Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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II

Ein paar Tage kreuzte das bräutliche Schiff des Schahs im blauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem großen Herrn zu sagen, daß man auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten müsse. Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sich um den Kurs des Schiffes nicht kümmerte, konnte er doch nicht umhin, zu bemerken, daß immer wider das gleiche Stück der Küste auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmählich sonderbar, daß ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein so kleines Meer zu durchqueren. Er ließ den Großwesir kommen und deutete ihm an, daß er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Überfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewiß war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein wenig in der des Kapitäns. Überhaupt, sooft er an den Kapitän dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitän gar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war nämlich äußerst mißtrauisch. Selbst die Männer, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdächtigte er leicht und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? Ja, er war dermaßen mißtrauisch, daß er nicht einmal sein Mißtrauen zu erkennen zu geben wagte – in der kindischen und mächtigen Herrn oft eigenen Überzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Großwesir auch nur vorsichtig an, daß ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Großwesir aber, der wohl erkannte, daß der Schah sein Mißtrauen nicht ausdrücken wolle, gab keineswegs zu erkennen, daß er Mißtrauen spüre.

»Herr«, sagte der Großwesir, »auch mir erscheint es unverständlich, daß wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu überqueren.«

»Ja«, bestätigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung des Großwesirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht worden wäre, »ja, du hast recht: warum fahren wir so langsam?«

»Man müßte, Herr, den Kapitän befragen!« sagte der Großwesir.

Der Kapitän kam, und der Schah fragte: »Wann erreichen wir endlich die Küste?«

»Großmächtiger Herr«, erwiderte der Kapitän, »das Leben Eurer Majestät ist uns allen heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heiliger als unsere Mütter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente kündigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestät an Bord sind, müssen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres für unser Leben, für unser Land, für die Welt als das geheiligte Leben Eurer Majestät? – Und unsere Instrumente kündigen leider Sturm an, Majestät!«

Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff gewölbt, strahlend. Der Schah dachte, daß ihn der Kapitän belüge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: »Mir scheint, Kapitän, daß deine Instrumente gar nichts taugen!«

»Gewiß, Majestät«, antwortete der Kapitän, »auch Instrumente sind nicht immer zuverlässig!«

»Ebenso wie du, Kapitän«, sagte der Schah.

Auf einmal bemerkte er ein winziges, weißes Wölkchen am Rande des Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: es war kaum ein Wölkchen, es war ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wölkchen. Auch der Kapitän hatte es im gleichen Augenblick erspäht – und schon hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen und er und seine Lüge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente würden in den Augen des Herrn aller Gläubigen plötzlich gerechtfertigt sein.

Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzig und hauchdünn das Wölkchen auch war, so verstärkte es doch den Zorn des Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, daß er Großwesir und Kapitän auf einer niederträchtigen Lüge ertappt hatte – und jetzt kam die Natur selbst – gebar ein Wölkchen (und wie leicht konnten richtige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch den lügenden Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksamkeit beobachtete der Schah die unaufhörlich wechselnden Formen des Wölkleins. Bald lockerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bißchen. Dann aber ballte es sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus wie ein Schleier, in einen Knäuel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Länge. Dann schließlich wurde es dunkler und fester. Der Kapitän stand immer noch hinter dem Rücken des Schahs. Auch er betrachtete die wechselnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern mit tröstlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jäh und wütend wandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschien dem Kapitän wie eine Art gefährlicher violetter Hagelwolke. »Ihr täuscht euch alle«, begann der mächtige Herr ganz leise, mit einer Stimme, die, beinahe tonlos, aus unbekannten Gründen der Seele kam. »Ihr täuscht euch alle, wenn ihr glaubt, daß ich eure Manöver nicht durchschaue. Die Wahrheit sagst du mir nicht! Was erzählst du mir von deinen Instrumenten? Was für einen Sturm verkünden sie? Mein Auge ist noch lange so sicher wie deine Instrumente. Ringsum ist der Himmel klar und blau, selten noch habe ich einen so klaren und blauen Himmel gesehen. Mach deine Augen auf, Kapitän! Sag selbst, siehst du auch ein einziges, noch so geringes Wölkchen am Horizont?«

