Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XX

Sonst pflegte Taittinger in der Eisenbahn sofort einzuschlafen. Heute las er in den Heftchen Laziks, und sogar in der ersten Nummer, die ihm der Verfasser ja bereits vorgelesen hatte. Er stelle sich vor, daß alle Welt diese Heftchen mit dem gleichen begeisterten Behagen lesen müßte. Morgen wollte er im Regiment von seiner literarischen Entdeckung erzählen und eventuell im Kasino einiges vorlesen, freilich in Abwesenheit des Obersten. Unter solch heiteren Gedanken verging die Zeit bis zur Ankunft in der Garnison.

Es war Abend, als er ausstieg. Ein dünner, langweiliger und kalter Regen rieselte sacht und zudringlich hernieder und umgab die armseligen gelblichen Petroleumlampen auf dem Perron mit einem nassen Dämmer. Auch im Wartesaal erster Klasse lauerte eine seelenbedrückende Trübnis, und die Palme auf dem Büfett ließ die schweren, schlanken Blätter hängen, als stünde auch sie im herbstlichen Regen. Zwei Gaslampen, Neuerung und Stolz der Bahnstation, hatten schadhafte Netze und verbreiteten ein ewig wechselndes grünlich-trübes Licht. Ein jämmerliches Surren ging von ihnen aus, ein Wehklagen. Auch die weiße Hemdbrust des Obers Ottokar zeigte verdächtige Flecke unbekannter Herkunft. Der metallene Glanz des Rittmeisters brach siegreich in all diese Trübsal. Der Ober Ottokar brachte einen Hennessy »zur Erwärmung« und die Speisekarte. »Heut gibt's Suppe mit Leberknöderln, Herr Baron!« – »Halten S' die Goschen!« sagte Taittinger fröhlich. Immer, wenn er dergleichen sagte, wünschte er eigentlich das Gegenteil, und das wußte Ottokar auch. Deshalb bot er auch noch ein mürbes Beinfleisch mit Kren an und Zwetschkenknödel, extra gekocht. »Die Goschen halten und servieren!« sagte Taittinger. Der Cognac erheiterte ihn noch mehr und verstärkte seinen Appetit. Er erhob sich, um jetzt erst seinen Mantel abzulegen. Ottokar eilte hinzu. Aus der rechten Manteltasche lugten die bunten Ränder der Lazikschen Werke hervor, Ottokars lüsternes Auge erhaschte sie sofort. »Geschichten aus der großen Welt und aus der Halbwelt«, erlaubte sich der Ober zu sagen. Wenn der Rittmeister einmal »Halten S' die Goschen!« gesagt hatte, durfte man mit ihm über alles sprechen. »Ah, Sie lesen auch, Ottokar?« fragte Taittinger. »Jeden Morgen die ›Kronen-Zeitung‹, Herr Baron, erlaube mir ergebenst zu bemerken! Da stehn die Geschichten eh drin, und frischer noch, direkt wie vom Bäcker!«

»Ach so, ach so«, sagte Taittinger nur. Er aß mit gesundem Vergnügen, fand das Beinfleisch »famos« und die Zwetschkenknödel »direkt interessant«, trank zum Schwarzen einen Sliwowitz und beschloß, vorläufig im Wartesaal sitzenzubleiben, bis zur Ankunft des Wiener Abendzuges, der erst um 11 Uhr 47 kam und manchmal noch den oder jenen verspäteten Kameraden brachte, wenn auch meist nur Offiziere des Landwehrregiments, mit dem die Dragoner die Garnison teilten. Es gab manchmal solche Launen, solche Abende. Solange man sich noch auf der Station befand, war man gleichsam noch nicht in die Garnison zurückgekehrt. Es regnete draußen auch ekelhaft. Die Fiaker taugten wenig in dieser Stadt, und das Pflaster war nicht ordentlich. Man blieb lieber sitzen. Ottokar konnte Patiencen legen. Taittinger selbst hielt es für unschicklich. Ottokar legte für ihn, stehend, ihm gegenüber, vorgeneigt und nachdenklich, die Serviette über der Schulter, als wär's eine Kelle. Dazwischen redete Ottokar. Er war noch jung, er gedachte, »sich zu verbessern«, er hatte in Wien Kellner gelernt, er wollte bald nach Wien zurück. In Wien passierten noch Geschichten, wie sie da in den Büchln und in der »Kronen-Zeitung« beschrieben waren. Ja, und manche Herrschaften waren so genau beschrieben, daß man sie sogar erkannte. »Da schau her! Man erkennt sie!« rief Taittinger. Ja, sagte Ottokar. Der Herr Hanfl – es war der Pächter der Bahnhofsrestaurants erster, zweiter und dritter Klasse – wüßte alles. Er war seinerzeit, als der Schah Wien besucht hatte, Restaurateur auf der Wieden gewesen. Er kannte das Haus, die Geschichte von den Perlen, der ganze Bezirk hatte damals von nichts anderem gesprochen. »Ja, und sogar Herrn Baron«, sagte Ottokar unbedacht, schwieg und tat so, als dächte er plötzlich angestrengt über den Ausgang der Patience nach.

