Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXV

Das Gut Taittingers war nicht leicht zu erreichen. Es lag im Bezirk Ceterymentar, eingefangen zwischen den tiefverschneiten Karpaten. Man mußte zweimal umsteigen. Vom Bahnhof Ceterymentar waren noch sechseinhalb Kilometer bis zum Gut emporzufahren, hierauf noch anderthalb wieder hinunter. Es hieß Zamky, aber Taittinger hatte es immer schon die Mausefalle genannt, auch als Knabe schon, wenn ihn der Onkel in den Ferien eingeladen hatte. Der Bürgermeister Wenk war ein Deutscher, einer der wenigen versprengten sächsischen Kolonisten, die in der Gegend wohnten. Der Ökonom stammte aus Mähren, die Bauern waren Karpatorussen, der bereits ertaubte Lakai ein Ungar, der aber vollends vergessen hatte, aus welcher Gegend er hierhergekommen war, wann und zu welchen Zwecken. Das letzte, was er in der Erinnerung behalten hatte, war die Rebellion in Budapest und der Tod seines Herrn, des alten Barons. Der Förster war ein Ruthene aus Galizien, der Wachtmeister der Gendarmerie ein Preßburger: der einzige Mensch weit und breit, mit dem Taittinger manchmal in der Schenke ein paar Reden führen konnte.

Es war Anfang Dezember. Der Frost hauste ringsum auf den Gipfeln und auch unten im Gut. Die Raben hingen reglos und schwarz an den verschneiten Tannen. Wenn sie nicht urplötzlich aufflatterten und gewaltig zu krächzen anfingen, konnte man zuweilen glauben, sie seien verzauberte Früchte. Man hatte das Wohnhaus nur flüchtig reparieren können (so schnell war Taittinger gekommen, und so wenig Geld war überdies vorhanden). Der Ökonom bezahlte den Handwerkern außerdem nur die Hälfte des Ausbedungenen – und sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, daß sie den versprochenen Rest »nach Weihnachten« nimmer sehen würden. Übrigens gab es zweimal Weihnachten, für die Römisch-Katholischen und für die Russischen! Das Dach bekam hier und dort ein paar neue Schindeln, behielt aber die alten Löcher. Als man nach so langen Jahren wieder zu heizen begann, bogen sich die alten Türleisten, die Fensterrahmen, kein Riegel paßte mehr und kein Schloß, und es seufzte und krachte in den großen, schweren Schränken, in denen sich die Leisten und die Fächerbretter krümmten. Schief an halbgelockerten Haken hingen im Schreibzimmer die alten, finsteren Ahnenbilder der Familie Zernutti. Im übergroßen Speisezimmer wucherte der Schwamm. Große braune, blaue und weiße Pappendeckel füllten die hohlen Fensterrahmen der Veranda. In der Küche nisteten zwei uralte Kröten, die der Lakai Joszi fütterte mit den spärlichen Winterfliegen, die hervorkrochen, wenn der Herd geheizt wurde, und die Joszi auch im Nu erspähte. Es war eine peinliche Überraschung gewesen, als der Baron ankam. Aber man hatte gedacht, er würde höchstens eine Woche bleiben, den unehelichen Sohn wegschicken, sich ein wenig umsehn und wieder abfahren. Als man aber von dem Wachtmeister erfuhr, daß Taittinger die Absicht habe zu bleiben, ja, daß er den Dienst gar quittiert habe, begann man den Baron zu hassen, mit dem besonderen Haß, den die Furcht eingibt. Sie kannten ihn nicht genau. Leichtsinnig war er bis jetzt gewesen, das stand fest: Korn und Weizen und das Wäldchen und das Geld hatte er verschleudert. Aber jetzt, wo er offenbar um seine Armut wußte, war er nicht vorsichtig geworden? Hatte er nicht deshalb die Armee verlassen? Wenn er wollte – er hatte so viel Rechenschaft zu fordern. Was war aus dem Weinkeller geworden? Wer hatte bald Heuschrecken, bald schlechte Ernten erfunden, den Fallit des Waldkäufers?

