Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XXIII

Leider stürzte das Unglück mit einer so jähen Rasanz über den armen Taittinger herein, daß er keine Zeit mehr hatte, aus der Munterkeit, in der er sich schon ganz heimisch fühlte, in die Verzweiflung hinüberzuwechseln. Er hatte nicht einmal Zeit zu erschrecken. In einer Art von Gebanntheit, wortlos und ohne Verständnis, hörte er die Meldung Zenowers in der Kanzlei. Es war wieder der alte Rechnungsunteroffizier Zenower, in Uniform. Er stand Habt-acht, als der Rittmeister eintrat, er hatte wieder seinen dienstlichen, hellen Disziplinblick, und mit seiner gewöhnlichen dienstlichen Stimme sagte er: »Herr Rittmeister, melde gehorsamst, daß ich vom Herrn Oberst drei Tage Urlaub erhalten habe; melde gehorsamst, daß der Herr Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister möchten sich unverzüglich in der Kanzlei melden; der Herr Oberst wartet!« »Ruht!« kommandierte Taittinger. »Sie können sich setzen, Zenower!« Er selbst setzte sich auf den Schreibtisch. »Was will er denn, der Alte?« Eine ferne Ähnlichkeit mit dem Zivilblick von gestern schimmerte für eine Sekunde im Auge Zenowers: »Herr Baron, der Herr Oberst ist sehr aufgeregt. Er hat heute einen rekommandierten Brief vom Kriegsministerium bekommen, ich hab' ihn gesehn, auf dem Tisch des Stabswachtmeisters. Herr Baron –« Weiter kam der Rechnungsunteroffizier Zenower nicht. »Na, so reden S' doch!« sagte Taittinger. Noch einmal sprang Zenower in die Habtacht-Stellung: »Herr Rittmeister, melde gehorsamst, daß der Herr Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister möchten unverzüglich in die Kanzlei.«

»Aha, verstehe!« murmelte Taittinger, obwohl er noch immer nichts verstand. Er ging hinaus, überquerte den Hof. Der Alte lauerte manchmal an seinem Fenster, hinter der Gardine. Man mußte den Hof mit beflissenen Schritten überqueren und jeden Gruß der Soldaten, die sich im Hof befanden, reglementmäßig beantworten. Vielleicht hat er gehört – sagte sich Taittinger – daß ich den Pylades abgeben will. Der Schimmel hat ihm immer schon gefallen.

Er trat in die Kanzlei. Der Oberst Kovac war kaum zu erkennen. Er war ein kleiner, rundlicher, feister Mann mit einem runden Schädel, rötlicher Nase, grauem, kurzem Schnurrbart und winzigen schwarzen Augen, die eigentlich nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Seine kurzen Ärmchen, die trotzdem in noch kürzeren Ärmeln steckten, gingen unmittelbar in rote, feiste Hände über, die an eine Art hautüberzogener Hämmer erinnerten. Jetzt aber erschien der Oberst Kovac geradezu mager. Seine Nase war bläulich-blaß, seine Hände fast weiß. Quer über seiner kurzen Stirn, in die das stachlige Dreieck der grauen Haarbürste vorstieß, stand eine starke, geschwollene blaue Ader, die sichtbare Künderin eines verborgenen außergewöhnlichen Grolls. Der Oberst trat vor seinen Schreibtisch, stemmte eine Hand in die Hüfte und betrachtete aufmerksam den Rittmeister, der unbeweglich war wie ein buntes Monument! Der Alte sagte nicht: Ruht, geschweige denn: Servus. Es begann Taittinger allmählich unheimlich zu werden. Er konnte nicht nachdenken. Die Fünkchenaugen des Obersten glitten an Taittinger auf und ab, auf und ab. Es dauerte wohl eine, zwei, drei Minuten. Es war so still, daß man die eigene Taschenuhr und die des Obersten ticken hörte.

