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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Wesentlicher Charakter des Werkes Jesu.

Es ist zu ersehen, daß Jesus mit seinem Wirken nie den jüdischen Kreis überschritt. Obgleich auch seine Teilnahme für alle von der Orthodoxie Geschmähten ihn veranlaßten, die Heiden zum Gottesreich zuzulassen, und er ein- oder zweimal in wohlwollenden Beziehungen zu den Ungläubigen überrascht wurde – so läßt sich doch sagen, daß sein ganzes Leben in der kleinen Welt verlief, in der er geboren wurde. Den griechischen und römischen Ländern blieb er unbekannt; sein Name kommt bei den heidnischen Schriftstellern erst ein Jahrhundert später vor, und das nur in indirekter Weise, gelegentlich der durch seine Lehre hervorgerufenen Aufstände, oder der Verfolgungen, deren seine Jünger ausgesetzt waren. Selbst im Schoße des Judentums hatte Jesus keinen besonderen Eindruck hervorgebracht. Philo, der etwa im Jahre 50 starb, hatte von ihm keine Ahnung, Josephus, der im Jahre 37 geboren wurde und gegen Ende des Jahrhunderts schrieb, erwähnt seine Hinrichtung nur mit etlichen Zeilen, wie eines untergeordneten Ereignisses. Bei der Aufzählung der Sekten seiner Zeit übergeht er ganz die Christen. Anderseits enthält auch die Mischna keine Spur der neuen Schule; die Stellen der beiden Gemahra, wo der Stifter des Christentums genannt wird, führen uns nicht über das vierte oder fünfte Jahrhundert zurück. Das wesentliche Werk Jesu war, daß er einen Kreis von Jüngern um sich sammelte, denen er eine grenzenlose Hochachtung einflößte und in deren Schoß er den Keim seiner Lehre niederlegte. Sich eine Liebe geschaffen zu haben, »die nicht einmal nach seinem Tode aufhörte ihn zu lieben« (Josephus), das ist das Meisterwerk Jesu, und das ist, was seine Zeitgenossen am meisten überrascht hat. Seine Lehre war so wenig dogmatisch, daß er nie daran dachte, sie zu verzeichnen oder verzeichnen zu lassen. Man wurde sein Jünger nicht, indem man dies oder jenes glaubte, sondern weil man ihm anhängig war, ihn liebte. Einige bald im Gedächtnis eingeprägte Sentenzen und besonders sein sittliches Vorbild, sowie der Eindruck, den er hinterlassen hatte – das war alles, was von ihm zurückblieb. Jesus war kein Dogmengründer, kein Symboliker; er war der Führer der Welt zu einem neuen Geist. Die am wenigsten christlichen Leute waren einerseits die Gelehrten der christlichen Kirche, die seit dem vierten Jahrhundert das Christentum in eine Bahn kindischer, metaphysischer Diskussionen lenkten, anderseits die Scholastiker des lateinischen Mittelalters, die aus dem Evangelium Tausende von Artikeln der kolossalen »Summe« herausziehen wollten. Anhänger Jesu sein im Hinblick auf das Gottesreich, das hieß anfangs Christ sein. Es ist daher kaum begreiflich, wie zufolge eines ganz besonderen Schicksals das reine Christentum noch jetzt, nach Ablauf von neunzehn Jahrhunderten, mit dem Charakter einer universellen und ewigen Religion sich darstellt. Die Religion Jesu ist in gewisser Beziehung wirklich die definitive Religion, die Frucht einer vollständig freien Bewegung der Seelen, bei seinem Entstehen frei von jeder dogmatischen Fessel, drei Jahrhunderte hindurch im Kampfe für Gewissensfreiheit – erntet das Christentum noch heute die Früchte dieses trefflichen Ursprunges, trotz der Unfälle, von denen es begleitet wurde. Um sich zu erneuern, braucht es nur zu seinem Ursprung zurückzukehren. Das Gottesreich nach unserer Auffassung unterscheidet sich sehr von der übernatürlichen Erscheinung, welche die ersten Christen in den Wolken zu sehen hofften. Doch das Gefühl, das Jesus in die Welt brachte, ist wohl das unserige. Sein vollendeter Idealismus ist das höchste Ziel des makellosen, tugendhaften Lebens. Er hat das Himmelreich der reinen Seelen geschaffen, wo alles zu finden ist, was auf Erden vergeblich gesucht wurde: der vollkommene Adel der Kinder Gottes, die absolute Reinheit, den gänzlichen Mangel des irdischen Schmutzes, endlich, die Freiheit, die wie eine Unmöglichkeit von der vorhandenen Gesellschaft ausgeschlossen wurde und die nur im Reiche der Gedanken ihre ganze Fülle besitzt. Der Großmeister aller, die sich in dieses Idealreich Gottes flüchten, ist heute Jesus. Er war es, der zuerst die Herrschaft des Geistes verkündet hat, er, der zuerst wenigstens durch sein Thun gesprochen hat: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Die Stiftung der wahren Religion ist völlig sein Werk. Nach ihm war nur noch die Entwickelung und Befruchtung von nöten.