Der Schrecken des Kapitäns war groß, aber gewaltiger noch war sein Erstaunen. Und noch größer als sein Schrecken und sein Staunen war seine Ratlosigkeit. War der Zorn des Herrn echt oder gespielt? Stellte ihn der Herr auf die Probe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in der Nähe des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten. Der und jener hatte dem Kapitän gelegentlich erzählt, daß der Schah manchmal den Erzürnten spielte, um den Grad der Aufrichtigkeit zu erkennen, dessen seine Diener fähig sein konnten. Unglücklicherweise dachte der arme Kapitän gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen durchaus nicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn, und er entschloß sich, aufrichtig zu sein. »Herr«, sagte er, »die Augen Eurer Majestät haben soeben die Wolke dort am Horizont gesehen.« Und er trieb, der unselige Kapitän, seine Kühnheit so weit, daß er sogar den Finger ausstreckte und nach dem Wölkchen wies, das inzwischen eine richtige schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicher Eile dem Schiffe näher trieb.

»Kapitän!« donnerte der Schah, »willst du mich lehren, den Himmel anzusehn? Nennst du jenes lichte Nebelchen dort eine Wolke? Spürst du nicht die Strahlen der Sonne?«

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas Unerwartetes. Die Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tiefe, regenträchtige blauschwarze Gewitterwolke geworden, hatte soeben die Sonne erreicht, und sie verfinsterte die Welt.

Der Kapitän streckte beide Arme aus, und über seine zitternden Lippen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollte er sagen: Herr, zu meinem Bedauern bin ich gezwungen, den Himmel sprechen zu lassen. Er schickt sich eben an, statt meiner Eurer Majestät zu antworten.

Zwar hatte auch der Schah selbstverständlich gesehn, wie sich die Sonne verfinsterte. Noch wußte er nicht genau, ob er sich freuen sollte über die Ehrlichkeit seiner Diener, die ihm in der Tat genauen und wahrheitlichen Bericht über den nahenden Sturm gegeben hatten, oder ob er sich ärgern sollte darüber, daß er seinem eigenen Mißtrauen erlegen war. Er fühlte, daß er in Gefahr war, seine Verwirrung zu verraten. Dies durfte auf keinen Fall geschehen – und deshalb befahl er: »Zeig mir deine Instrumente, Kapitän!«

Während sie das Deck entlanggingen, der Schah voran, der Kapitän hinterdrein, verfinsterte sich der Himmel noch mehr, soweit man sehen konnte, mit Ausnahme eines schmalen blauen Streifens im Nordosten. Im Westen waren die Wolken ganz böse und violett, im Zenit des Himmels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichteten sie sich zu einer geradezu als gütig zu empfindenden Blässe. Der Kapitän, drei Schritte hinter dem Schah, geriet in eine wahrhaftige, ehrliche Furcht. Diesmal war es nicht wie vorher Angst vor dem Herrscher und vor der eigenen Lüge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt, und vor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte. Zum erstenmal hatte der Kapitän die Ehre, den Schah-in-Schah auf seinem Schiff zu beherbergen. Was wußte er von den Gesetzen der Diplomatie, der brave Kapitän? Seit zwanzig Jahren kreuzte er die Meere, immer auf diesem kaiserlichen Dampfer Achmed Akbar. Viele Stürme hatte er erlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen gefahren, und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst kennengelernt. Niemals seit seinem Regierungsantritt hatte dieser Schah das Bedürfnis empfunden, ein Meer zu überqueren. Ihn, den armen Kapitän, traf die gefährliche Auszeichnung, den mächtigen Herrn zum erstenmal über Wasser zu führen. »Wir dürfen nicht in der vorgeschriebenen Zeit Europas Küste erreichen«, hatte ihm der Großwesir gesagt. – »Seine Majestät haben einen höchst ungeduldigen Charakter und wollen ihre Wünsche erfüllt haben, kaum sind sie ausgesprochen. Aber es gibt, verstehn Sie, Kapitän, diplomatische Hindernisse. Wir müssen erst die Antwort Seiner Exzellenz unseres Botschafters abwarten. So lange müssen wir trachten, nahe der Küste herumzukreuzen. Wenn es Seiner Majestät einfallen sollte, Sie zu fragen, so sagen Sie, daß Sie Sturm befürchten.«

