Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XXVII

Der Prater offenbarte am Vormittag die gesittete Lieblichkeit eines Parks, die geheimnisvolle Stille eines Waldes und die rührige Bewegtheit eines Vorfeiertages.

Man sah damals den Baron Taittinger häufig in der Hauptallee zu Fuß. Vor vielen Jahren – eine Welt lag dazwischen – war er diesen Weg geritten, auf dem Rücken des Pylades.

Manchmal ging der Baron den Rand der Reitallee entlang. An ihm vorbei trabten und galoppierten die Herrschaften. Manche erkannte er, ohne sie erst gesehn zu haben, am Rhythmus und am Schritt der Tiere, an der Reiter Art, im Sattel zu sitzen, Zügel und Peitsche zu halten, an der Krümmung der Rücken. Dies hier war die Stute Glans-Ei-re pasz. Dort ritt Tibor von Daniel. Drüben grüßte eben Emilio Casabona seinen Landsmann, den Grafen Pogaccio. Das Pferd des Bankiers von Goldschmidt war ein Brauner aus dem Gestüt des Grafen Khun-Hedervary, es war seine zweitausend Gulden wert. Dagegen ritt die Seilern und Aspang eine häßliche Stute mit plumpem Gang und viel zu breitem Hinterteil. Mit gründlichem Ernst machte Taittinger jeden Vormittag derlei Feststellungen. Er ging nirgends mehr hin, er kannte immer noch alle. Es kam ihm vor, daß es seine Aufgabe sei, sie in »Evidenz zu halten«. Manchmal beunruhigte ihn die Abwesenheit eines Kavaliers, der schon zwei Tage nicht in der Allee erschienen war. Dann ging er bis zum Spitz und setzte sich ins Gasthaus, wo viele von den Reitern abzusteigen pflegten. Viele erkannten ihn. Was denn mit ihm geschehen sei, fragten sie, und er antwortete immer mit der gleichen lügnerischen Phrase: »Ich bin ganz verbauert!« – So sagte er. Es sei schauderhaft auf dem Gut, aber seine Anwesenheit wäre unbedingt notwendig. Weltfremd und menschenscheu sei er geworden. In einen Salon traue er sich nicht mehr. Und das Leben habe für ihn jeden Sinn verloren. »Jetzt endlich solltest du heiraten!« sagte der alte Baron Wilmowsky, Mitglied des Herrenhauses und seit Jahren leidenschaftlich beflissen, ältliche Herren mit jungen Mädchen aus verschuldeten Familien zu verheiraten. Er gestand freimütig, daß er keine andere Politik betreibe und anerkenne als Familienpolitik. »Ich hätte damals die Helen' heiraten sollen!« sagte Taittinger. »Sie ist recht unglücklich!« antwortete Wilmowsky, »Graf W. ist paralytisch. Der junge Tschirschky macht ihr den Hof. Ihr Mann war immer schon ein bisserl teppert.«

