Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XVII

Zum erstenmal in seinem Leben sollte der Baron Taittinger erfahren, was es hieß: Schritte unternehmen. Beim Militär unternahm man keine Schritte. Alles war geregelt. Es gab keine Komplikationen, und wenn es welche gab, so waren sie die Folgen gewisser Vorschriften und Bestimmungen, welche die Macht hatten, die Verwicklungen, die sie schufen, auch gleichzeitig zu lösen. Im zivilistischen Leben aber hatte man sehr oft Schritte zu unternehmen. Man mußte sich von Zeit zu Zeit irgend etwas richten, denn die Gesetze hatten anscheinend nicht die Aufgabe, das Leben der Menschen zu regeln, sondern im Gegenteil, es in Unordnung zu bringen. Derlei Überlegungen ließen den Rittmeister in dieser Nacht nicht schlafen. Er erwachte früh, der Herbstmorgen dämmerte eben heran. Gestern noch hatte er an den Polizeiarzt Doktor Stiasny gedacht, der in Taittingers Dragonerregiment als Reserve-Oberarzt jedes Jahr zu den Übungen einrückte. Es wäre Taittinger ganz unmöglich gewesen, etwa den ihm von ferne bekannten Oberkommissär Baron Handl aufzusuchen, aus dem einfachen Grunde, weil er diesen nämlich noch niemals in Uniform gesehen hatte. Mit Doktor Stiasny war man immerhin schon im Kasino gesessen, beim Domino.

Unbehagen bereitete dem armen Taittinger die Polizeidirektion. Er war in Zivil, und es konnte nicht fehlen, daß ihn die zwei Wachleute vor dem Eingang respektlos musterten, daß ihn die Spitzel, von denen es in den Korridoren wimmelte, mit flüchtigen, aber sehr eindringlichen Blicken verfolgten. Jeden Augenblick hätte er Sedlacek, den Geheimen, treffen können. Es war »penibel« und »langweilig«. Auf einer braunen Bank, mit irgendwelchen Personen, die er als Bittsteller klassifizierte, mußte er eine qualvolle Viertelstunde warten. »Herr Doktor läßt bitten!« sagte endlich der Beamte.

»Ah, Baron!« sagte der Polizeiarzt und stand auf. Er war rund, wohlbeleibt, auf kurzen Beinen kam er dem Rittmeister eilig entgegen. Taittinger hatte ihn sich anders vorgestellt. Es fiel ihm ziemlich schwer, ihn wieder so zu sehen, wie er sich ihn erträumt hatte. Im Zivil trug der Doktor Stiasny einen Zwicker an einem schwarzen Bändchen – und das irritierte den Rittmeister. »Servus, Doktor!« sagte er mit einer gequälten Stimme. Der Doktor war eben im Spital gewesen, er roch nach Jod und Chloroform, wie eine Apotheke. In seiner oberen Westentasche schimmerte die scharfe Quecksilberspitze des Fieberthermometers. Verwirrt setzte sich Taittinger. Der Doktor fragte nach dem Befinden der Regimentskameraden. Der Rittmeister sagte immer wieder: »Dank' schön, glänzend!« – Und: »Was ein Doktor doch für ein Gedächtnis hat!« Ihm selbst entfielen die meisten Namen, sobald er nur den Bahnhof der Garnison betrat, um wegzufahren.

Es war eine wahre Marter, so lange zu warten, bevor er mit seinem Anliegen herausrücken konnte. Und wie sollte man anfangen? »Da is so ein Mädel, Doktor, weißt, so ein Sündenfall, und die is jetzt bei euch«, so fing er an, und der Doktor Stiasny glaubte schon, es handele sich um eine der sogenannten »geheimen Krankheiten« oder gar um eine verbotene »Hebammen-Sache«, wie er zu sagen pflegte. Es bedurfte erst eines ausführlichen Verhörs, bevor der Doktor Stiasny den Sachverhalt aus den abrupten Sätzen Taittingers zusammenflicken konnte. Es war ihm, als müßte er kurze Fadenstückchen aneinanderknüpfen. Als er endlich begriff, wunderte er sich zwar ein wenig, war aber doch erleichtert und bereit, noch an diesem Vormittag mit dem Rittmeister nach Kagran hinauszufahren. »Nein, lieber Doktor, sofort bitte!« sagte Taittinger. Er wäre nicht imstande gewesen, eine halbe Stunde länger zu warten. Auf einmal, da er knapp vor diesem langweiligen Kagran stand, schien er alle Schrecken schon im voraus zu spüren, mit denen es ihn erwartete. Er! In ein Gefängnis! Es war schauerlich! Der Doktor Stiasny sagte es so leicht vor sich hin! Freilich, nicht jeder Mensch war Polizeiarzt und ging jeden Tag in Gefängnisse. Man mußte die ganze Angelegenheit schnell hinter sich bringen.

