Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XXVI

Dieses Jahr brachte einen frühen Frühling. Im März wärmte bereits eine maienhafte Sonne. Mit einer jähen, übersatten Kraft blühte der Goldregen in den Gärten. Die Amseln übertönten alle Geräusche der Stadt. Zusehends breiter und wuchtiger wurden die hellgrünen Blätter der Kastanien, und ihre Kerzen dufteten herb, stolz, weiß und ragend. Sogar die hurtigen Schwalben schienen in diesem Jahr zutraulicher zu sein. Hart über den Köpfen der Passanten schossen sie vorbei, friedliche Pfeile des Himmels. Vom Kahlenberg wehte ein ständiger, sachter Atem in die Stadt. Die Mauern und das Pflaster erwiderten ihm dankbar und zärtlich mit ihrem eigenen, besondern Atem. Und wenn der Abend kam, konnte man von jedem Punkt der Stadt das gütige Rot der Sonne die Spitze des Stephansturms liebkosen sehn. Es roch nach erwachendem Holunder, nach dem frischen Brot der Bäckerläden, deren Türen weit offen standen, nach dem Hafer in den Säcken vor den Fiakergäulen, nach jungen Zwiebeln und Radieschen von den Märkten.

An einem solchen Tage, morgens um neun Uhr vierzig, wurde Mizzi Schinagl aus der Weiblichen Strafanstalt entlassen. Ihre Entlassung war für Taittinger seit Wochen ein Grund gewesen, nicht so bald auf das Gut zurückzukehren.

Manchmal, wenn er so allein saß, in einem der frühreif erblühten Gasthausgärten der Wiener Vorstädte, der Wein ihn traurig gemacht hatte und die Luft zugleich heiter, führte er stumme Zwiesprache mit sich selber. Er stellte sich Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Nicht sein Gewissen plagte ihn! Ob die Mizzi durch seine Schuld ins Haus der Matzner gekommen war oder nicht, beschäftigte ihn schon deshalb nicht, weil er nichts Betrübliches im Schicksal einer verlorenen Frau sehen konnte. Er kannte nur heitere, sorglose Freudenmädchen, denen das Leben viel mehr Spaß zu bereiten schien als zum Beispiel den Frauen der Ministerialräte, der Sektionschefs, als den versauerten und bösen Tabaktrafikantinnen, als verweinten Köchinnen, von Männern verlassenen Bürgerstöchtern. Im übrigen hatte er durch seine ekelhafte »Affäre« der Mizzi ein paar gute, sogar märchenhafte Jahre verschafft; durch die gleiche »Affäre«, dank der er selbst seinen Glanz, seine Sorglosigkeit und um ein Haar Ehre und Namen verloren hatte. Weshalb also kümmerte er sich noch um die Mizzi? Liebte er sie? – Auch dies nicht. Das Herz gehörte zu den verkümmerten Organen Taittingers.

Er wußte keine Antwort. Er fühlte nur irgendeine unbegreifliche und unlösliche Beziehung zur Mizzi, zur »Affäre«. Unbegreiflich war all dies zwar, aber, so schien es ihm, beschlossen und besiegelt. Gegen Beschlossenes und Besiegeltes war einfach nichts zu machen.

Er konnte sich einer gewissen feierlichen Stimmung nicht enthalten, als er am Morgen des fünfzehnten März nach Kagran hinausfuhr. Er wußte selbst nicht mehr, daß er allein es sich vorgenommen hatte, die Schinagl abzuholen. Ihm schien es, daß ihm irgendein Zeremoniell diese törichte Handlung diktiere. Übrigens war die Fahrt im Fiaker durch den üppigen Triumph dieses Morgens durchaus geeignet, Taittingers aufkeimende Überlegungen in einem heiteren Rausch aufzulösen.

So kam er, als wäre es das Selbstverständlichste, in die Kanzlei des Gefängnisdirektors, um die Schinagl abzuholen. Sie wurde infolgedessen eine halbe Stunde früher aus der Zelle geholt. Sie trug den braunen Mantel, in dem man sie im vergangenen Herbst eingeliefert hatte. Den großen Filzhut mit den Glaskirschen hielt sie in der Hand, aus Angst, er könnte in der Zwischenzeit unmodern geworden sein. Ihr immer noch kurzes, üppig nachgewuchertes, schönes Haar leuchtete mit frischem Glanz, und ihr gebleichtes Angesicht erschien schmal, edel geradezu. Jetzt sieht sie wirklich wie die Helen' aus! dachte Taittinger.