Die Vormittage waren auf diese Weise meist der Aristokratie gewidmet. Die Nachmittage aber weihte der Baron dem »Volk«, ebenfalls im Prater. Er kam oft am Karussell vorbei, unterhielt sich mit der Mizzi, mit der Kreutzer und mit Herrn Trummer, ging mit ihnen gerne zur Militärmusik, ins Zweite Caféhaus, und ließ sich den Stand der Verhandlungen über das Wachsfigurenkabinett berichten. Er fand Gefallen am Panoptikum überhaupt. Wachsfiguren waren ganz sympathisch; netter als ein Karussell auf alle Fälle. Trummer sagte, es gehöre ein ordentliches Stück Geld dazu, die Geschichte Himmel-Herr-Gottsakra no amoi! richtig zu machen. Allerdings waren dann die Verdienstchancen unabsehbar. Manchmal kam es vor, daß Mizzi Schinagl, als hätte sie sich plötzlich wieder einer längst vernachlässigten Pflicht entsonnen, mit der Kreutzer oder dem Trummer den Platz tauschte, hart an den Baron heranrückte und leise seine Hand streichelte. Das erstemal erschrak er und wurde plötzlich schweigsam. Dann gewöhnte er sich an seine Ausrede: Es macht eh nix, die Mizzi ist brav; es sind überhaupt alles brave Leute. Es waren halt ihre »volkstümlichen Sitten«. Allmählich gefielen ihm diese Sitten sogar. Es ging eine freundliche Wärme von Mizzi Schinagl aus, an so kühlen Frühlingsabenden. Warme Erinnerungen erwachten, Erinnerungen an ihren Körper, an manche seiner geheimen Merkmale, an seine verborgenen Lüsternheiten, an seine wollüstigen Geschenke. Störende Gebärden vollführte die Mizzi freilich. Sie merkte sie aber selbst zuerst und begann allmählich, sich ihrer zu enthalten. Sie bändigte ihre Lebhaftigkeit, schlug nicht mehr die Hände vors Gesicht, wenn sie lachte, und schrie nicht mehr auf, wenn sie erschrak. All dies zwang sie sich ab, den Trost im Herzen, den sie einst in der Schule parat gehalten hatte: Es dauert ja doch nur vier Stunden. Sehr wirres und widerspruchsvolles Zeug huschte durch ihren Kopf. Sie hatte sich auch in der Anstalt lediglich bestraft gefühlt, ebenfalls wie einst in der Schule; aber keineswegs etwa entwürdigt. Jetzt aber in der Freiheit empfand sie, daß ihr zu Unrecht ein Schimpf anhaftete. Zu Unrecht! Denn worin war sie schuldig? Sie überlegte angestrengt und schritt mit der Genauigkeit, deren nur Beleidigte und Geschmähte fähig sind, Jahr für Jahr, Handlung für Handlung ihres bisherigen Lebens ab. Am Anfang stand Taittinger. Vorher war nichts als der unbestimmte Dämmer des väterlichen Ladens gewesen. Ein Glanzumflossener trat plötzlich ein. Sterne hat er am Kragen, Sonnen am Rock und einen silbernen, schmalen Blitz an der Hüfte. Man hätte brav den Friseur Xandl geheiratet, wenn der Strahlende nicht gekommen wäre! Man wäre zur Matzner nicht gekommen! Man wäre auch nicht ein Kebsweib geworden und mit Perlen beschenkt. Perlen bringen Unglück! Schuld war der Taittinger.

Unfähig, wie sie war, lange Zeit zu schweigen, sprach sie ihre Gedanken vor der Kreutzer aus. Sie erntete Zustimmung. Den Bankert erwähnte die Kreutzer. Es war Taittingers Pflicht, Mutter und Sohn zu erhalten. Ignaz Trummer kam herbei. Er war der gleichen Meinung. »Alle Menschen san gleich« – von dieser Prämisse ging er aus. »Unseresgleichen wird ›vurgeladen‹, wann er kane Alimenter zahlt – und ujegerl, was noch für Tanz! Zarwuzeln kennt ma si! –« Trummer dachte an seine drei unehelichen Kinder. Was für Scherereien! Ihn hatten die Mütter natürlich verklagt. In zwei Fällen war es ihm gelungen, die Vaterschaft abzuleugnen. Das dritte Kind, ein Mädchen, hatte er bei seiner alten Tante in Krieglach untergebracht. Da war es in einen Waschkessel gefallen und verbrüht. Derlei »Sperenzln« machte man den noblen Herren nicht. Es war nur selbstverständlich, wenn der Baron das Wachsfigurenkabinett der Mizzi zum Präsent machen tät'! Und das war' noch auch für all das Ausgestandene eine mittelmäßige Entschädigung.

»Ich lieb' ihn halt immer noch!« gestand die Schinagl. Sie liebte ihn in der Tat. Manchmal glaubte sie, daß sie dem Taittinger noch einmal folgen könne, wie einst, vom Vater fort in die Herrengasse und hierauf ins Haus der Matzner gehen und ein Kind haben und Unglücksperlen bekommen und noch einmal eingesperrt werden. Sie bereute nichts von all dem. Auch das Heimweh nach ihm, seinen Händen, seinem Geruch, seinen Nächten, seiner Liebe zehrten an ihrem Herzen. Sie verlangte nach ihm; und es erschien ihr selbst merkwürdig, in klaren Augenblicken, daß ihr dieses Verlangen nicht allein die Liebe befahl, sondern auch Rachsucht. Vergeltung wollte sie üben. Sie gehörte zu Taittinger. Weshalb blieb er ihr fern?