Während der Fahrt nach Kagran im Fiaker war Taittinger stillbekümmert. Dabei fuhren sie geradezu im Galopp. Als sie anlangten, hatten ihn Langeweile, Kummer und Bangnis dermaßen mitgenommen, daß er fast den Zustand der Gleichgültigkeit erreichte.

Der Gefängnisdirektor Regierungsrat Smekal hatte goldgeränderte Brillen – nicht einmal sie schockierten den unseligen Taittinger. Er wurde vorgestellt. Er gab die Hand. Er tat alles, was zu tun war, und hatte nur eine nebelhafte Vorstellung von allem, was sich mit ihm und was sich rings um ihn zutrug. Wie aus weiter Ferne hörte er den Gefängnisdirektor sagen, daß es ihm unmöglich sei, gewissen Sträflingen das Briefschreiben zu untersagen. Jawohl! Es war ihm unmöglich. Er verstand sehr wohl die »Difficültäten« des Herrn Baron, – aber, wie gesagt: »die Vorschriften«! ... Und er wollte auch auf den Häftling Schinagl in dem Sinne einwirken, daß sie nicht mehr schreibe, außer an ihren Vater in Sievering und ihren Sohn in Graz. Und am einfachsten sei es wohl: der Herr Baron spricht selbst mit ihr. Dagegen ist keine Vorschrift. Der Regierungsrat Smekal kann den Häftling Mizzi Schinagl sofort holen lassen, selbst hierher in die Kanzlei, er selbst geht für eine halbe Stunde, grad' jetzt, inspizieren. Ehe noch Taittinger recht verstanden hatte, sagte der Doktor Stiasny: »Ausgezeichnet!«, und während eine seltsame, nie gekannte Mattigkeit aus Blei und Trauer sich über den armen Taittinger senkte, klingelte der Regierungsrat schon, gab er schon einen Auftrag, nahm er schon den Hut vom Haken, sagte er schon: »Also in einer halben Stunde, Herr Baron!« –, und auch der Doktor Stiasny sagte: »Ich gehe inzwischen in den Hof!« –, und schon waren beide Herren verschwunden. Nicht einmal die Tür hatte man auf- und zugehn gehört.

Und schon war Taittinger allein, im Zimmer des Direktors, zwischen fremden Tabellen an den Wänden, friedlichen grünen Aktenfaszikeln und allerdings einem stählernen Tintenfaß gegenüber, das seinen schwarzen, höllischen Rachen höllisch aufgeklappt hatte.


Ein Aufseher kam herein, salutierte, ging wieder hinaus. Durch die offengebliebene Tür trat Mizzi Schinagl in die Kanzlei. Sie erschrak sichtlich. Sie machte zuerst eine Wendung, als wollte sie wieder in den Korridor zurück, schien sich zu besinnen, blieb stehen, hart an der Schwelle, und bedeckte das Angesicht mit den Händen. Man hatte ihr nur gesagt, sie müsse zum Herrn Direktor. Als sie Taittinger erblickte, hatte sie zuerst das Gefühl, daß sie fliehen müsse wie bei einer Katastrophe, und gleich darauf die schreckliche Gewißheit, daß ihr alle Auswege versperrt seien. Eine heiße Freude durchströmte sie, hierauf eine ebenso heiße Scham. Sie stand so ein paar lange Sekunden, die Hände vor den Augen. Es war ihr, als würde sie, wenn sie die Hände fallen ließe, Taittinger nicht mehr sehen können; verschwunden wäre er dann. Und sie hielt mit den Händen hinter den geschlossenen Lidern seinen Anblick fest, mit Gewalt. Sie ließ endlich die Hände fallen, aber ihre Augen waren noch geschlossen. Sie fühlte, daß sie im nächsten Moment weinen müßte, grämte sich darüber, wünschte es sich aber auch gleichzeitig.