Derart ist das Wort »Christentum« fast gleichbedeutend mit »Religion« geworden. Alles, was außerhalb dieser großen und guten christlichen Überlieferung geschehen wird, soll fruchtlos bleiben. Jesus hat in der Menschheit die Religion begründet, wie Sokrates die Philosophie, wie Aristoteles die Wissenschaft. Es hat zwar schon vor Sokrates und Aristoteles Philosophie und Wissenschaft gegeben; seit ihnen haben sie wohl unermeßliche Fortschritte gemacht, doch ist alles auf dem von ihnen gelegten Grund erbaut worden. Ebenso hat auch schon vor Jesu der religiöse Gedanke viele Umwälzungen erfahren; seit Jesu hat er große Eroberungen gemacht; doch nie hat man das, was Jesus in der Hauptsache geschaffen hat, verlassen und wird es auch nicht verlassen können. Er hat für immer den Gedanken des reinen Kultus festgesetzt. In diesem Sinne ist die Religion Jesu unbegrenzt. Die Kirche hat ihre Epochen und Phasen gehabt; sie hat sich in Symbole eingeschlossen, die nur ihre bestimmte Zeit haben oder haben werden. Jesus hat die absolute Religion begründet, nichts ausschließend, nichts feststellend, außer das Gefühl. Seine Symbole sind keine festen Dogmen, sie sind Bilder, die unzählige Deutungen ermöglichen. Vergeblich würde man eine theologische These im Evangelium suchen. Alle Glaubensbekenntnisse sind Travestien des Gedankens Jesu, ungefähr so wie die mittelalterliche Scholastik, indem sie Aristoteles als einzigen Meister der vollendeten Wissenschaft proklamierte, den Gedanken des Aristoteles gefälscht hat. Hätte Aristoteles den Debatten dieser Schule beiwohnen können, so hätte er sicherlich deren beschränkte Lehre zurückgewiesen; er würde sich auf Seite der fortschreitenden Wissenschaft gestellt haben, gegen die Routine, die sich mit seiner Autorität deckte; er hätte seinen Widersprechern Beifall gezollt. Ebenso würde Jesus, wenn er zu uns zurückkehren würde, nicht die als seine Jünger anerkennen, welche ihn in etlichen Katechismusphrasen völlig einschließen wollen, sondern die, welche bei der Fortsetzung seines Werkes thätig sind. Der ewige Ruhm jeder Art Größe besteht darin, den Grundstein gelegt zu haben. Möglich, daß in der »Physik« und »Meteorologie« der neuen Zeit kein Wort aus den Werken Aristoteles zu finden ist, die diese Bezeichnung führen; allein Aristoteles bleibt deshalb doch der Begründer der Naturwissenschaften. Wie immer sich das Dogma umgestalten mag, Jesus wird in der Religion der Schöpfer des reinen Gefühls bleiben; die Bergpredigt wird nie übertroffen werden. Keine Revolution könnte geschehen machen, daß wir uns nicht in der Religion an die große intellektuelle und moralische Linie halten, an deren Anfangspunkt der Name Jesu strahlt. In diesem Sinne sind wir Christen, selbst wenn wir beinahe in allen Punkten der christlichen Überlieferung der Vorzeit voneinander abweichen.