Sie wußte, daß er am Vormittag im Prater zu spazieren pflegte; sie machte sich einmal auf, um ihm zu begegnen. Sie erblickte ihn zuerst aus der Ferne, weit vor ihr ging er, seinen Rücken erkannte sie und seinen Gang. Dünn und zart ging er dahin, mitten zwischen den starken Bäumen, es rührte sie zu Tränen; über seine Art dahinzugehn allein hätte sie weinen mögen. Es war eigentlich wunderschön, dem Herrn zu folgen, nur seinen Rücken zu sehen und zu lieben und seinen Schatten, wenn er dann und wann die Allee verließ und in der sonnigen Straße weiterging. Sie nannte ihn in Gedanken: den Herrn, den Baron, den Rittmeister. Auch im stillen wagte sie nicht, ihn Franz zu nennen – aus körperlicher Angst. Wenn sie »Franz« dachte, fuhr ein Schwert durch ihr Herz.

Es war gut, daß sie ihm nicht zufällig entgegengekommen war; das hätte sie vielleicht nicht ausgehalten. Sie wollte auch schon umkehren, damit er ihr heute, heute nicht, heute noch nicht begegne; das Umkehren aber konnte noch etwas Zeit haben. Sie ging, ohne es zu wissen, immer schneller. Jetzt konnte sie schon seinen Schritt hören. Plötzlich blieb er stehn, wandte sich schnell um und erblickte sie. Er hatte gefühlt, daß man ihm folgte.

Er ließ sie herankommen. »Weißt, Mizzi, Überraschungen hab' ich nicht gern!« – Er war ehrlich, er haßte Überraschungen. Weihnachtsgeschenke, die er nicht selbst gewünscht und gleichsam bestellt hatte, haßte er, vernichtete oder verlor er auch sofort. Er empfand Überraschungen als vulgär, ebenso wie Schreckrufe, lautes Weinen einer Frau, geräuschvolles Tarockspiel im Café, Streit zwischen Männern auf der Straße. »Es ist ein Zufall, bitt' um Entschuldigung, Herr Baron!« log die Mizzi. »Ich hab' gedacht, Herr Baron reiten?« – »Ich hab' kein Pferd, Mizzi. Auf gemieteten Pferden reit' ich nicht! – Wohin gehst denn?« – Er war beinahe schon mißtrauisch. »Nix, so halt«, sagte Mizzi. »Nun, geh zurück, setz dich zu Steinacker in den Garten, trink ein Bier. Ich komm' in einer Stunde!« Er wandte sich um und ging.

Er hatte aber in Wahrheit keine Lust mehr an diesem Spaziergang. Auch mied er die Reiter. Er kehrte um. Ein wenig Mitleid rührte sich für die Mizzi. Er schämte sich auch dieses Mitleids. Alles wäre gut, wenn sie nur nicht diesen vertrackten Sohn hätte! Er erinnerte sich plötzlich, daß es ja sein Sohn war. Schuldig fühlte er sich nicht – keineswegs. Aber es war ein Faktum: Unleugbar war der Xandl sein Sohn, und die Mizzi konnte nichts dafür – oder nur sehr wenig. Als er das Gasthaus Steinacker betrat, hatte er fast schon ein freundliches Gesicht. Es war ein etwas vorweggenommener Nachmittag des Barons.

