Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XXX

Um fünf Uhr nachmittags sollte Taittinger ins Café Zirrnagl kommen. Seit vier Uhr erwarteten ihn die Schinagl, die Kreutzer und der Trummer. Jeden von den dreien beherrschte die Furcht, der Baron könnte es sich im letzten Augenblick überlegen und also ausbleiben oder, was noch schlimmer war, gestern schon weggefahren sein. Man hätte ihn fester halten müssen! dachte die Kreutzer.

Aber da kam er schon im Fiaker. Sie kannte seine Gewohnheit. Er liebte es nicht, an dem Ort vorzufahren, an dem er aussteigen sollte. Sie hatte Zeit genug, die breite Straße zu überqueren und ihn noch rechtzeitig zu erreichen.

»Ich bin hoffentlich nicht zu spät?« fragte Taittinger. »Hast du hier auf mich gewartet?« Er sah auf die Uhr, er war pünktlich wie immer. »Ich muß was schnell vorher erzählen!« sagte Mizzi. Sie hatte gar keine Angst mehr vor dem Widerwillen des Barons gegen heftige und intime Bewegungen. Sie glaubte in diesem Augenblick zu fühlen, daß er allein, von allen Menschen in der Welt er allein, ihr vertraut war. Ihr Geliebter war er. Sie liebte ihn mehr als ihren Sohn und ihren Vater. Sie wußte es jetzt ganz genau. »Was gibt's denn, was gibt's denn?« fragte er. Er ließ sich in die Seitengasse führen. »Ich möcht' nicht, daß du das Kabinett kaufst«, begann sie. Sie sagte du, es schien ihr selbstverständlich, sie sprach zum erstenmal so zu ihm, am Tage, wie sonst nur in der Dunkelheit vertrauter Nächte. Sie habe selbst noch Geld genug und sie brauchte ja auch seine Hilfe nicht. Sie hatte nur die Ratschläge der Kreutzer befolgt, aber dies sei schlecht von ihr. Sie wollte nichts mehr Schlechtes anstellen. Und außerdem hatte sie noch ein Gnadengesuch gemacht, für den Xandl, ja –

»Nein, liebe Mizzi«, sagte er, mit einer Stimme, die sie nicht kannte. Er befreite seinen Arm. Seine Stimme kam von weitem, jede Silbe war eine zuschlagende metallene Tür. Die Sätze schnappten ein wie einst der Riegel an der Zellentür draußen. »Nein, ich zahle meine Schulden. Du hast dann eine sichere Existenz und der Junge auch, wenn er einmal herauskommt! – Gehn wir!« sagte er – und sie folgte ihm, einen halben Schritt hinter ihm, so schnell ging er dahin. Ihr Herz klopfte nicht mehr, obwohl sie jetzt eilen mußte, und ihr Kopf war leer, ausgehöhlt und dennoch schwer. Wie eine fremde Last saß er auf ihrem Hals.

Nur schnell fertig werden, dachte Taittinger, als er ins Café Zirrnagl eintrat. Da saßen sie schon, der Besitzer des Panoptikums und der Makler und noch einer, den Taittinger noch nicht kannte. Es war der juristische Beirat, der den Vertrag aufsetzen sollte, der Pollitzer. Taittinger strengte sich gar nicht an, um die einzelnen Phasen des Gesprächs zu begreifen. Er bemühte sich lediglich, die Verwirrung zu unterdrücken, die nicht aus ihm selber kam, sondern die von allen Seiten auf ihn einströmte, eindrang wie Wind, Gestöber, Staub und Eisregen zugleich.

Er hatte noch kaum seinen Kaffee angerührt, und schon mahnte der Pollitzer zum Aufbruch. Taittinger fragte, ob man endlich fertig sei. »Leider nicht, Herr Baron!« sagte Pollitzer, der hier das Wort führte und den alle »Herr Doktor« nannten. »Wir müssen mit dem alten Percoli sprechen, er wohnt nur zwei Häuser weiter. Herr Baron ziehen es vielleicht vor, uns hier zu erwarten?« Nein, dagegen wehrte sich etwas in Taittinger. Er konnte hier nicht allein bleiben, obwohl er auch etwas Unbehagen vor Pollitzers Lavallière-Krawatte, vor seinem Schlapphut, seiner bunten Samtweste und den vielen Papieren in seiner Rocktasche empfand. Er ging zwei Häuser weiter. Er folgte dem Trupp, gehorsam wie ein Haustier und mit verdoppelter, weil mühsam gezähmter Ungeduld. Er stieg die drei Treppen empor. Er trat hinter den andren durch eine finstere Küche in ein helles, von einem Glasdach überdecktes Atelier. Der alte Neapolitaner blieb sitzen.