»Ich kann mir die übliche Sittenpredigt ersparen«, sagte lächelnd der Direktor. »Mizzi Schinagl, der Herr Baron kümmert sich in so edler Weise um Sie, daß ich bestimmt weiß, ich werd' Sie hier nicht mehr wiedersehn. Herr Baron, ich steh' Ihnen immer zur Verfügung!«

Auf Taittinger wartete draußen der Wagen. »Wohin willst du?« fragte er. Mizzi aber sah sich erst bekümmert um, offenbar vermißte sie jemanden. »Ich muß noch warten«, sagte sie, »die Leni kommt noch. Sie haben mich zu früh herausgeholt!« Es war ein Vorwurf. Die Freiheit, der Frühling, der wartende Gummiradler und der Baron schienen der Mizzi keine Freude zu machen. »Wer ist die Leni?« fragte Taittinger. »Meine Freundin, Herr Baron!! Wir waren alle beide in der Zelle. Die Leni wegen Beihilfe zur Fruchtabtreibung, die ist ein sauberes Weibsstück, die Leni, wir waren gut miteinander, sie ist schon vor vier Wochen freigekommen. Die hält Wort, die kommt sicher.«

In diesem Augenblick sah der Baron auch etwas Stattliches, Grelles und Winkendes eilig herannahen. Jetzt konnte man diese Erscheinung schon vernehmen. Schrille Rufe wehten vor ihr einher. Immer deutlicher erkannte man, daß sie den Namen »Mizzi« rief und daß es sich um ein weibliches Wesen handelte, in einem gelben, rohseidenen Kostüm, mit einem hellgrünen, radgroßen Hut, mit schwarzen, hervorquellenden Locken, in gelben Knopfstiefeln, mit Regenschirm, Boa und Pompadourtäschchen. Es war Magdalene Kreutzer, konzessionierte Karussellbesitzerin im Prater. Die Frauen küßten sich innig. »Sie sind der Herr Baron, weiß eh schon, mir brauchn S' nix mehr zu sag'n, i weiß eh schon alles von der Mizzi. Und das ist der Wagen, da steig'n m'r ein und fahren erst zu deinem Papa, der is gelähmt, sonst wär' er hergekommen!« Und ehe Taittinger noch wußte, was eigentlich vorgefallen war, saß er schon auf dem Rücksitz, Mizzi und Leni gegenüber, schüchtern und äußerst unbequem, mit hochgezogenen Knien. Er senkte den Kopf. Über ihn hinweg rasten unverständliche Redensarten, zuckten Ausrufe wie grelle Blitze, klatschte Gelächter wie heiterer Platzregen, in einem Dialekt, den er noch niemals so intensiv und in solcher Nähe vernommen hatte und der an Räderrollen, Miauen und Hörnerblasen zugleich erinnerte. Endlich erreichte man Sievering.

Hier war Mizzi einmal großartig vorgefahren, als »Kebsweib« des persischen Kaisers. Die Hausmeisterin freilich lebte noch, der Friseur Xandl war verheiratet und nach Brunn verzogen. Der Laden war wieder geöffnet (er gehörte jetzt einem jungen Mann). Nur für diesen Tag war der alte Schinagl aus dem Heim in Lainz entlassen worden, denn er wollte seine Tochter nichts von seiner »Schande« wissen lassen.

Drinnen, hart neben der offenen Tür, saß der gelähmte alte Schinagl. Im dunklen Hintergrund schimmerten die weißen Meerschaumpfeifen wie Knochen von Skeletten. Auch im Baron erweckte der Laden einige Erinnerungen. Hier hatte er die Mizzi zum erstenmal gesehn. Der alte Schinagl konnte nur die Arme bewegen. Auch seine Zunge war hilflos, er stotterte, stöhnte und schneuzte sich schließlich mit unerwarteter Kraft. Aus Verlegenheit kaufte Taittinger fünf Pfeifen. Die Hausmeisterin fragte, ob sie Tabak holen dürfe. Aus Verlegenheit sagte er: »Ja, bitte, danke vielmals!« – Ob die Mizzi nun hierbleiben wollte? stammelte der Alte. »Nein!« entschied Magdalene Kreutzer. Es war längst beschlossen. Die Mizzi wohnte, um sich ein bisserl zu »renovieren«, vorläufig im Hause der Kreutzer, Klosterneuburger Straße. Sie hatte auch gedruckte Visitkarten im Pompadourtäschchen, sie kramte eine hervor, gab sie dem Taittinger und sagte: »Nicht verschmeißen, Herr Baron, wir erwarten Sie morgen, Sonntag, dritter Stock links, Tür 21, nicht vergessen, nachmittag fünf. Bitte nicht zu spät kommen, Herr Baron!« Damit verabschiedete sie Taittinger. Er verneigte sich, sagte dem Fiaker die Adresse der Kreutzer, bezahlte die Fahrt der Frauen im voraus und verlor sich in der nächsten Seitengasse, wo ihm eine Caféterrasse tröstlich entgegenwinkte.

