Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XXVIII

Er hatte wirklich noch eine vage Hoffnung auf irgendein Ereignis, das geeignet wäre, ihn abzuhalten. Aber solch ein Ereignis traf nicht ein, und die Mizzi Schinagl kam, wie abgemacht. Er gewöhnte sich schnell an sie, wie überhaupt an das meiste, an das Gute, an das Schlimme, an das »Charmante« und an das »Langweilige«, das ihm zustieß. Er fand bei Mizzi vertraute Wärme wieder und entdeckte ihre wohlbekannten Geheimnisse. Mizzi kam immer häufiger. Sie fütterte die wiedererwachte Gewohnheit eifrig. Sie liebte inbrünstig, wie einst, als es angefangen hatte. Und wie einst ergab sie sich zuweilen jenen gefährlichen Träumen, von denen sie wußte, daß sie töricht waren und das Erwachen aus ihnen eine wüste Bitterkeit. Lächerliche Träume, gütig in ihrer Flüchtigkeit und beseligend noch in der Enttäuschung, die sie selbst ankündigten: Der Baron wird alt werden, vielleicht auch ein bißchen krank. Oh, nicht viel! Vielleicht eine ganz kleine, vorübergehende, Pflege erfordernde Lähmung. Dann pflegt man ihn, gehört ihm ganz, nicht nur so, sondern auch als Opfer. Dann wird er immer älter, und er braucht die Mizzi – und dann wird sie seine Frau. Eine Nacht lang war sie schon einmal Gräfin gewesen. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens konnte sie ganz gut Baronin sein.

An einem dieser Tage bekam der alte Schinagl – da er noch Vormund seines Enkels war – vom Direktor der Grazer Anstalt die Verständigung, daß man nicht mehr in der Lage sei, den Xandl zu behalten; er müßte sofort nach Wien zur Mutter oder sonst irgendwohin. Weder sein sittliches Betragen noch sein Fleiß, noch auch seine Begabung würden ihm gestatten, noch eine andere Anstalt, in der Steiermark wenigstens, zu besuchen. Der Alte schickte den Brief seiner Tochter. Sowohl die Magdalene Kreutzer als auch der Trummer waren der Meinung, daß ein Kind zur Mutter gehöre und ein Bankert niemals in eine Anstalt. In die Lehre sollte er einfach, da konnte etwas Anständiges aus ihm werden. Es war übrigens ein Wink des Himmels, ein Fingerzeig Gottes, wie's geschrieben steht und der Katechet immer schon gesagt hat. Der Vater war hier, an Ort und Stelle. Dem sagt man nix. Der Bub kommt einfach her. Dann schickt man ihn zum Herrn Baron, am besten morgens. Da bin ich, was soll ich nun machen? Da bin ich, Herr Vater! Vielleicht schickt er ihn aufs Gut, wer kann's wissen? Der Baron hat manchmal so Launen, Himmel sakra no amoi!

Eine Woche später, am Morgen, als Taittinger das Hotel verlassen wollte, meldete man ihm den jungen Mann, Schinagl. Der grausliche Junge hatte einen starken Eindruck im armen Taittinger hinterlassen. Er wußte jetzt, ganz gegen seine Natur, im Nu, um wen es sich handelte. »Holen Sie ihn!« befahl er. »Aber wenn er noch einmal hierherkommt, schmeißen S' ihn 'naus!«

Ja, das war der grausige Junge, größer als das letztemal, das Maul schiefer, die Augenränder röter. Sein eigener Sohn! Sein eigener Sohn sah genauso aus, als wenn sich die Natur über den Baron hätte lustig machen wollen. Die Stirn war ähnlich, der Haaransatz, das Kinn, die Augenbrauen, der Schnitt der Augen. »Guten Morgen!« sagte der Junge. Er hielt die Mütze in der Hand. Er war verändert, bedeutend häßlicher geworden, aber es war dennoch beinahe so, als ob man ihn gestern erst gesehen hätte. »Herr Schinagl?« fragte Taittinger. »Die Mutter hat g'sagt, ich soll guten Morgen wünschen!« – »Danke, grüßen Sie Fräulein Schinagl!« sagte Taittinger und winkte einem Fiaker.