So hatte der Großwesir gesprochen. Und siehe da: der Sturm war wirklich im Anzug. Und die Instrumente hatten ihn doch gar nicht angekündigt. Einfach die Lüge hatte ihn angekündigt, einfach die Lüge! Gläubig war der Kapitän, und Allah fürchtete er.

Sie kamen in die Kabine des Kapitäns. Es gab da wenig Instrumente, insbesondere aber keine, die etwas vom nahenden Sturm aussagen konnten. Es gab nur eine große Bussole, englisches Fabrikat, festgeschraubt auf einer runden Tischplatte. Der Schah beugte sich darüber. »Was ist das, Kapitän?« fragte er. »Majestät, eine Bussole!« sagte der Kapitän. »Aha«, sagte der Schah. »Andere Instrumente hast du nicht?« – »Hier nicht, Majestät, sie sind daneben, im Zimmer des Ingenieurs!« – »Also Sturm?« fragte der Schah. Er hatte keine Lust mehr, andere Instrumente zu sehn, und außerdem wünschte er sich ehrlich einen Sturm herbei. »Wann wird endlich dieser Sturm kommen?« fragte er gütig. »Ich schätze, nach Sonnenuntergang!« sagte der Kapitän.

Der Schah ging, hinter ihm der Kapitän. Als sie auf das Verdeck traten, war der Tag bereits fast so finster wie eine richtige Nacht. Der Offizier vom Dienst kam eilig heran, er lief, er galoppierte. Er meldete dem Kapitän irgend etwas, in Ausdrücken, die der Schah noch niemals gehört hatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die beiden zu kümmern. Er trat an die Reling und betrachtete mit aufrichtigem Vergnügen den wütenden Gischt der anstürmenden, zurückweichenden und immer wieder anstürmenden Wogen. Das Schiff begann zu schwanken. Die Welt begann zu schwanken. Die Wogen waren grüne, schwarze, blaue und graue Zungen mit schneeweißen Rändern. Ein gewaltiges Unbehagen ergriff plötzlich den Schah. Ein unbekanntes Ungeheuer wühlte und wand sich in seinen Eingeweiden. Einmal, er erinnerte sich, er war noch ein Knabe gewesen und krank, sehr krank, hatte er ein ähnliches Übel verspürt.

Den Kapitän ergriff eine doppelte Aufregung: Erstens war sein Herr unpäßlich; und zweitens näherte sich eben jener Sturm, den er so leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitän wußte nicht mehr, um was er sich eifriger kümmern müsse: um den Sturm oder das Unbehagen des Herrn.

Er entschloß sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzuwenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen hatte, sofort möglichst dicht an die Küste zurückzukehren. Ausgestreckt, in mehrere Decken gehüllt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den er so haßte und der, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt über dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverständlich war: er flößte dem Schah Baldrian ein. Die ersten, schweren Regentropfen fielen auf den weichen Samt des Zelts, das man dem Schah gebaut hatte. Der Wind ließ leise die Ringe erklirren, die des Zeltes Wände mit den drei metallenen Stäben verbanden. Der Schah fühlte sich wohler. Er wußte, daß es draußen blitzte, und den Donner hörte er mit wonnigem Behagen. Seine Übelkeiten verschwanden, kein Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei Seemeilen von der Küste. Nur das Meer klatschte in regelmäßiger Wut gegen die Flanken.

Dieser Sturm war dem Großwesir als eine besondere Gnade des Himmels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretäre Konstantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten kehrten sie am nächsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zurück. Der Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschafters: in Wien erwarte man die Majestät. Alles wäre zum Empfang bereit ...

Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung.

Auch der Kapitän leuchtete. Auch der Großwesir leuchtete. Mit Volldampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen.


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