Es ist gleich der erste Abend in der Herberge, das Schlafzimmer ist angeblich noch nicht fertig, Taittinger muß im Gasthof schlafen. Ein paar Bauern sitzen noch da, an dem großen, breiten braunen Tisch, neben dem nackten, großen Lehmofen. Janko, der Wirt, schleicht um den Baron herum, obwohl er weiß, daß Taittinger weder etwas sagen will noch auch neugierig ist, irgend etwas zu vernehmen. Die Bauern sind gewohnt, laut zu sprechen oder aber zu schweigen. Leise zu sprechen verstehen sie nicht. Laut sprechen können sie nicht wegen des Barons. Sie können gerade noch von Zeit zu Zeit die Pfeifen ausklopfen, aber auch nicht wie sonst an den Tischrändern, sondern an den Stiefelschäften unter dem Tisch. Wie nun der Wachtmeister eintritt, stramm vor dem Baron stehenbleibt und der Baron ihn einlädt sich zu setzen und ihm die Hand gibt und mit ihm sogar trinkt, wird es vollends still um die Bauern und in ihnen. Sie senken die Köpfe und blicken nur gelegentlich verstohlen nach dem Tisch des Herrn. Der Baron und der Wachtmeister sprechen deutsch, man versteht jedes zehnte Wort, aber man hätte ja Angst, auch zu hören, selbst wenn die beiden slowakisch oder ruthenisch sprechen würden. Taittinger hält es für selbstverständlich, daß die Bauern so stumm sind. Seitdem er das Gut hat, aber auch früher, war er im ganzen vielleicht zehnmal hier, und immer waren die Bauern so lautlos gewesen. Der Wachtmeister aber weiß, wie sie poltern, und er sagt dem Baron: »Sie schweigen so aus Angst vor Herrn Baron!« Angst – vor mir! denkt Taittinger. »Ich tu ihnen ja nix!« sagte er. »Ja, grad deswegen, Herr Baron!« meint der Wachtmeister. »Das ist penibel!« sagt Taittinger. Der Wachtmeister geht hinüber und sagt den Bauern auf slowakisch, der Herr Baron wünschte, sie sollten nicht seinetwegen schweigen. Das ist nahezu ein Befehl. Sie reden etwas, zu zweit, zu dritt, Dinge, die sie gar nicht hatten sagen wollen. Dann verfallen sie wieder in Schweigsamkeit. Der Wirt bringt Gulasch und Bier. Taittinger und der Gendarm essen.

Auf einmal geht die Tür auf, und ein junger Mann tritt ein und geht geradeswegs auf Taittinger zu. Der Baron hört zu essen auf, hält noch Messer und Gabel und sieht auf den jungen Mann, den er nicht zu kennen glaubt. »Servus, Xandl!« sagt der Wachtmeister. Alle Bauern wissen, daß es der uneheliche Sohn des Barons ist, und sehen auf. Die mit dem Rücken zu Taittinger gesessen sind, wenden sich um. Der Baron wird ihnen zwar nicht vertrauter, aber die Neugier ist mächtiger als die Angst; und die Schadenfreude entschädigt reichlich. Jetzt müßte noch einer der vielen Gläubiger herankommen. Die Bauern wissen, daß der Gutsherr verschuldet ist. »Ihr Sohn?« fragt Taittinger den Wachtmeister. »Nein«, sagt der junge Mann, »Ihr Sohn bin ich, Herr Baron!« – »Ah«, sagt Taittinger, »Sie sind der Schinagl!« – »Ja!« sagt der Junge. Taittinger sieht ihn genau an. Er trägt einen grünen Samtanzug, hat kurze Ärmel und viel zu große, rote, aufgesprungene Hände und unappetitliche Nägel. Der Kopf könnte angehen, Taittinger bemüht sich, irgendeine Ähnlichkeit zwischen sich selbst und dem jungen Mann zu entdecken. Es geht nicht, beim besten Willen nicht. Der Junge hat rotgeränderte Augen aus blauem Porzellan, er verzieht den Mund unaufhörlich, seine Ohren glühen rot, sein Kopf ist kahlrasiert, so daß man die Haarfarbe nicht erkennen kann, seine blaue, tintenbefleckte Kappe mit dem schäbigen, verrunzelten Lackschirm knetet er unaufhörlich mit den häßlichen Fäusten. Er kann nicht einen Augenblick still sein. Er tritt von einem Fuß auf den andern, manchmal wippt er im Stehen. Taittinger hat noch niemals ein ähnliches Lebewesen gesehn. Er denkt schon daran, morgen abzureisen.