Ein schrecklicher Tag war angebrochen. Wohin fahren? – »Nach Baden!« rief Taittinger, besann sich aber gleich darauf, in der Kärntner Straße schon, und sagte: »Zur Polizeidirektion!« Er stieg aus, zahlte, hatte nicht den Mut, den Polizeiarzt aufzusuchen, mit dem er eigentlich den Fall Schinagl hatte besprechen wollen. Er wanderte ziellos durch die Straßen. Als es zwölf von den Türmen schlug, kam er just an der Burg vorbei, eine Sekunde vor der Wachablösung. Der Leutnant der Deutschmeisterkompanie kommandierte: »Kurzer Schritt!«, weil die Uhr im Burghof noch nicht den Mittag zu verkünden begonnen hatte. Der Tambour hob sein Zepter, die letzten Klänge des Radetzkymarsches erstarben wehmütig und weckten schon ein schwaches Echo unter der Wölbung des Burgtors. Jetzt dröhnte die Uhr im Hof, jetzt trommelte es sachte, wie wenn Sammetpfötchen auf das Kalbfell schlügen, jetzt erscholl drinnen das »Gewehr heraus!«. Jetzt erschien irgendwo hinter einem Vorhang der Kaiser selbst. Eine unsägliche Traurigkeit bemächtigte sich Taittingers. Zum erstenmal nach langer Zeit empfand er wieder Heimweh nach der Uniform und Schmerz um die Armee. Die Kapelle spielte den Donauwalzer. Das Volk im Burghof glaubte an einem der Fenster den Kaiser erblickt zu haben. Hüte und Hände erhoben sich. Im Hurrageschrei erstarb beinahe die Musik. Die Frühlingssonne lag milde über der Burg und lächelte: eine junge Mutter. Das »Gott erhalte« erklang, Taittinger durchrann der alte wohlbekannte Schauer, der Soldatenschauer, der Hymnenschauer. Er stand da, den Hut in der Hand; er hätte lieber salutiert.

Auf dem Weg zum »Deutschen Haus«, wo er heute mittag essen wollte, überlegte er ernstlich, ob er nicht wieder in die Armee eintreten sollte. Er hatte kein Geld mehr. Gut! Auch die Landwehr war ihm lieb. Den Befund konnte man wieder ändern. Sein Freund Kalergi saß im Kriegsministerium. Für die Dauer einer Stunde oder zwei sah der Rittmeister a. D. die ganze Vergeblichkeit seines Lebens. Das Gut, die Mizzi, das Volk im Prater, diese Kreutzer und dieser Trummer! – – – Und auch die Wachsfiguren weckten nicht mehr das geringste Interesse. Einmal hatte er schon eine Pfaidlerei gekauft, jetzt wird er freilich noch ein Panoptikum beschaffen müssen, aber dann ist's aus. Den lächerlichen Rest des Guts verkaufen! Und zurück zur Heimat! Heim in die Armee! Er wollte noch im Hotel ein wenig nachdenken. Er ging nach Haus, er setzte sich in die Halle.

Der Portier kam und meldete ihm, daß der junge Mann von heute morgen wieder da sei, in Begleitung der Dame, die jeden Tag komme, und man wisse nicht, was zu tun sei. Sie möchten beide herkommen, sagte Taittinger. – Sie kamen. Taittinger hatte sich vorgenommen, nicht aufzustehen, aber er erhob sich: es hob ihn vom Sessel hoch. Er war unfähig, vor einem Wesen in Frauenkleidern sitzen zu bleiben. (Wenn sich ihm ein Kleid aus irgendeinem der Mode-Schaufenster genähert hätte, wäre er ebenfalls aufgestanden.) Er lächelte sogar. Er bat, Platz zu nehmen. Mizzi Schinagl zog den Brief des Schuldirektors aus dem Säckchen und zeigte ihn Taittinger. Hierauf nahm sie auch das Taschentuch in die Hand. Sie präparierte schon das Weinen. Taittinger las ein paar Zeilen und legte den Brief auf den Tisch. Mizzi rührte schon mit dem Tuch an die Augen. Und schon mit heftig schluchzender Stimme stieß sie den Satz hervor: »Der Bub ist ganz mißraten!« Es war ein deutlicher Vorwurf. Das Werk Taittingers war mißlungen.

»Liebes Fräulein Schinagl«, sagte Taittinger, »wie alt ist Ihr Sohn?«

»Er wird jetzt grad' achtzehn, morgen!«

»Ah, gratuliere!« sagte Taittinger zu Xandl.

»Was wollen Sie jetzt anfangen?« fragte Taittinger.

»Ich denk', und der Herr Trummer sagt's auch, er soll zu meinem Vater, im Geschäft helfen, und dann erbt er vielleicht das Geschäft, und der Vater ist ja krank!«

»Morgen nicht«, sagte Xandl, »morgen ist mein Geburtstag!«

»Da will ich Ihnen auch gleich was schenken«, sagte Taittinger, »da brauchen Sie sich morgen nicht noch einmal hierher zu bemühen!« Er zog einen Hundertguldenschein aus der Brieftasche. Xandl faltete ihn zusammen und behielt ihn in der Faust. »Danke!« sagte er. »Sag: Dank' schön, Herr Baron!« rief Mizzi. »Ja«, sagte Xandl, »dank' schön, Herr Baron!« – Es war eine Weile still. Dann sagte Xandl plötzlich: »Geh' ma, Mizzi!« und erhob sich.