»Was haben Sie da gesagt?« fragte Taittinger.

Es half nichts, der Ottokar mußte erzählen. So war es also, man kannte Taittingers Geschichte. Ottokar mußte sogar den Restaurateur aus dem Kontor holen. Der Restaurateur, Herr Hanfl, erzählte Einzelheiten, sagte aber nichts Gewisses über den Baron selbst. Er erzählte mit dem aufgeräumten Behagen der Menschen, die schon lange auf eine Gelegenheit gewartet haben, um etwas mitzuteilen, was sie allein nur wissen können. »Woher kennen S' denn die Geschichte?« fragte Taittinger schließlich. Der Restaurateur beugte sich etwas vor – viel zu viel, dachte Taittinger – und flüsterte beinahe so, wie man mit eingeweihten Komplizen zu flüstern pflegt: »Der Herr Inspektor Sedlacek ist mein spezieller Freund, Herr Baron!«

Auf einmal schien es dem Rittmeister, daß sich die Welt verwandelt habe, oder vielmehr, daß sie sich ihm in ihrer ganzen grauenhaften Gestalt zu entschleiern beginne. In seinem ganzen Leben gab es eine einzige peinliche Affäre. Seit vielen Jahren würgte sie ihn, ein ekelhafter, harter Bissen, den man nicht verschlucken kann und auch nicht wieder ausspucken. Zu keinem Menschen in der Welt konnte er von dieser Affäre sprechen. Jetzt kam sie ihm entgegen, diese Affäre, die Bahnhofrestaurateure kannten sie bereits. Wahrscheinlich sprachen auch die Kameraden, zumindest diese hinterhältigen Landwehroffiziere von der Affäre. Die scheußliche Gestalt des Geheimen Sedlacek sah Taittinger, und jenen Augenblick auf der Treppe erlebte er wieder, den leicht gelüfteten Zylinder über dem ordinären Antlitz mit den glashellen Augen, die an blaßblaue Lämpchen erinnerten, mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart voll sanfter goldbrauner Frechheit, unter dem die starken, langen gelben Pferdezähne sichtbar wurden.

Der Restaurateur sprach noch weiter, aber Taittinger hörte nicht mehr zu. Er vernahm plötzlich, was er bis nun nicht zur Kenntnis genommen hatte, das trübselige Trommeln des Regens auf das gläserne Perrondach und das wehklagende Surren der giftgrünen Gaskandelaber.

Obwohl Hanfl noch mitten im angeregten Erzählen war, erhob sich Taittinger, ließ sich den Mantel anziehn, setzte die Kappe auf, befahl, man möchte ihm Reisetasche und Rechnung zum »Schwarzen Elefanten« schicken, und ging fast schon wie ein verlorener Mann hinaus. Wäre nicht sein Sporenklirren gewesen, man hätte glauben können, er sei verschämt hinausgeglitten.

Die Kaiser-Joseph-Straße, die vom Bahnhof geradewegs in die Mitte der Stadt zum Rathaus führte, war still, der kalte Regen allein bewohnte sie. Allein mit dem Regen und der Straße war der Rittmeister Taittinger.

