee geh', entschieden Schluß machen wollen mit den alten blöden Geschichten. Und jetzt aber, vor einer Viertelstund' eben, bringt mir der Trummer, es führt zu weit, dir zu erklären, wer er ist aber er ist ein Freund der Mizzi –, dies Plakat – und morgen wird's in allen Zeitungen stehn, an allen Wänden kleben.« Taittinger schob das Plakat dem Oberstleutnant Kalergi zu, der las:

»Das neue ›Welt-Bioscop-Theater‹ zeigt aus Anlaß der Wiederkehr Seiner Majestät des Schahs von Persien naturgetreu und nachgebildet:

  1. Die Ankunft des großen Schahs mit seinen Adjutanten am Franz-Josephs-Bahnhof (Hofzug verkleinert).
  2. Den Harem und den Obereunuchen von Teheran.
  3. Die Kebsfrau von Wien, ein Kind des Volkes aus Sievering, dem Schah zugeführt von höchsten Persönlichkeiten und seitdem Beherrscherin des Harems in Persien.
  4. Restliche Suite des Schahs von Persien.«

Oberstleutnant Kalergi faltete sorgfältig das große Plakat zusammen, sehr langsam, ohne aufzusehn. Er hatte Angst, den verzweifelten Blick Taittingers anzuschauen. Aber er war gekommen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Er wollte anfangen. Er glättete noch ein wenig das gefaltete Plakat und überlegte die ersten Worte.

»Ich bin ungeduldig«, sagte Taittinger. »Verstehst du das? Ich hab' mein ganzes Leben leichtsinnig gehandelt, ich seh's jetzt, aber es ist zu spät. Schau her – heut hab' ich mich im Spiegel angeschaut und hab' gesehn, daß ich alt bin. Jetzt grad' vor dem Plakat ist mir eingefallen, daß ich immer blöd gewesen bin. Vielleicht hätt' ich die Helen' heiraten sollen. Jetzt gibt's nix mehr für mich als die Armee. – Was weißt du Neues von meiner Sache?«

»Eben deswegen bin ich gekommen«, sagte der Oberstleutnant.

»Na und?«

»Ja, lieber Freund! Die alte Geschichte, die Affäre, wie du sagst! Ich hab' eben die Sache mit dem Sackenfeld besprochen. Du mußt warten, der Tepp von Teheran kommt uns dazwischen. Die Polizei gräbt die alten Akten aus, und grad' jetzt kommst du wieder vor. Ich kann nur sagen: abwarten!«

»Ich kann also nicht jetzt – ?«

»Nein«, sagte Kalergi. »Deine blöde Geschichte ist wieder da. Lieber rührt man nicht dran.«

Taittinger sagte nur: »So« und »Danke!« Dann blieb er eine kurze Weile still. Es war schon spät am Abend, man entzündete die Lichter in der Halle. »Ich bin ein Verlorener«, sagte Taittinger. Er schwieg eine Weile und fragte dann schrill, mit einer Stimme, die nicht aus ihm selbst kam: »Also ist nichts mit dem Gesuch?«

»Vorläufig nichts!« erwiderte Kalergi. »Warten wir ab, bis die persische Geschichte aus ist.« – Und, um den Freund wieder in das normale Leben zurückzuführen, fügte Kalergi hinzu: »Gehn wir zum ›Anker‹ essen!« – und sah auf die Uhr.

»Ja, ich muß mich nur waschen!« sagte Taittinger. »Wart einen Augenblick! Ich geh' ins Zimmer.« Er stand auf. Fünf Minuten später hörte Kalergi einen Schuß. Mit langem Echo tönte er wider auf Treppen und Korridoren.

Man fand den Baron tot neben dem Schreibtisch. Offenbar hatte er versucht, etwas aufzuschreiben. Der Revolver lag noch in seiner Rechten. Der Schädel war zerschmettert. Die Augen quollen hervor. Der Oberstleutnant Kalergi schloß sie mühsam.

Man begrub Taittinger mit den üblichen militärischen Ehren. Ein Zug schoß die Ehrensalve ab. Am Leichenzug nahmen teil: der Direktor des Hotels Prinz Eugen, Mizzi Schinagl, Magdalene Kreutzer und Ignaz Trummer, der Oberstleutnant Kalergi und der Ministerialrat Sackenfeld.

Auf dem Rückweg fragte der Ministerialrat: »Weshalb hat er sich eigentlich umgebracht? Sie waren ja sozusagen dabei?«

»Halt so!« antworte Kalergi. »Ich glaub', er hat sich verirrt im Leben. Derlei gibt's manchmal. Man verirrt sich halt!«

Dies war der einzige Nachruf auf den ehemaligen Rittmeister, den Baron Alois Franz von Taittinger.


 << zurück weiter >>