»Ich muß auch fort!« sagte Taittinger, sah auf die Uhr und erhob sich. Er nahm den Hut und ging zuerst.

»Gib mir das Geld!« sagte Mizzi zu ihrem Sohn auf der Straße. »Fällt mir grad' ein!« rief Xandl. »So'n Hunderter is nix für Frauenzimmer wie du!« Er ging noch neben ihr ein Stückchen weiter, aber bei der nächsten Querstraße bog er ein, ohne ein Wort zu sagen. »Xandl, Xandl!« rief Mizzi. Er wandte sich nicht um. Sie ging zu Fuß, durch die Rotenturmstraße, am Franz-Josephs-Kai mußte sie sich setzen. Es war still um diese Stunde. Man hörte das gute Murmeln der Donau hinter den dichten Goldregenbüschen. Zutrauliche Amseln kamen zur Mizzi auf die Bank. Sie kamen um Atzung, den Straßenmusikanten ähnlich, die einsammeln gehn, nachdem sie ihr Liedchen gespielt haben. Mizzi erhob sich, sie wollte im Café nebenan einen Kipfel holen, um die Vögel zu füttern. Sie hatte für Vögel die Zärtlichkeit aller kleinen Frauen, deren rührselige Dankbarkeit für die Zutraulichkeit der Tiere. Sie zerbröckelte langsam und sparsam einen Kipfel, um die Amseln möglichst lange in der Nähe zu wissen. Sie konnte heute nicht allein sein. Sie wollte auch schnell zur Kreutzer und zum Trummer zurück. Sie sprach leise zu den Amseln. Sie erzählte ihnen, wie schlimm der Xandl sei, seit dem Augenblick seiner Ankunft. (»Und so goldig is er gewesen, wie er zur Welt gekommen is – und später auch, wie er noch die Locken g'habt hat. Und so g'freut hat's mi, wann er mir Mutter gesagt hat. Und jetzt sagt er mir nimmer Mutter, Mizzi sagt er halt und Frauenzimmer, Frauenzimmer!«) Sie begann bitterlich zu weinen. Sie hatte das Gefühl, daß sie erst seit der Ankunft des Buben zum erstenmal Erniedrigungen erfahren habe. Im Haus der Josephine Matzner hatte man sie freilich mißbraucht, aber niemals beschimpft. Auch bei dem obligaten wöchentlichen Besuch beim Arzt, auf der »Sitte«, hatte sie nie Kränkungen gefühlt, und später auch nicht, weder in der Untersuchungshaft noch im Gefängnis. Ihr eigenes Kind mußte kommen, um sie zu schänden. Sie empfand in diesem Augenblick das ganze Gewicht des Wortes: schänden. Dieses Wort – wie wunderlich – gehörte, seit sie denken konnte, zu ihrem täglichen Sprachschatz – jetzt erst begriff sie seine wuchtige Bedeutung. Sie erhob sich, sah sich um, es war kein Wachmann in der Nähe. Sie traute sich auf den Rasen, trat an die Brüstung des Donau-Kanals und sah hinunter auf den Fluß. Vor ein paar Jahren hatte sich die rothaarige Karolin' in die Donau geworfen, etwas weiter oben, bei der Augartenbrücke; man hat sie nie gefunden. Die Matzner hat damals gesagt, daß die Donau nicht gerne Leichen hergibt. Sie schleppt sie bis zum Meer. Der Mizzi schauderte vor solch einem Tod; je länger sie auf das dahineilende Wasser blickte, desto stärker wurde der Schauder; aber sie begann zugleich auch, ihre Furcht zu lieben. Sie liebte ihre Furcht vor dem nassen Tode. Als sie unten, am Kai-Ufer, den Helm eines Wachmanns aufblinken sah, kehrte sie auf die Bank zurück.