»Ja, Herr Schinagl«, sagt er, »was wünschen Sie?« Er hat seine gewohnte, die alte Baron- und Rittmeister-Stimme, eine sehr langsame, lässige, dennoch scharf trompetende Stimme. Der Junge wippt einen Schritt zurück. »Ich möcht' wissen, wie es der Mutter geht!« Er spricht sehr laut, Taittinger empfindet, daß die Stimme gleichsam rot ist, gerötet wie die Fäuste und wie die Ohren. Der Kerl ist unausstehlich, denkt er und schiebt das Gulasch weg und trinkt Bier. »Was wollen Sie?« fragt der Baron noch einmal. »Wissen, wie's der Mutter geht!« wiederholt der Xandl. Der Baron denkt nach, aber nicht über das Befinden der Mizzi Schinagl, sondern darüber, ob er sagen soll: Ihrer Frau Mutter oder Ihrem Fräulein Mutter! Es kommt ihm nicht in den Sinn, daß man einfach sagen könnte: Ihrer Mutter.

»Ich hab' lang nichts mehr von Fräulein Schinagl gehört«, sagt er schließlich.

»Aber ihre Adresse?« fragt der Junge.

»Sie sind doch in Graz in der Schule?« fragt der Baron.

»Ja, aber hinausgeschmissen haben s' mich. Meine Mutter hat auch nicht bezahlt. Ich hab' auch was angestellt, und ich möcht' auch gar nicht zurück!«

Der Wachtmeister hat unbeirrt sein Gulasch aufgegessen, sein Krügl ausgetrunken, jetzt bestellt er noch ein Bier, tut einen gewaltigen Schluck, läuft plötzlich blaurot an und wischt sich den Schnurrbart mit einem fast ebenso rotblauen Taschentuch trocken. Dann erhebt er sich, steckt das Taschentuch ein und schlägt Xandl ins Gesicht. Der Junge torkelt. Der Wachtmeister setzt sich und sagt ruhig: »Xandl, du wirst mit dem Herrn Baron so reden, wie es sich gebührt, oder ich führ' dich ab, und du kommst zwei Jahre später erst aus dem Kriminal. Weißt du, wie du dich zu benehmen hast?«

»Jawohl, Herr Wachtmeister!«

»Also bitte den Herrn Baron um Verzeihung!«

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron«, sagt Xandl.

Die Bauern lachen schallend im Chor und klatschen sich auf die Schenkel.

»Also, Herr Wirt«, ruft der Baron, »geben S' dem Jungen was zu essen. Drüben!« fügt er hinzu. »Wenn Sie gegessen haben, gehen S' heim, zum Herrn Ökonomen, und sagen ihm, daß Sie morgen nach Graz zurückfahren!«

»Dank' schön, Herr Baron, möcht' noch etwas bitten!«

»Ja?«

»Ob ich zu Weihnachten wieder herkommen dürft'?«

»Ja!« sagt der Baron.

»Erlauben mir schon die Freiheit, Herr Baron«, sagt der Wachtmeister, »aus dem wird nix Rechts.«

»Ist nicht seine Schuld!« antwortet der Baron.