Und diese große Stiftung war ganz das persönliche Werk Jesu. Um sich solche Verehrung zu verschaffen, mußte er verehrungswürdig sein. Liebe ist nicht möglich ohne Objekt, das sie erwecken kann, und wir würden nichts von Jesu wissen, würde uns nicht die Leidenschaft, die er seiner Umgebung eingeflößt, lehren, daß er gut und groß war. Der Glaube, die Begeisterung, die Standhaftigkeit der ersten christlichen Generation lassen sich nur erklären, wenn ein Mann von riesiger Größe als Ursprung der ganzen Bewegung angenommen wird. Im Hinblick auf die wundervollen Schöpfungen aus der Zeit der Glaubensstärke entstehen im Geiste zwei für die rechte historische Kritik gleich schädliche Eindrücke. Man ist einerseits geneigt, diese Schöpfungen zu unpersönlich in Betracht zu ziehen, man spricht oft der Gesamtthätigkeit zu, was das Werk eines mächtigen Willens und überlegenen Geistes gewesen ist. Anderseits wieder will man in den Urhebern dieser außergewöhnlichen Bewegungen etwas anderes sehen als Menschen unserer Art. Suchen wir doch ein tieferes Gefühl für die in der Natur verborgenen Kräfte zu gewinnen. Unsere Civilisationen, von einer minutiösen Polizei geregelt, können uns keine Vorstellung geben, was der Mensch in jenen Tagen vermochte, wo die Originalität jedes Einzelnen einen freien Spielraum zur Entwicklung hatte. Nehmen wir einen Einsiedler an, der in den benachbarten Höhlen unserer Stadt lebte und diese zuweilen verließe, um sich in den Palästen der Großen zu zeigen und hier mit herrischem Tone den Königen das Nahen einer von ihm beförderten Umwälzung verkünden wollte. Schon der Gedanke läßt uns lachen. Doch so war Elias. Elias der Thesbiter würde heutzutage nicht weiter als bis zum Thor der Tuilerien gekommen sein. Die Predigten Jesu, sein freies Wirken in Galiläa treten aus unseren gewohnten socialen Verhältnissen nicht minder heraus. Unbehindert von unserer konventionellen Höflichkeit, frei von einer einförmigen Erziehung, wie sie uns wohl verfeinert, aber auch unsere Individualität so sehr abschwächt, bekundeten diese großen Geister eine erstaunliche Energie in ihrem Wirken. Sie erscheinen uns wie die Riesen eines heroischen Zeitalters, das in Wirklichkeit nie existiert hat. Welch ein Irrtum! Diese Menschen waren unsere Brüder, sie hatten unseren Wuchs, fühlten, dachten wie wir. Aber bei ihnen war der Odem Gottes frei; bei uns liegt er in den ehernen Fesseln einer kleinlichen Gesellschaft und ist zur unverbesserlichen Mittelmäßigkeit verurteilt.

Stellen wir daher Jesu Person auf den höchsten Gipfel menschlicher Größe. Lassen wir uns nicht irre führen durch das übertriebene Mißtrauen gegenüber einer Legende, die uns stets in einer übernatürlichen Welt hält. Das Leben des heiligen Franz von Assisi ist auch nur ein Gewebe von Wundern – hat man aber deswegen an der Existenz und an das Wirken Franz von Assisis je gezweifelt? Sagen wir daher nicht, daß der Ruhm, das Christentum gestiftet zu haben, den ersten Christen gebühre und nicht dem, welchen die Legende zu einem Gott gemacht hat. Im Orient ist die Ungleichheit der Menschen viel markanter als bei uns. Nicht selten sieht man inmitten einer Atmosphäre von Schlechtigkeit Charaktere sich erheben, deren Größe uns erstaunen machen. Weit entfernt, durch seine Jünger gewirkt zu haben, erscheint Jesus ihnen in allem überlegen. Paulus und Johannes ausgenommen, waren seine Jünger Männer ohne Erfindungsgabe und Genie. Selbst Paulus hält mit Jesu keinen Vergleich aus; und was Johannes betrifft, so werde ich später zeigen, daß sein Wirken – so hoch es in gewisser Beziehung auch steht – doch weit davon entfernt ist, in jeder Beziehung vorwurfsfrei zu sein. Daher die gewaltige Überlegenheit der Evangelien über die anderen Schriften des Neuen Testaments. Daher der peinliche Abstand, der sich fühlbar macht, wenn man von der Geschichte Jesu zu der der Apostel übergeht. Selbst die Evangelisten, die uns das Bild Jesu überliefert haben, stehen so tief unter dem, von welchem sie sprechen, daß sie ihn immer wieder entstellen, weil sie an seine Größe nicht hinaufzulangen vermögen. Ihre Schriften sind voll Irrtümer und Widersinn. Man fühlt bei jeder Zeile eine Rede von göttlicher Schönheit heraus, niedergeschrieben von Männern, die sie nur halb begriffen haben und der sie deshalb ihre eigenen Anschauungen unterschieben. Kurz, der Charakter Jesu ist weit entfernt von seinen Biographen verschönert worden zu sein, er wurde von ihnen vielmehr abgeschwächt. Die Kritik mußte, um ihn wieder herzustellen, eine Menge Mißverständnisse beseitigen, die durch die geistige Mittelmäßigkeit der Jünger gebildet worden sind. Sie haben ihn dargestellt wie sie ihn auffaßten und oft haben sie Jesu erniedrigt, wo sie ihn zu erhöhen wähnten.