Taittinger war ratlos wie noch nie in seinem Leben. Er stand auf, aber er ging nicht auf die Schinagl zu, sondern zur Wand und starrte gedankenlos auf eine sinnlose Tabelle. Seine Hände spielten mit dem grünen Hütchen und mit den grauen Handschuhen. Es dauerte ein paar Minuten, ehe er seine gewohnte, natürliche leichtfertige Gleichgültigkeit wiederbekam, den nonchalenten Gleichmut. »Ja, da bist du ja, liebe Mizzi! Laß dich anschaun! Wie geht's dir?« sagte er mit seiner alten, zärtlichen, näselnden Heiterkeit. Lieblich klang sie der Mizzi, und um besser zu hören, öffnete sie auch die Augen. »Setz dich, Mizzi!« sagte Taittinger, und sie gehorchte und saß da, auf der Stuhlkante, die Hände im Schoß gefaltet wie ein Schulmädchen. Er dachte, es wäre wohl angebracht, ein kleines Kompliment zu sagen; aber das konnte man ja nicht unter diesen Umständen. Du siehst aber gut aus zum Beispiel, war gewiß deplaciert. »Dank' schön«, stotterte die Mizzi, »daß du – daß Herr Baron gekommen sind, bitte um Entschuldigung für den Brief.« Ja, natürlich, der Brief, das war ja der Grund, weshalb er hier war; aber nett mußte das gesagt werden. »Es ist so nett«, sagte Mizzi fast tonlos, »zu kommen, wenn ich drum bitte und ins Unglück geraten bin. Das ist so, so – edel!« Sie hatte unter großer Anstrengung dieses Wort gefunden, und wie plötzlich befreit, brach ein Strom von Schluchzen aus ihrem Herzen. Taittinger näherte sich ihr elastisch, durch das Wasser der Tränen sah sie ihn herankommen, ein Engel im grauen Straßenanzug schwebte heran. Als er hart vor ihr stand, wußte er noch immer nicht, was er sagen sollte. Eine unbekannte Stimme diktierte ihm plötzlich, eine Stimme, die er noch niemals vernommen hatte. Er sprach ihr nach: »Es freut mich ja, wenn ich einen netten Brief bekomme. Ich lese sofort, noch in der Kanzlei. Weißt, im Grunde bin ich ja ein ganz guter Kerl.« Er wollte noch fortfahren, er wollte sogar noch sagen, daß er um recht viele Briefe bitten möge, aber da weigerte sich auf einmal seine Zunge, und er erinnerte sich, daß er ja eigentlich genau das Gegenteil hatte sagen wollen. Deshalb schien es ihm angebracht, den nächsten Satz mit einem Aber zu beginnen. »Aber es is nämlich so, weißt«, fuhr er fort, »daß der Zenower, der Rechnungsunteroffizier, mein' ich, der kriegt so einen Haufen Post jeden Tag, und er macht mal so was Fremdes auf, in der Eile, und deshalb auch hab' ich alle meine Freunde und Bekannten gebeten, mir nix mehr zu schreiben, außer – außer« – er stockte, jene unbekannte Stimme wurde plötzlich ganz stark, gewaltsam fast diktierte sie ihm, und er sprach ihr nach: »unter H.v.T. poste restante!«

»H.v.T.«, wiederholte Mizzi, »poste restante.« Er blickte jetzt auf ihr dunkelblaues Häubchen, er stand vor ihr, seine Knie berührten ihren gestreiften, langen Kittel. Die Haube ärgerte ihn, sie war aus dem steifen, faserigen Gewebe, aus dem man Säcke macht, und er erinnerte sich an die Gräfin Helene W. und an das Haar der beiden Frauen, und er zog plötzlich, mit einer brüsken Bewegung, mit zwei Fingern die Haube herunter. Im gleichen Augenblick bedeckte Mizzi Schinagl mit beiden Händen ihren Kopf. Sie fing wieder an, bitterlich zu schluchzen. In starren, unregelmäßigen, stachligen Bündeln starrte das Haar der Mizzi empor, und Taittinger hatte Mühe, nicht wieder einen Schritt zurückzutreten. Schrecken und Mitleid erfüllten, überfluteten ihn. Ja, Mitleid! Zum erstenmal empfand er Mitleid in seinem Leben. Es war ihm zumute, wie einem, der vor seinem eigenen Glück erschrickt. Er streichelte die stachligen Büschel mit einer verschämten Hand, und er wunderte sich darüber, daß er es tat. Nicht mehr der alte Taittinger war er, er verlor sich, er fiel, und das Fallen bereitete ihm eine neue, unbekannte Wonne und glich einem Schweben. »Wann kommst du heraus?« fragte er und stülpte wieder die greuliche Haube über Mizzis armen Kopf. »Ich weiß nicht«, schluchzte sie. »Am liebsten wär's, ich bleib' hier!« – »Ich werd' schaun, was ich tun kann!« sagte Taittinger. »Dank' schön, Herr Baron!« sagte Mizzi.