Die Mizzi eröffnete schon gegen elf die Abteilung Volk. Automatisch erwachte auch das Interesse Taittingers an den Wachspuppen. Es sei viel Geld nötig. Wieviel? Das wüßte der Trummer. Und wieviel sie selbst habe, fragte Taittinger. Mizzi gestand lediglich die von der seligen Matzner ererbten 300 Gulden. Was von der Pfaidlerei übriggeblieben war, verschwieg sie. Noch in der Zelle hatte ihr die Kreutzer geraten, von diesem »Notgroschen« keiner Seele etwas zu sagen, nicht einmal dem Trummer. Am allerwenigsten dem Sohn. Aber es war nicht nur der gute Rat der Leni, den sie jetzt befolgte, sondern auch die Stimme ihres Herzens. Seit ihrer Haft hatte sie eine grauenhafte Angst vor dem Alter und vor der Not. Es war, als ob der ganze Leichtsinn, dessen sie überhaupt fähig gewesen war, aufgezehrt, geschmolzen wäre, gleichzeitig mit dem Geld; der ganze Vorrat an Unbekümmertheit, Vertrauensseligkeit, Übermut und Großzügigkeit verbraucht.

Übrig blieb auf dem Grunde ihrer Seele die natürliche, lediglich durch die Jugend verhüllt gewesene Angst vor dem Zufall des bittern Lebens, Sehnsucht nach der garantierten Sicherheit, warme Liebe zu Hab und Gut, eifersüchtige Zärtlichkeit für Zurückgelegtes, Aufgespartes und Verborgenes, kurz, der ewige, den Frauen ihrer Art angeborene Glauben an Sparkasse und Assekuranz. Sie empfand keine Scham. Dieses Verschweigen war geradezu eine moralische Pflicht. Ebenso war es ein moralisches Gebot, Taittinger zahlen zu lassen. Das Geld, das er für sie ausgab, nährte noch ihre Liebe zu ihm. Die zweitausend Gulden lagen in der Post, und das Sparkassenbüchl, eingewickelt im Taschentuch, auf dem Grunde des Koffers. Und der Kofferschlüssel hing um den Hals, neben dem Kruzifix und dem Medaillon mit der heiligen Therese. »Dreihundert sind gewiß zu wenig«, meinte Taittinger, dem die Ehrfurcht vor den Wachsfiguren schon zu tief eingegraben war, ebenso wie die Geringschätzung des Geldes. Dergleichen Wachsfiguren konnten gar nicht billig sein. Gewiß, gewiß, er begriff es. »Ich werd' mir erlauben, dir mit etwas auszuhelfen«, sagte er. »Oh, dank' schön! Das ist so lieb, so nobel, ganz Ihre Art, Herr Baron!« – Und sie faßte schon mit ihren beiden Händen nach seiner Rechten: und ehe er noch eine Bewegung der Abwehr machen konnte, beugte sie sich über seine Hand und küßte sie innig. Er war erschrocken, verzweifelt, machtlos. Plötzlich brach Mizzi in Tränen aus. Dies steigerte Taittingers Unwillen, aber es rührte auch an sein Herz, fast so wie damals, als Mizzi in der Kanzlei des Gefängnisdirektors zu weinen angefangen hatte. »Sie haben mich noch ein bißchen lieb?« fragte Mizzi. »Ja, ja, sicherlich«, sagte Taittinger, mit der festen Zuversicht, daß die Tränen innehalten würden. Aber das Gegenteil ereignete sich: sie strömten noch heißer und dichter. Es währte allerdings nicht mehr lange. Mizzi erhob ihr Gesicht. Ihr zerzaustes Haar, der verbogene Hut, das zerknüllte Taschentuch, das treuherzige Blau der Augen, die zwischen den verweinten Lidern geradezu kindlich erschienen, gefielen dem Baron eigentlich und machten ihm die Frau vertraut. Sie fühlte es sofort, und mit der Schnelligkeit, mit der ein Adler nach langem, lauerndem Kreisen auf die Beute hinunterstürzt, sobald er deren schwachen Augenblick gekommen weiß, fragte sie: »Darf ich heute zu Ihnen kommen – abends?« »Heut nicht!« sagte der Taittinger. Er liebte nichts Unvorbereitetes. »Morgen? Übermorgen? Wann?« »Ja, morgen!« sagte Taittinger, »das heißt, wenn ich nicht plötzlich abgehalten bin!«


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