»Ich weiß schon«, meint der Wachtmeister, »die hohen Herrschaften denken immer viel zu gut von derlei Gesindel. Unser Herr Bezirkshauptmann, wenn ich ihm politisch subversive Elemente angebe, sagt immer, es wird nicht so schlimm sein.«

»Er ist ein Kind aus dem Volke!« sagt Taittinger, er denkt dabei an Zenower und daß dieser auch ein uneheliches Kind war, vielleicht auch von irgendeinem Taittinger. Wer weiß, es ist alles so verworren.

Der Xandl hat gegessen, erhebt sich, geht, bleibt noch einmal stehn, sagt: »Bitte um Entschuldigung!« und reicht dem Baron ein Kuvert und macht einen schauerlich unappetitlichen Knix und geht. Taittinger gibt dem Wachtmeister das Kuvert: »Was will er?«

Der Wachtmeister liest vor: »Sehr geehrter Herr Baron, der Herr Ökonom ist unehrlich, und der Bürgermeister weiß es. Die Frau des Ökonomen hat alle Tischtücher, Servietten und Leintücher mit der Krone und die große Fischterrine mit dem Porträt einer Kaiserin. Dies erlaubt sich Ihnen mitzuteilen aus Dankbarkeit Xandl Schinagl.« – »Es ist leider wahr!« sagt der Wachtmeister. Taittinger sagt: »Da kann man nix machen!« Er starrt in die Luft. Er weiß schon, er ist nicht für diese Welt gemacht.

Seit dieser ersten Begegnung mit seinem Sohn weiß Taittinger, daß er sein Gut haßt, die ganze Gegend, das Haus, das Andenken an den toten Onkel Zernutti, dessen Sohn, den langweiligen Vetter, die Berge, den Winter, den Ökonomen, das gestohlene Geschirr, sogar den tauben Joszi. Man heizte nicht ausgiebig. Mitten in der Nacht, wenn das Feuer im Schlafzimmer ausging, wurde es plötzlich, ohne Übergang, frostig und naß, die Kissen und die Leintücher schwitzten feuchte Kälte aus und rochen nach faulem Heu. Weihnachten nahte, ein unleidliches Fest, erfüllt von heuchlerischen Wünschen aller bösen Menschen, von gierig ausgestreckten, süchtigen Händen, von verkleideten Bauernbuben und Engeln aus Papier – und Weihnachten dauerte in dieser Gegend, dank dem russischen Kalender, etwa drei Wochen. Nun hatte dieser junge Schinagl noch gedroht hierherzukommen. Ohne den Wachtmeister war es unmöglich, den Jungen anzusehn. Beide Pferde waren verkauft, das nächste Semester für den Schinagl bezahlt, der Baron Taittinger hatte eigentlich noch Geld genug, um einige Wochen in Wien zu leben. Bescheiden allerdings, nicht im Hotel Imperial. Jede Nacht, wenn Taittinger die Herberge Jankos verließ, um den bitterkalten Leidensheimweg anzutreten, hatte er so viel Sliwowitz getrunken, daß er überzeugt war, er könnte heute noch packen, morgen früh einspannen lassen und wegfahren. Aber als er sein Haus betrat und die Kerze zuerst, dann die Lampe entzündete, ergriffen ihn Furcht und Ekel vor den nächtlichen Schatten der Möbel, vor dem Schwamm an den Wänden, vor den Geräuschen der knackenden Türen und Fenster. Er legte sich schnell hin, solange das Feuer im Ofen noch hielt, verfiel in unruhigen Schlaf, erwachte spät, trank einen Kaffee aus Zichorie, hierauf einen bleichen Landwein, kleidete sich an, streifte gedankenlos und ziellos durch die Gegend, sehnte sich nach dem Abend, ging in die Herberge, erwartete den Wachtmeister, sprach kaum ein Wort mit dem Bürgermeister und dem Ökonomen, die gelegentlich auch eintraten, und trank sich neuerlich einen kümmerlichen Zweistundenmut an, der gerade noch für den Heimweg reichte. Der Baron Taittinger gehörte zu den nicht seltenen Menschen, die, in der Disziplin des Militärs herangewachsen, vom Schicksal genauso Befehle und Anweisungen erwarteten wie von vorgesetzten Stellen.