Endlich sagte der Oberst – und er sprach erstaunlich leise: »Herr Rittmeister, kennen Sie einen Grafen W., Sektionschef im Finanzministerium?« Taittinger fühlte die Knie kalt werden, über dem Rand der Stiefelschäfte begann das Eis, es waren gar keine Knie mehr. Es war schwer, aufrecht zu bleiben, wenn die Schenkel auf Eisklumpen saßen. »Jawohl, Herr Oberst!« – »Und kennen Sie einen, einen, einen gewissen Redakteur Bernhard Lazik?« – »Jawohl, Herr Oberst!« »Wissen sie jetzt, warum Sie hier stehn?« – »Jawohl, Herr Oberst!« – »Ruht!« befahl der Oberst. Der Rittmeister streckte den rechten Stiefel vor. »Sie können sich setzen!« sagte Kovac und zeigte auf den nackten, hölzernen Stuhl. »Danke respektvollst!« sagte Taittinger. Er wartete. »Setzten S' sich! hab' ich gesagt!« schrie Kovac. Der Rittmeister setzte sich. Der Oberst ging auf und ab, kreuz und quer über den großen Teppich. Von Zeit zu Zeit verschränkte er die Arme, löste sie wieder, ballte die Fäuste, steckte sie in die Hosentaschen, klimperte mit Schlüsseln, zog die Schlüssel hervor, drehte sie im Kreis am Ring um den Daumen, steckte sie wieder ein. Er schien immer schmaler, blasser und unwirklicher zu werden. Der Novembernachmittag warf seine ersten Dämmer in die Kanzlei, und nur der blanke Widerschein des frischen Schnees, der aus dem Hof durch die Fenster drang, konnte sie noch abschwächen.

»So reden S' doch endlich!« schrie der Oberst auf. Es war ein Brüllen und ein Kreischen zugleich. »Erklären Sie, Herr Rittmeister!«

»Herr Oberst!« sagte Taittinger, »es ist die fatale Affäre, wegen der ich zum Regiment zurückgekommen bin.«

»Fatal, fatal!« schrie der Oberst. »Schrecklich ist sie, unselig, ein –«, er fand endlich das Wort: »ein Skandal! Ja! Nicht fatal, sondern Skandal! Und mir das! Unsern, nein, Herr Rittmeister, meinen Neunern! Nicht Ihren, o nein! Ich dulde, dulde derlei, derlei Herren nicht bei mir. Ich bin ein einfacher Frontoffizier, jawohl, einfacher Frontoffizier! Ich war nie detachiert. Ich hab' keine Freunderln in Wien. Ich kenn' keine Exzellenzen! Jawohl, so wahr ich der Oberst Joseph Maria Kovac bin, einfacher Oberst, verstehen Sie, Herr Rittmeister, das werden Sie büßen! Hier, solche Briefe!« – Der Oberst trat hinter den Schreibtisch und schwang den Brief des Kriegsministeriums in der hoch erhobenen Faust. »Wissen Sie, was da steht?« – »Nein, Herr Oberst!« sagte Taittinger. Jetzt stand schon der Schweiß auf seiner Stirn. Die Füße brannten in den Stiefeln, aber über den Schäften, in den Knien herrschte der Frost. Das Herz pochte so stark, daß man seine Schläge wahrscheinlich durch das dicke Tuch der Bluse sehen mußte. »Also hören Sie, Herr Rittmeister! Als Sie von Ihrer besonderen Verwendung zum Regiment zurückkamen, wußte ich natürlich, daß Sie einen faux pas begangen hatten. Die Geschichte war begraben. Jetzt aber! Sie können's nicht lassen, diese Unterrockgeschichten, Sie sind, Sie sind – Also, Sie begeben sich in die Gesellschaft eines Individuums, eines Individuums, sag' ich – und geben ihm zweitausend Gulden, und Sie beteiligen sich an seinem Schmutz, an seinem Dreck, Dreck sag' ich – und der Kerl geht zum Sektionschef W. und will von ihm auch Geld und sagt, was Sie schon gezahlt haben, und der Herr Sektionschef ist leider gelähmt, Paralyse, sag' ich, seit zwei Monaten, und die Frau Gräfin kommt in die Scheißbüchln, und er kann sich nicht mit Ihnen schlagen, und das tat' er auch nicht als Gesunder, und er schreibt's seinem Freund, dem Herrn Kriegsminister, Seiner Exzellenz persönlich – persönlich sag' ich – und ich, und ich! Seitdem unsere Armee besteht – – ich sag' nichts mehr! Ich steh' Ihnen zur Verfügung, Herr Rittmeister!«