Er verschmiß die Adresse nicht, er vergaß auch nicht die Stunde, er hielt alles Abgemachte ein, wie immer. Mit einiger Bangnis stand er am Sonntag vor der Tür 21, roch er Sauerkraut, Katzen und trocknende Kinderwäsche, hörte er Stimmen aus allen Zimmern, unter, über, neben sich, auch die Stimme der Mizzi unterschied er jetzt. Er zog entschlossen an der Klingelschnur, er trat unmittelbar in ein Zimmer, das aus rotem Plüsch, grünem Tischtuch, gelben Vasen, Torten, Orangen, Kaffeetassen und einem enormen Guglhupf bestand. In sommerlichen weißen, schwarzgetupften Kleidern saßen beide Frauen wie Schwestern da. Schwarz die eine, goldblond die andere. Er tat alles, was sie ihm befahlen: er aß Guglhupf, schleckte Eingemachtes, trank Kaffee, hierauf Himbeerwasser, rauchte eine Trabuko, obwohl er nur Zigaretten vertrug, hörte zu, verstand nichts, dachte auch nichts und bekam Sodbrennen. Er entschloß sich, nach der Toilette zu fragen, wurde in die Küche geleitet, in einen unerkennbaren Raum gesperrt, begnügte sich damit, Wasser aus der Blechkanne in die Muschel zu gießen und wieder hinauszugehn. Er hatte sich kaum wieder hingesetzt, als die Klingel ertönte. Ein Ungeheuer trat ein, nicht von dieser Welt. Es erinnerte an einen Kutscher, an einen Schlachtermeister und ein angekleidetes Monument. Es war Ignaz Trummer, der Freund der Magdalene Kreutzer. So stellte er sich vor, und von allem, was er im nächsten Augenblick noch hersagte, mit einer Geschwindigkeit, die weder seinen körperlichen Ausmaßen noch seiner grollenden Stimme entsprach, verstand Taittinger nur, daß er sich sehr geehrt fühle. Er aß, trank, sprach, rauchte, trank, aß und sprach. »Wos habt's denn nur?« fragte er schließlich. »Und fahr ma endli aussa?« – »Um Gottars wölln!« rief er ohne Grund von Zeit zu Zeit und dann wieder: »Haarfix no amoi!« Es war nicht mehr einfach der Wiener Dialekt. Es war, wie wenn ein Bär den Versuch gemacht hätte, italienisch zu sprechen.

Die Pferdebahn war überfüllt, der Trummer, Haarfix no amoi, bestand darauf, daß sie zu Fuß in den Prater gingen, ins »Geschäft«, – er meinte das Karussell. Gehorsam schritt Taittinger neben dem Ignaz dahin, die Frauen gingen voran. Wenn man sich an den Dialekt gewöhnte, konnte man bald einiges begreifen. Trummer kannte die große Welt, er war in der Tat einmal Kutscher gewesen, beim Grafen Zamborski. Nach dem Tode des Alten war er Pferdehändler geworden. Dann hatte er leichtsinnig gehandelt und einer militärischen Pferde-Assentkommission Schwierigkeiten gemacht, einem Freunde zuliebe, und ein anderes Tier geschickt statt des assentierten, und so »Sperenzchen« gemacht. Na, der Herr Baron kennen ja auch so G'schichten, vom Ärar halt, und so ist man jetzt beteiligt am Karussell der Magdalene Kreutzer, und ein gutes Geschäft wär's; man könnt' jetzt eventuell das Wachsfigurenkabinett billig kaufen. Das ist was Nobles und direkt hohe Kunst, musealische ...