Eines Tages kam auch solch eine Weisung. Der Rittmeister Taittinger hatte sich am vierzehnten Dezember, 9 Uhr 30 vormittags, vor der Superarbitrierungskommission im Zweiten Wiener Garnisonsspital zu stellen. Dies war die Folge seines Gesuches um einen längeren Urlaub aus Gesundheitsgründen. Man hatte nicht wenig Eile, diesen Rittmeister loszuwerden. Sonst pflegten Befunde nicht so schnell zur Superarbitrierung zu führen! Freilich war Taittinger gekränkt. Er fühlte Wehmut, Schmerz, Selbstverachtung.

Am zehnten Dezember schon fuhr er weg. Dem Ökonomen sagte er vor der Abreise: »So, im Februar bin ich wieder hier! Da wird alles anders!« Dem Gendarmeriewachtmeister beim Abschied am Bahnhof sagte er: »Ich verlass' mich drauf, daß Sie diesen Buben, den Schinagl, nach Graz zurückschicken. Er kann eine Woche beim Ökonomen bleiben!« Als der Stationsvorstand das Zeichen zur Abfahrt gab, winkte ihm Taittinger vom Fenster freundlich zu, Dankbarkeit im Herzen, als hätte der Beamte, lediglich des Barons wegen, den Zug abfahren lassen.

Im Februar komm' ich wieder, dachte er – und erfüllt von einer vollkommen grundlosen Sicherheit, sagte er sich auch: Im Februar bin ich ein ganz anderer Mensch; und: Im Februar ist ja schon beinah Frühling.

Er dachte, daß es gut wäre, in Wien auch den guten, lieben Zenower wiederzusehn, und er telegraphierte von Preßburg aus, wo er umzusteigen hatte: »Erwarte Sie dringendst Wien, Prinz Eugen.« Er ging voller Hoffnung der Superarbitrierung entgegen.

Sein »Befund« lautete: Herzerweiterung, hochgradige Neurasthenie, Herzmuskelschwäche, zu aktivem Dienst vorläufig ungeeignet. Er war nicht einmal untersucht worden. Der Generalstabsarzt im Zweiten Wiener Garnisonsspital hatte nur: »Servus!« gesagt und das Papier unterschrieben.

»Alles Gute, Rittmeister!« sagte er dann noch. Es war eine Kondolenz. So also! Das war der Abschied von der Armee. Baron Taittinger ging die Währinger Straße entlang, er ging achtlos durch den geschmolzenen, kotigen Schnee, zum erstenmal kein Soldat mehr, seit er denken konnte, zum erstenmal kein Soldat. Was denn sonst? Ein Zivilist eben. Es gibt lauter Zivilisten auf der Straße, aber die sind es schon lange. Er aber ist sozusagen ein Rekrut unter den Zivilisten. Der Abschied liegt gefaltet in der Brieftasche.

Es ist nicht leicht, so mir nichts, dir nichts ein Zivilist zu werden. Ein Zivilist hat vielleicht Vorgesetzte, aber keine Höheren. Ein Zivilist kann hingehn, wohin es ihm beliebt und zu welcher Zeit auch immer. Ein Zivilist ist nicht unbedingt verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Ein Zivilist kann aufstehen auch ohne Burschen: Einen Wecker hat ein Zivilist. Man geht, als wolle man sich immer noch zivilistischer machen, achtlos durch den kotigen Schnee, biegt links ein, in den Schottenring und will sich im Café niederlassen. Man sieht nicht mehr wie früher flüchtig durch die Scheiben, ob das Lokal standesgemäß ist. Ein Zivilist kann sich alles erlauben.

Taittinger tritt also in ein beliebiges Café am Schottenring, in der Nähe der Polizeidirektion. Es ist ein kleines, ein sogenanntes Volkscafé. An einem der wenigen Tische sitzen sechs Männer mit Hüten. Alle mit steifen Hüten. Sie spielen Tarock. Geht mich nichts an! denkt Taittinger und sieht in den trüben Wintertag hinaus und trinkt Kaffee mit Schlagsahne.