Sie hatte Sehnsucht nach dem Gefängnis. Dort war sie nicht so allein gewesen, die Zelle war klein. Aber hier draußen war die Welt groß, eine kleine Frau war tausendfach einsam. Die Einsamkeit war so groß wie die Welt. Die Kreutzer war eine Freundin, aber sie hatte ihren Trummer. Wo gibt's eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, wenn sie einen Mann liebt? Den Baron konnte man niemals haben. Das einzige, was man von ihm behalten konnte, war der Xandl – und der lief ihr weg, für den war sie keine Mutter. Wenn man nur vergessen könnte, wie goldig er einmal gewesen ist. Vielleicht tat's ihm schon leid, und er erwartete seine Mutter wie jeden Nachmittag im Karussell. Sie ging in den Prater, sie ging langsam. Je später sie kam, desto sicherer war Xandl schon dort. Aber Xandl kam erst spät, am Abend, er roch nach Bier und Schnaps. Er war stiller als sonst. In seinen Augen blinkte ein kleines, fremdes Licht. Sie zögerte lange, bevor sie ihn nach dem Hunderter fragte. Aber schließlich war die Vorstellung, daß sie wenigstens siebzig Gulden retten könnte, unbezwinglich. »Hier ist es!« sagte Xandl. Er zog ein Büschel Zehnguldenscheine hervor. »Zwanzig Gulden hab' ich ausgegeben. Ich hab' ein Bizykl angezahlt, morgen will ich's holen.« – »Gib mir den Rest!« Xandl steckte das Geld wieder ein. Er ging hinunter, den Esel ein bißchen anzutreiben und mit Schani zu sprechen. Er wollte auch seinen Reichtum zeigen. Schani brauchte Geld. Er hatte einen silbernen Ring mit einem echten Stein, aber Xandl traute weder dem Silber noch dem Juwel. Der einzige Wertgegenstand, den Schani besaß, war ein Revolver. Er verkaufte ihn, samt zwanzig Patronen, dem Xandl für fünf Gulden. Morgen sollte man den Revolver ausprobieren, auf der Wasserwiese, wo die Soldaten exerzierten und wo die Schüsse keinem Wachmann verdächtig erscheinen konnten. Herr Trummer zwängte sich eben durch den kleinen Eingang, im Augenblick, da der Handel abgeschlossen wurde. Er sah die Scheine, fragte, woher sie kämen, nannte den Baron einen Teppen, ein narrisches Gewächs, befahl Xandl, das Geld sofort ihm oder der Mutter zu geben. Sonst wollte er den Wachmann holen; wegen des Revolvers würden beide Buben eingesperrt. »Aber den Revolver behalt' ich«, sagte Schinagl konziliant. Er behielt den Revolver und lieferte das Geld aus. Trummer sagte der Mizzi, er würde es aufheben, solang der Bub im Hause sei. Ihm könne er's nicht stehlen wie der Mutter. Mizzi hielt das Geld für verloren, und sie wurde noch trauriger.

Sie suchte ein paar Tage nach Taittinger. Er kam nicht mehr in den Prater. Im Hotel traf sie ihn nicht. Sie ging in die Konditorei Schaub in der Petersgasse, wo sich die noblen Herren zuweilen trafen. Da saß er auch, mit zwei Offizieren. Sie wagte nicht, an ihn heranzugehn, nicht einmal, sich an einen anderen Tisch zu setzen. Sie blieb draußen. Sie ging vor der Tür auf und ab. Taittinger kam endlich, er war allein: »Pardon, Mizzi«, sagte er, »ich hab' in diesen Tagen zu tun. Eine Woche noch. Grüß Gott!«

Er betrieb mit einer Energie, die er nie an sich gekannt hatte, seine Rückkehr zur Armee. In einer Woche wollte er vor der ärztlichen Kommission erscheinen. Um zur Infanterie transferiert zu werden, brauchte er noch einen Kurs von sechs Monaten. Er war jugendlich aufgeregt wie ein Kadett. Er hatte, wie gesagt, einen heißen Eifer, aber unselig kindliche Vorstellungen von dem Eifer der militärischen administrativen Behörden. Er glaubte, es ginge im Kriegsministerium so zu wie im Regiment, der Vorgesetzte befahl, der Subalterne gehorchte. Am Nachmittag wurde der Regimentsbefehl verlesen, und am nächsten Tag vollführte sich alles so, wie es im Befehl gestanden hatte. Aber so war es nicht in den Kanzleien des Ministeriums. Man sprach nicht zueinander, man korrespondierte. Taittingers Gesuch konnte auch der Oberstleutnant Kalergi nicht vor der verworrenen Wanderung bewahren, die alle Schriftstücke in der alten k. u. k. Monarchie zurücklegen mußten. Der »Akt Taittinger« wuchs und schwoll an, während er wanderte. Er hatte noch lange nicht jene Üppigkeit erreicht, die ihm gestattet hätte, zum Oberstleutnant Kalergi zurückzukehren. Und mochte dieser auch noch so aufmerksam die Kreuz- und Querfahrten des Aktes überwachen, dieser entschlüpfte immer, just in den Augenblicken, in denen er ihn gerade erwischt zu haben glaubte.

Nein, Baron Taittinger kam noch lange nicht vor die ärztliche Kommission.


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