Den Vertrag hatte Pollitzer mitgebracht, der alte Tino Percoli verpflichtete sich darin, die Aktualitäten der letzten Monate nachzuliefern, gegen einen Vorschuß von hundert Gulden. Er durfte innerhalb der Monarchie keine gleichen Modelle anbieten, an das Berliner Panoptikum erst in einem Abstand von zwei Wochen. Ausgenommen war das Musée Grevin in Paris und überhaupt das Ausland. »Den Vertrag behalt' ich bis morgen«, sagte Percoli. »Morgen nachmittag! Ich will ihn allein durchlesen.«

»Ich bitte um die Freundlichkeit, das durchzulesen, was Herrn Baron betrifft«, sagte Pollitzer. Taittinger mußte noch einmal ins Café.

Es erwies sich, daß er siebenhundert Gulden in bar zu erlegen hatte, für den Rest – achthundert rund – garantierte er. Man brachte ihm Tinte und Feder. Er unterschrieb mit fester und heiterer Hand. Es kam ihm vor, daß er gewaltige Lasten abgeworfen, das Gewissen befreit hatte, Sorgen entronnen war, allen möglichen Verwicklungen und Peinlichkeiten. Er nahm geradezu herzlichen Abschied von allen. Er versprach, Sonntag zur Neueröffnung des Panoptikums zu kommen. Es sollte einen neuen Namen tragen. Pollitzer hatte vorgeschlagen: »Das Welt-Bioscop«. Der Name gefiel allen Beteiligten. Man ging trinken. Man machte nicht einmal den Versuch, den Baron einzuladen. Mizzi Schinagl begann plötzlich zu weinen. »Warum?« fragte man. »Ach so, vor Freude«, erwiderte sie.


Die Eröffnung des neuen »Großen Welt-Bioscop-Theaters« fand statt unter dem Andrang des spektakelsüchtigen Publikums der Reichshaupt- und Residenzstadt.

Der arme Taittinger hatte gar keine Möglichkeit fernzubleiben. Er ließ das ganze Programm über sich ergehen.

Der Vorhang ging leise kreischend auf, und Taittinger sah maßlos erschrocken die Mizzi auf einem roten Thron. Es war in der Tat unmöglich zu erkennen, ob sie wächsern oder lebendig war. Eine schwere, gelb, silbern und zugleich auch bläulich schimmernde, dreifach geschlungene Kette aus schweren, großen Perlen zierte ihren wächsernen Hals und den wächsernen Ausschnitt der Büste. Wuchtige Diamanten hingen an ihren Ohrläppchen. Zauberlicht kam aus einem Rundbrenner, der sich hinter einem blauen Schleier verbarg, an der Decke. Auf dem Kopf trug die »Lieblingsfrau des Schahs« einen türkischen Halbmond, gestützt und gehalten von zwei silbernen, schmalen Pfeilen, zwischen denen das Haar in goldener Fülle wucherte. Reglos saß die Mizzi – war sie es wirklich? – auf ihrem roten Thron.

Ja, es war die Mizzi. Sie begann jetzt mit ihrer gewöhnlichen Stimme zu sprechen: »Seine Majestät der Schah von Persien ist sehr gut zu mir, einmal war ich ein armes Kind aus dem Wiener Volke. Ich herrsche über alle Frauen des Harems, und mich hat er am liebsten. Ich gedenke, noch lange Jahre zu herrschen, und ich grüße Wien, die Wienerstadt und das Wiener Volk und den alten Steffl!«

Alle klatschten. Mit hurtigem Gerassel schloß sich der Vorhang. »Diese Vision ist zu Ende!« verkündete Trummer.

Alle Welt drang nun zum Vorhang vor. Die Verwirrung benutzte Taittinger. Er ging. Er floh.


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