Noch ein Gast kommt. Taittinger nimmt wohl zur Kenntnis, daß irgendwer eingetreten ist, aber nicht anders, als wie man eine Fliege zur Kenntnis nimmt.

Der Mann setzt seinen Hut nicht ab, er salutiert mit einem Finger und setzt sich zu den Tarockspielern und beginnt zu kiebitzen. In dem Augenblick, wo Taittinger »Zahlen!« ruft, springt der Mann auf und sieht sich um. Taittinger glaubt, ihn irgendwo gesehen zu haben. Er zieht den Hut. Er kommt näher und sagt: »Herr Baron erkennen mich nicht? Herr Baron hier?«

Ja, das ist der Mann von den Büchln, Taittinger weiß es sofort. »Darf ich Platz nehmen?« fragt Lazik, und er sitzt auch schon. Und er erzählt auch schon: »Diese Welt heutzutage! Ich habe sie ganz durchschaut, diese Feiglinge, diese Schufte! Diese noblen Herrschaften! Jeder von ihnen hat mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen, Mörder sind es, privilegierte Mörder. Orden und Geld und Ehre haben sie. Sehen Sie, Herr Baron, wie ich heruntergekommen bin.« Und Lazik stand auf, zupfte an seiner Hose, klappte den Rock um und zeigte das zerfranste Unterfutter, hob den Fuß und deutete auf das zerrissene Oberleder, berührte den Kragen und sagte: »Seit einer Woche hab' ich ihn nicht gewechselt.« »Das ist schlimm!« sagte Taittinger. »Herr Baron sind ein Engel. Herr Baron, Sie waren der einzige, der gut zu mir war«, sagte Lazik. »Ich möchte Ihnen die Hände küssen, Herr Baron. Erlauben Sie mir die Gnade, Ihnen die Hände zu küssen.« Lazik beugte sich vor, Taittinger verwahrte die Hände in den Taschen. »Nein, ich verstehe, ich bin nicht würdig«, sagte Lazik. »Aber ich darf Ihnen von der himmelschreienden Ungerechtigkeit erzählen, ja?« – »Ja!« sagte der Baron. »Also da bin ich mit meinen Büchln zu dem Grafen W. gegangen, gelähmt ist er jetzt, Gott sei Dank, eine himmlische Gerechtigkeit gibt's noch. Und ich red' mit ihm, wie ich seinerzeit mit Herrn Baron gesprochen hab'. Aber der Herr Graf hat leider noch einen gesunden Arm, und den streckt er aus und klingelt, und der Diener kommt, und der Graf sagt: ›Den Sekretär‹ – und der Sekretär kommt, und der Graf sagt: ›Behandeln Sie den Herrn, wie es sich gebührt.‹ Ich sprech' ahnungslos, ein unschuldiges Kind, mit dem Sekretär – und wie ich nach Haus komm, steht der Rothbucher von der Brigade da und sagt: ›Lazik, ich muß dich verhaftend – Also, kurz und gut, die Büchln sind beschlagnahmt und verboten, aus der Zeitung schmeißen s' mich hinaus, jetzt leb' ich nur noch von den Jüngln drüben, sie sind auch von der Brigade!«

»Schlimm, Herr Redakteur!« sagte Taittinger.

»Herr Baron sind noch so lieb, mich so zu betiteln«, sagte Lazik, Tränen glucksten schon hörbar in seiner Kehle. »Wenn ich mich revanchieren darf: Ich hab' hier so eine kleine Vertretung von Medikamenten.« Er zog Tübchen und Pulverchen aus den Taschen. »Man ist schlaflos, manchmal, ich weiß, Herr Baron, und der Doktor verschreibt's nicht!«