Das Karussell war in der Tat stattlich, es bestand aus Pferden, Wagen, Schlitten und Booten. Es drehte sich um eine große Statue aus buntem Pappmaché, einer Jungfrau, mit zwei weizenblonden Zöpfen, Riesenarmen, einer turmhohen Frisur und einer Riesenkrinoline. Auch diese Jungfrau selbst drehte sich um die eigene Achse. Aus ihrem Innern ertönte eine Drehorgel. Das Karussell stand auf einem runden, hölzernen Unterbau. Eine Tür in diesem hölzernen Rund ging auf, die Frauen traten ein, Taittinger mußte folgen, selbst das Ungetüm kam seltsamerweise durch die kleine Tür. Jetzt stand man unten, über sich den Lärm der Menschen, die Musik der Orgel, das Gerassel der Ketten, an denen die Fahrzeuge schlenkerten. Es war dunkel und feucht. Ein Esel, grau wie der Dämmer in diesem Raum, drehte sich unaufhörlich im Kreis, einem Hafersäckchen nach, das unerreichbar vor ihm baumelte. Das Tier erhielt das Karussell in Betrieb, Schani feuerte es manchmal an, dermaßen, daß es zu galoppieren begann, als wär's ein Gaul. »Mir san keine Unmenschen«, erklärte die Kreutzer, »mir hab'n noch an andern Esel, zum Ablösen!« Sie klemmten sich alle wieder durch die kleine Tür an die Luft. Auf den Befehl Trummers mußten sie ins »Zweite Café«. Die Militärmusik spielte, die Leute lachten, weiß, fröhlich, verschwitzt, in einer bewußtlosen Gemeinsamkeit. Die Luft war dennoch leicht, würzig, elegant beinahe, eine gesittete Luft, und selbst in der Lautheit blieben die Menschen diskret. Ihre Ausrufe klangen wie Aufmunterungen, an die Betrübten gerichtet, Wunsch der Fröhlichen, nur Fröhliches ringsum zu sehen. Taittinger wurde heiter. Die Kreutzer fragte ihn, ob er schon ein Panoptikum gesehen habe. Gewiß, sagte er, und er erzählte angeregt, was er dort alles gesehen hatte. Zum Beispiel den Blaubart, den Schwerverbrecher Zingerl, den Räuberhauptmann Krasnik aus Siebenbürgen, die Komitadschis aus Bosnien, die zusammengewachsenen Zwillinge. »Der Herr Baron«, sagte Trummer, diesmal hochdeutsch und feierlich, »haben ein scheniales Kopfvermögen!« Niemals hatte Taittinger derlei Komplimente gehört. Wann er wieder in Uniform erscheinen würde, wollte die Mizzi wissen. An Kaisers Geburtstag, sagte Taittinger. Er wußte, daß er log. Aber er wollte aller Welt eine Freude machen. Eigentlich war dies alles hier ja Volk. Sie waren ganz charmant, die »Kinder aus dem Volke«, sogar das Ungetüm, der Trummer.

Um Mizzis zertrümmerte Existenz wieder aufzurichten, war es nötig, ihr jetzt die einzig günstige Gelegenheit zu verschaffen; das war das Panoptikum. Die Frau Kreutzer meinte, daß der Baron nichts dagegen haben könnte. Taittinger sagte auch: »Aber, wie denn!« Nun sei es ja einfach, man müßte sich nur nicht anschwindeln lassen und einen richtigen Preis erzielen.

»Is zu vüll!« rief Trummer.

Nicht, wenn der Baron was beitragen wollte, statt der Alimente sozusagen, wo doch die Mizzi selber den Buben großgezogen hat und sogar so nobel, wie es sich gehört für das Kind eines solchen Vaters.

So, dachte Taittinger. Auf diese Weise bin ich endlich diese langweiligen Alimente los. »Selbstverständlich!« sagte er. »Im Rahmen meiner Möglichkeiten«, er sagte die Phrase nicht aus Vorsicht, sondern weil sie so seriös klang, »will ich der Mizzi helfen!«

Leider geschah im nächsten Augenblick etwas außergewöhnlich Peinliches. Der Oberleutnant Teuffenstein von den Elfer-Ulanen ging, Arm in Arm mit seiner Braut, Fräulein Hoffmann von Nagyföteg, vorbei und rief: »Da ist er ja! Taittinger!« – Es war eine fürchterliche Situation, um ganz genau zu sein, eine »unkommode«. »Ich wohne im Prinz Eugen!« sagte er zu seiner Tischgesellschaft. »Bitte, morgen nach mir zu fragen.« Er vergaß sogar zu zahlen, stand auf, eilte dem Teuffenstein entgegen, wurde von ihm an einen andern Tisch gezogen, trank Wein, mußte lachen, Anekdoten hören, erzählen, daß er sich auf sein Gut beschränke. »Weißt«, sagte er, »es ist immerhin ein Vermögen, und es wär' sonst rettungslos verloren.«

Spät in der Nacht ging er einsam durch den Prater. Der Staub wirbelte immer noch in der Luft. Durch die Hauptallee trommelten zärtlich die eleganten Hufe der Pferde vor den lautlosen Gummiradlern. »Rettungs-los-ver-loren, rettungs-los, rettungs-los«, trommelten die Hufe.

Aus den Büschen am Alleerand kam das lüsterne Flüstern der Verliebten. Eine Blumenfrau bot ihm Veilchen an. Er kaufte fünf Sträuße und behielt sie gedankenlos, bis ihm das erste Mädchen in den Weg kam. Er gab der Kleinen die Blumen und ging mit ihr ins Hotel zur Nordwestbahn. Denn er hatte Angst vor der einsamen Nacht.


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