Schlimme oder auch nur ernstere Ahnungen und Vorgefühle waren ihm unbekannt gewesen bis zu dieser Stunde. Unangenehme, das heißt langweilige Stimmungen konnte er in musterhafter Weise leicht verscheuchen. Diesmal gab er sich ihnen preis, wie dem Regen und der Nacht und der Kaiser-Josef-Straße. Früher hatte er immer noch, sooft er aus Wien zurückkam, einen kleinen Sprung ins Kasino gemacht, um sich »wiedereinzuleben«. Heute aber flüchtete er beinahe ins Hotel »Zum schwarzen Elefanten«. Die Oberleutnants Stockinger und Felch wohnten auch dort. Taittinger wollte ihnen um keinen Preis begegnen. Er ging sofort in sein Zimmer. Er machte nicht die gewohnte große Nachttoilette, die er seit fünfzehn Jahren wie einen erhabenen Ritus zu vollführen pflegte. »Laß das!« sagte er zum Burschen, der in gewohnter Weise Kamm und Bürste, Zahnpasta, Pomade für die Haare, das Netz, das den Scheitel zu bewahren hatte, Vaseline und Kakaobutter auf dem Stuhl auszubreiten begann. Der Rittmeister ließ sich nur die Stiefel ausziehn. »Geh schlafen!« sagte er dann. Er legte sich aufs Bett, in Hosen, in Strümpfen. Er wagte nicht sich auszuziehn, verstand selbst nicht, warum er zum erstenmal in seinem Leben Angst vor der Nacht hatte. Er wollte gleichsam den Tag, den Abend noch ausdehnen. Er hatte Angst vor dieser Nacht. Ich werde ja nicht einschlafen können, dachte er. Aber er schlief sofort ein. Er fiel in Schlaf, als hätte man ihn betäubt.

Dennoch war seine Furcht vor dieser Nacht berechtigt gewesen, denn ihm träumte zum erstenmal nach langer Zeit teils Fürchterliches, teils unsäglich Trauriges. So sah er sich zum Beispiel die marmorne, rotbekleidete Treppe hinuntergehn und Sedlacek ihm entgegenkommen und den Zylinder lüften; aber er selbst, der Taittinger, war auch zugleich der Sedlacek; er selbst lüftete den Zylinder; er selbst kam sich entgegen. Er ging die Treppe hinauf, er ging sie aber auch gleichzeitig hinunter. Plötzlich stand er in der Kanzlei des Direktors, in der Strafanstalt in Kagran, und der Polizeiarzt fragte ihn: »Was fehlt Ihnen? Warum geben Sie mir keinen Bericht über die Zustände in meinem Regiment?« Er konnte nicht antworten, der arme Taittinger. Er fürchtete auch, daß der Polizeipräsident jeden Augenblick hereinkommen könnte und sagen: »Den Baron Taittinger kenne ich gar nicht.« Ferner erschien auch die Gräfin Helene W. und hatte einen rasierten Kopf, genau wie die Mizzi Schinagl, und sie verlangte alle ihre Briefe zurück. Er konnte nur sagen, daß es ein schrecklicher Irrtum sei, niemals habe er von der Gräfin irgendwelche Briefe erhalten, schon bestimmt keine rekommandierten. »Bitte, Gräfin«, sagte er, »fragen Sie den Rechnungsunteroffizier Zenower.« »Zu spät, zu spät!« rief sie, und er erwachte. Der Bursche hatte ihn geweckt.

Es war spät, drei Viertel sieben, er fand keine Zeit mehr, sich rasieren zu lassen. Zwei Korporale, Leschak und Kaniuk, hatte er für heute zum Rapport befohlen, weil sie vorvorgestern unrasiert auf dem Exerzierplatz erschienen waren. Das dienstliche, das soldatische Gewissen plagte den Rittmeister. Einerlei, er mußte hinein, in Stiefel, Rock, Tschako und schnell zur Kaserne. Sie saßen schon in den Sätteln, die ganze Eskadron. Es war keine Zeit mehr, die Namen zu verlesen. Es regnete sacht und unerbittlich, wie es gestern abend geregnet hatte. Der Regen verband das Gestern mit dem Heute, als ob dazwischen kein neuer Sonnenaufgang stattgefunden hätte! als würde nie mehr eine neue Sonne aufgehn! ...