In diesem Moment erhoben sich die sechs Männer, grüßten mit den ernsten, steifen Hüten, und der letzte sagte: »Entschuldigung!«, steckte die Tuben und Pulver in die Tasche und befahl Lazik: »Komm!« – Lazik erhob sich, verbeugte sich und folgte den Männern. Der Kellner kam an den Tisch. »Bitte um Verzeihung, Herr Baron, ich soll vom Herrn Oberinspektor Sedlacek (Herr Baron haben ihn nicht erkannt, sagt er) ausrichten, daß der Redakteur Lazik mit Kokain handelt und die Polizei benützt ihn und – und, sollt' ich sagen, daß Herr Baron ihn nicht unterstützen sollten!«

»Danke!« sagte Taittinger. Er trat hinaus, winkte einem Fiaker, befahl: »Kagran!«

Als er die Strafanstalt betrat und sich beim Direktor melden ließ, hatte er das Gefühl, daß er hierhergekommen sei, um sich freiwillig einsperren zu lassen. Er war noch immer der alte Direktor, er erkannte Taittinger sofort. »Ich lasse Herrn Baron hier«, sagte er wie damals. »Nein, bitte!« sagte Taittinger so bestimmt, daß der Direktor sitzenblieb. »Ich möchte das Fräulein Schinagl nicht allein sprechen!«

Man machte die Tür auf, die Schinagl kam, sie blieb an der Schwelle stehn wie damals, sie schlug auch die Hände vors Gesicht, Taittinger ging ihr entgegen. »Grüß Gott, Mizzi!« sagte er. Mizzi erblickte den Direktor hinter dem Schreibtisch, erschrak und machte einen ungelenken Knicks. »Kommen S' näher, Mizzi!« sagte der Direktor – und zum Baron: »Sie ist sehr brav! Im März wird sie frei!« »Was wirst du machen?« fragte Taittinger. »Oh, Herr Baron sind so gut!« sagte Mizzi. Sie erschien Taittinger anders als das letztemal. Er schob ihre Haube empor, das Haar quoll blond und voll hervor. Der Direktor sagte: »Wir sind nicht so grausam, Herr Baron!«

»Dank' schön, Herr Rat!« sagte Mizzi und versuchte noch einmal einen verfehlten Knicks. Sie zog ein Taschentuch aus dem blauen Kleid und wischte sich die Augen. Aber ihre Augen waren trocken, der Baron sah es wohl. Nichts rührte sich in seinem Herzen. Es war nicht so wie das letztemal. Er wollte gut sein, vielleicht war die Schinagl nur wegen des Direktors so verändert oder wegen der nachgewachsenen Haare. »Dein Sohn war bei mir!« sagte Taittinger. »Ich hab' ihn wieder nach Graz zurückgeschickt!« – »Der Xandl!!« rief Mizzi. »Wie sieht er aus?« – Leider nicht wie ich, wollte Taittinger antworten, aber er sagte: »Ganz gut, recht gut!« – Mizzi begann wirklich zu weinen, aber diesmal wischte sie sich die Augen mit den Handknöcheln trocken. Sie war übrigens schnell fertig mit dem Weinen. Mit einer harten, gleichgültigen, metallenen Stimme bat sie um die Erlaubnis, gehen zu dürfen.

»Bitte!« sagte Taittinger. Sie wurde abgeführt.

»Die fühlt sich ganz wohl, Herr Baron!« sagte der gefällige Direktor. »Gewiß, das sieht man!« sagte Taittinger. »Sie sind sehr liebenswürdig.« – »Immer zu Diensten, Herr Baron!« Der Direktor erhob sich. »Immer zu Diensten!« wiederholte er.

Der Fiaker wartete. Taittinger hatte das deutliche Gefühl, daß etwas zerbrochen sei. Zugleich kam es ihm auch vor, daß er durchaus nicht imstande sei, nie und nimmer imstande sein würde, die verworrene Welt zu begreifen. Es war genauso wie einst in Mährisch-Weißkirchen vor der mathematischen Schulaufgabe. Er war kein Soldat mehr, und er war noch kein Zivilist. Hing es damit zusammen? Er wußte nicht, ob ein Mensch gut sei oder nicht. Er hätte, würde man ihn danach gefragt haben, nicht sagen können, ob Lazik gut, schwach, gemein sei, ob Mizzi brav, verdorben, böse, nicht einmal, ob ihr Sohn – sein Sohn, dachte er nebenbei – ein Luder sei oder noch kein Verlorener. – Wenn wenigstens der Zenower schon da wäre.