Taittinger sprang auf. »Herr Oberst!« rief er. »Habt acht!« befahl Kovac. Und dann: »Ruht! Setzen!« Taittinger setzte sich wieder. Der Oberst schrie so laut, daß man es in allen Korridoren des linken Flügeltrakts hörte. Der Adjutant, Oberleutnant von Dengl, stand eine Weile vor der Tür, ein paar Akten in der Hand und den heutigen Tagesbefehl parat, um in jedem Augenblick sagen zu können, er sei eben im Begriffe gewesen anzuklopfen. Der Standesführer, Wachtmeister Steiner, und seine zwei Kanzleischreiber hörten durch die Verbindungstür jedes Wort, obwohl sie so taten, alle drei, als seien sie vertieft in Standesregister, Desertierungsanzeigen, Meldungen der Gendarmerie und Conduitelisten. Sogar im Hof, in der Kantine, verstummte der Lärm der kartenspielenden Unteroffiziere. Die glasklare, frostige Luft dieses Novemberabends vermittelte deutlich jeden Laut der brüllenden Oberstenstimme. Es war die grollende Stimme des Kasernengottes, ein Naturereignis allererster Ordnung. Man wußte sofort, daß es sich um Taittinger handelte; nicht nur deshalb, weil man ihn zum Obersten hatte gehen sehn; ach nein! Man hatte die Heftchen Laziks gelesen, nicht in allen Tabaktrafiken hatte Zenower sie aufgekauft! Ein gewaltiger Schrecken und eine große Betrübtheit beherrschte alle, obwohl ihnen der Baron Taittinger immer gleichgültig gewesen war. Er paßte nicht zum Regiment, er paßte nicht in die Kaserne. All die bäurischen Menschen des Regiments, die aus der Bukowina, aus der Slowakei, aus der Bacska stammten und niemals einen Wiener Salon gesehen hatten, bekamen, wenn sie den Baron Taittinger ansahen, die überzeugende Vorstellung, daß er in einen Salon gehöre. Dennoch konnten sie sich jetzt genau denken, wie er leiden mußte, dank jener soldatischen Solidarität, die aus Schwadronen und Regimentern eigentlich Familien macht, aus Vorgesetzten Väter oder ältere Brüder, aus Untergebenen Söhne, aus Rekruten Enkel, aus Wachtmeistern Onkel und Oheime und aus Korporalen Vettern. Es wurde still in der Kantine, und die Karten lagen reglos und spiegelblank auf den Tischen.

Der Oberst indessen schwieg plötzlich, und sein Schweigen war noch fürchterlicher als vorher sein Geschrei. Er hatte seine Stimme und seinen Sprachschatz erschöpft. Er, auch er, fühlte seine Knie frieren und wanken, er mußte sich setzen. Er vergrub den Kopf in beiden Händen und sagte mehr zu seinen Papieren auf dem Schreibtisch als zu Taittinger: »Der Abschied, Herr Rittmeister! Der Abschied, sag' ich! Ich will kein Ehrengericht! Hören Sie! Ich will mitteilen, daß Sie den Abschied genommen haben. Der Regimentsarzt, der Doktor Kallir, ich hab' schon mit ihm gesprochen, weiß genau, wie schlimm es um Ihre Gesundheit steht. Ihre Nerven sind angegriffen, Sie haben den Verstand verloren. Den Abschied! Ich wünsche keine Transferierung mit dieser Conduitenliste, verstehen Sie, Herr Rittmeister?«

Der Rittmeister Taittinger stand auf: »Jawohl, Her Oberst! Ich werde morgen um den Abschied bitten!«

Dem Obersten wurde weh ums Herz. Er wollte aufstehen, er fühlte, sich zu schwach. Er streckte Taittinger die Hand über den Tisch hin und sagte: »Leb wohl, Taittinger!«


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