Er war nicht mehr imstande, sie anzusehen. Es schien ihm auf einmal, daß er schuld war: Er wußte nur nicht, wieso, warum. Die Schinagl fühlte es vielleicht. Sie erhob sich mit einem plötzlichen Ruck. »Darf ich gehn, Herr Baron?« fragte sie, und es war Würde und Anmut in ihrem Aufstehn, in ihrem Blick, in ihrer Stimme.

»H.v.T. poste restante«, sagte Taittinger. Ihre holzbesohlten Sandalen klapperten, auf dem hölzernen Boden der Kanzlei zuerst, dann lauter, härter, auf den Steinen des Korridors. Taittinger sah sich nicht mehr um. Er stand der Wand zugekehrt und starrte gedankenlos auf die unsinnigen Tabellen.

Er erinnerte sich jetzt erst, daß er nach dem Sohn hätte fragen müssen. Wo befand sich der eigentlich? – Oh, er hatte keineswegs etwa das Gefühl einer Verpflichtung! Es schmerzte ihn einfach, daß er das Gebot der Höflichkeit verletzt hatte. Zugleich erinnerte er sich dunkel daran, daß zum Beispiel der Leutnant Wander, der ein uneheliches Kind hatte, jeden Monat eine bestimmte Summe dafür zahlen mußte. Weshalb er, Taittinger, bis jetzt niemals etwas für den Jungen bezahlt hatte, konnte er sich nicht erklären. Das hing mit den unbegreiflichen »Gesetzen« zusammen. Aber es schmerzte ihn etwas, er wußte nicht genau, was es war. Er fühlte nur, daß er niemals die geschorenen Haare der Mizzi Schinagl vergessen könnte. Auch seine rechte Hand schien eine Art Gedächtnis bekommen zu haben. Auch die Innenfläche seiner rechten Hand würde immer die Erinnerung behalten an die stachligen, harten Haarbüschel der Mizzi Schinagl.

Als er mit Doktor Stiasny wieder im Wagen saß und in die Stadt zurückfuhr, begann er, gegen seinen Willen, von sinnlosen Dingen zu reden, muntere, aufgeräumte, geradezu kindische Angelegenheiten zu erzählen; aus seiner Jugend. Ein paar Augenblicke hörte er sich selbst sprechen, und es war ihm, als sei er schon alt, und er empfand das Lächerliche seiner Reden, und er übte Nachsicht mit sich selbst, und er bestand aus zwei Taittingers: einem jungen und törichten und einem alten und klügeren.

In einer traurigen Verwirrung fuhr er am Nachmittag zum Rendezvous mit der Matzner. Er ließ sich die Geschichte von den Spitzen und den ganzen Prozeß ausführlich erzählen. Zu seiner eigenen Verblüffung verstand er sogar die geschäftlichen Vorgänge.

Es ekelte ihn ein wenig vor der Frau Matzner. Zum erstenmal empfand er den Unterschied zwischen Langeweile und Ekel. Er war sogar imstande, sich über die Gewissensruhe der Matzner zu wundern, da er erkannte, daß allein ihre Geldgier den Prozeß verursacht hatte. Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art abgestoßen und angezogen zugleich, rettungslos verwickelt in eine »fremde Geschichte«. Als die Matzner im Laufe ihres Berichts den Namen Sedlacek fallenließ, ergriff den Rittmeister auch Angst. Und er zahlte schnell und ging und ließ die Matzner ratlos zurück. »Meine Adresse, Herr Baron«, rief sie und schrieb auf die Rückseite eines Kuverts, das sie hastig aus dem Täschchen herausgezogen hatte, ihre Adresse auf.

Der Rittmeister steckte sie höflich in die Brieftasche.

Die Matzner blieb noch bis in den späten Abend. Die abendliche Herbstluft war klar, streng und herb. Als die Matzner sich erhob, um zur Pferdebahn zu gehn, fühlte sie einen leichten Schwindel im Kopf und einen frostigen Schauer im Herzen. Sie glaubte, dies mache der Wein, den sie nicht gewohnt war, und auch die Aufregung, die ihr der Baron bereitet hatte. Unterwegs in der Pferdebahn nahm sie sich vor, einen Kamillentee zu trinken.


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