Es war offenbar ein ereignisreicher Tag, das Wort schicksalsschwer, das er einmal irgendwo gelesen hatte, kam dem Baron in den Sinn. Man sagte ihm im Hotel, daß der Herr Leutnant Zenower eben angekommen sei.

Zum viertenmal verändert war Zenower in der Offiziersuniform, fremder noch als in Zivil. Jetzt, da er nicht mehr die Streifen des Wachtmeisters trug, sondern die jugendliche Distinktion des Leutnants, erschien er alt, weit älter, als er in Wirklichkeit war. Er selbst mochte es wohl spüren. Er ging nicht soldatisch mehr einher, er sah aus, wie Reserve aussieht: ein wenig verkleidet. Es war nicht Zivil, und es war auch keine Montur. Ein Rechnungsleutnant hat keine Sporen. Man glaubt, nachdem man dreizehn Jahre lang Sporen getragen hat, entweder, daß man Zivil trägt, oder aber, daß man gar nicht geht. Es ist fast, als hätte man keine Füße! All dies erzählte Zenower mit einem echten, beinahe bittern Ernst. Taittinger begriff ihn vollkommen. Bei der Parade-Uniform hatte man keinen Tschako mehr, sondern einen Krappenhut, wie ein Bezirkskommissär. Taittinger verstand diesen Schmerz. Es dauerte noch lange, ehe sie aufhören konnten, gemeinsam das tiefe Unrecht zu verdammen, das ein lächerliches Reglement den Rechnungsoffizieren zufügte. Die ganze angeborene Klugheit nutzte Zenower nichts. Dreizehn Jahre Kavallerie waren genauso stark wie die Natur. Man war ein Rechnungsleutnant. Man war ein ältlicher Leutnant.

Es konnte nicht fehlen, daß sie in dieser Nacht noch Bruderschaft tranken. Arm in Arm kehrten sie in das Hotel zurück. Der Rechnungsleutnant Zenower hatte am nächsten Tag in eine entfernte Garnison abzugehn, just dorthin, wo ein Rechnungsleutnant gebraucht wurde. Es war das Vierzehnte Jägerbataillon, weit weg von aller Welt, in Brody, an der russischen Grenze.

Man erwachte spät, hatte kaum noch Zeit, miteinander zu sprechen, vor allem wieder in den familiären Duzton der gestrigen Nacht heimzufinden. »Wer weiß, wann ich dich wiedersehe!« sagte der Baron.

»Wer weiß, ob ich dich wiedersehe!« sagte Zenower. Sie umarmten sich und küßten sich auf beide Backen.

Der Baron blieb verlassen zurück, ein Waisenknabe. Er ließ sich gehen. Seine Nachlässigkeit gewann allmählich auch einen bestimmten Rhythmus. Er traf keine alten Freunde mehr. Er genoß stundenlange Gedankenlosigkeit, Gänge ohne Ziel, Essen ohne Appetit, Trank ohne Lust, eine Frau ohne Freude, sinnlose Einsamkeit mitten im geschäftigen Getriebe und zuweilen den Rausch ohne Fröhlichkeit.

Manchmal dachte er an Mizzi Schinagl und an den März. Eines Abends schrieb er an den Gefängnisdirektor. Er erfuhr, daß die Schinagl am fünfzehnten März entlassen werden sollte. Weder empfand er etwas Besonderes für die Mizzi noch auch etwas gerade für den fünfzehnten März. Es war wenigstens ein Datum, ein fester Punkt, eine Grenze. Die ruhelosen Gedanken hielten manchmal vor diesem Datum inne; vor einem Schranken.


 << zurück weiter >>