Das Regiment formierte sich, das breite, schwarz-gelb gestreifte Doppeltor ging auf, man ritt hinaus. Im Sattel erst fühlte Taittinger wieder die erwachende Wirklichkeit. Er konnte jetzt erst erkennen, daß er alles Grausige nur geträumt hatte. Durch den Sattel noch und noch durch die Schäfte seiner Stiefel fühlte er die Wärme und das Blut des Pferdes, das er ritt. Heute saß er gut auf seiner braunen Stute. Wally hieß sie. Er liebte sie, obwohl sie lange nicht so intelligent war wie sein Schimmel Pylades. So hatte er ihn getauft, denn er lebte in der Meinung, daß Pylades ein griechischer Philosoph gewesen sei. Wally war langsam, störrisch manchmal, man mußte ihr lange zureden. Ein sachter Druck der Schenkel genügte niemals. Launisch war sie halt, nicht umsonst ein Frauenzimmer und urplötzlich aus Trägheit in Übermut umsiedelnd. Aber man liebte sie eben.

Als er auf der Waldwiese absaß, war er fast schon wieder der alte, der gewöhnliche Taittinger. Er nahm den Rapport ab, die Unrasierten bestrafte er sehr streng, je drei Tage Einzelarrest. »Eine Schande für eine Charge, unrasiert!« sagte er. Er befühlte dabei unwillkürlich sein eigenes stachliges Kinn. Der Dienstführende Prokurak sah es wohl. Einerlei! Jetzt kamen Gelenksübungen, Reitübungen, Karabiner-Exerzieren. Rittmeister Taittinger war heute äußerst »sekkant«!

Vier Stunden später allerdings, nach dem Einrücken in die Kaserne, stand er wieder geradezu verlegen, fast kleinlaut in der Rechnungskanzlei. Es war ein rekommandierter Brief da. Schon wieder. Man mußte den Zettel unterschreiben. Rechnungsunteroffizier Zenower machte ein so erschreckend ernstes Gesicht heute, anders als sonst bei rekommandierten Briefen. Der Brief war auch sehr dick und schwer. Wenn man ihn in den Papierkorb hätte fallen lassen, so hätte es ein ordentlich unbehagliches und unpassendes Geräusch gegeben. Auf dem gelben Kuvert stand »Bürgermeisteramt Oberndorf«. Lieber jetzt als später, sagte sich der Baron Taittinger. Er riß den Umschlag auf. Er begann zu lesen.

Dem amtlichen Schreiben des Bürgermeisters, der Taittinger mitteilte, daß sich ein Minderjähriger namens Alexander Alois Schinagl im Bürgermeisteramt gemeldet habe und unter der Angabe, der uneheliche Sohn des Herrn Rittmeister Baron Taittinger zu sein, nach der Adresse dieses seines natürlichen Vaters gefragt habe und nach der seiner Mutter, der unverehelichten Mizzi Schinagl, lag ein Brief des Ökonomen bei. Dies war eigentlich kein Brief, sondern eine Art mathematischer Schulaufgabe, wie man sie den Kadetten in Mährisch-Weißkirchen tückischerweise aufzugeben pflegte. Lediglich den allerletzten Satz begriff Taittinger, der also lautete: »Infolge des oben Geäußerten erlaube ich mir respektvoll und ergebenst, Herrn Baron mitzuteilen, daß nur seine unverzügliche Ankunft hierorts noch einige Möglichkeiten bzw. Aussichten bieten könnte.« – Beide Briefe beschloß Taittinger dem guten, klugen Zenower zu geben. Er wußte schon seit langem, daß er Zenower brauchen würde. »Lieber Zenower!« sagte er, »Sie haben doch Zivil?« – »Jawohl, Herr Baron!« – »Also, seien S' so freundlich, ziehen S' es heute an, und so gegen sechs, nach dem Befehl, erwart' ich Sie im Extrastüberl vom ›Schwarzen Elefanten‹. Und sagen S' mir dann genau, was die Leut' eigentlich von mir wollen.«


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