Ich weiß, daß unsere heutigen Anschauungen durch diese von einem anderen Geschlecht, unter einem andern Himmel und unter anderen Verhältnissen verfaßten Legenden mehr als einmal unangenehm berührt werden. Es giebt Tugenden, die in gewissen Beziehungen unserer Neigung mehr befriedigen als andere. Der ehrenwerte sanfte Marc Aurel, der bescheidene, gutartige Spinoza, die an Wunder nicht geglaubt haben, sind frei gewesen von manchen der Irrtümer, die Jesus teilte. Letzterer hatte in seiner großen Zurückgezogenheit ein Vorteil, das Jesus nicht erstrebte. Durch unsere besonders zarte Anwendung von Mitteln der Überzeugung, durch unsere absolute Aufrichtigkeit und selbstlose Liebe zum reinen Gedanken, haben wir, die wir unser Leben der Wissenschaft geweiht haben, ein neues sittliches Ideal begründet. Doch das Urteil der allgemeinen Geschichte darf sich nicht auf die Abschätzung persönlicher Verdienste beschränken. Marc Aurel und seine edlen Maximen sind ohne dauernden Einfluß auf die Welt geblieben. Er hinterließ köstliche Bücher, einen fluchwürdigen Sohn, eine im Verfall begriffene Welt. Jesus bleibt für die Menschheit das unerschöpfliche Prinzip geistiger Wiedergeburt. Der großen Menge genügt die Philosophie nicht; sie will Heiligkeit. Ein Appollonius von Tyana mit seiner Wunderlegende, sollte mehr Erfolg haben, als ein Sokrates mit seiner kühlen Vernunft. Sokrates, sagte man, lasse die Menschen auf Erden, Appollonius versetzte sie in den Himmel. Sokrates sei ein Weiser, Appollonius ein Gott. Ohne ein gutes Stück Asketentum, Frömmelei und Wunder hat bis zu unseren Tagen die Religion nicht bestehen können. Als man nach den Antoniden eine Religion der Philosophie schaffen wollte, mußten die Philosophen in Heilige verwandelt werden, das »erbauliche Leben« von Pythagoras und Plotin geschrieben, eine Legende, Tugenden an Enthaltsamkeit und Beschaulichkeit, übernatürliche Kräfte ihnen angedichtet werden, ohne die bei den Jahrhunderten weder Glauben noch Autorität gefunden werden konnte.

Hüten wir uns also vor einer Verstümmelung der Geschichte zur Befriedigung unserer kleinlichen Empfindelei. Wer von uns, Pygmäen wie wir sind, könnte vollbringen, was der extravagante Franz von Assisi, was die heilige Therese vollbracht haben? Mag die Wissenschaft auch Namen haben zur Bezeichnung dieser großen Abnormalitäten menschlicher Natur; mag sie behaupten, Genie sei eine Krankheit des Gehirnes; mag sie in einem gewissen sittlichen Zartgefühl den Beginn von Abzehrung erschauen; mag sie Begeisterung und Liebe zu nervösen Anfällen rechnen – das will alles nichts bedeuten. Die Worte gesund, krank, sind relativ. Wer wollte nicht eher krank wie Pascal sein, als gesund wie ein Durchschnittsmensch? Die beschränkten Anschauungen, die heutzutage über den Wahnsinn herrschen, führen unsere historischen Urteile in Angelegenheiten dieser Art bedenklich irre. Ein Zustand, in dem man Dinge spricht, deren man sich nicht bewußt ist; in dem sich Gedanken äußern, ohne daß sie vom Willen gerufen oder geregelt werden – setzt gegenwärtig den Menschen der Gefahr aus, ins Narrenhaus gesperrt zu werden. Früher hieß solches Prophezeiung, Inspiration. Die köstlichsten Errungenschaften der Welt sind im Fieberwahn geschaffen worden. Jede hervorragende Schöpfung bringt eine Verrückung des Gleichgewichts, einen gewaltsamen Zustand für seinen Schöpfer hervor.

Wohl sei anerkannt, daß das Christentum ein zu kompliziertes Werk ist, um die That eines einzigen Menschen zu sein. Es hat sozusagen die ganze Menschheit dabei mitgewirkt. Es giebt keine so dicht ummauerte Welt, die nicht etwas Wind von außen erhielte. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll seltsamer Synchronismen, die bewirken, daß weit voneinander entfernte Bruchteile des menschlichen Geschlechts, ohne in Verbindung miteinander je gestanden zu sein, gleichzeitig zu fast gleichartigen Gedanken und Vorstellungen kommen. Im 13. Jahrhundert trieben die Lateiner, die Griechen, die Syrier, die Juden, die Mohammedaner Scholastik, von York bis Samarkand fast dieselbe Scholastik. Im 14. Jahrhundert überließ sich die ganze Welt der mystischen Allegorie, in Italien sowohl, wie in Persien und Indien. Im 16. Jahrhundert entfaltete sich die Kunst gleichartig in Italien, auf dem Berge Athos, am Hofe des Großmoguls, ohne daß Sankt Thomas, Barhebräus, die Rabbinen von Narbonne, die Motecallemin von Bagdad sich gekannt hätten, ohne daß Dante, Petrarca einen Sofi gesehen, ohne daß ein Zögling der Schulen von Perugia und Florenz nach Dehli gekommen wäre. Man möchte große geistige Einflüsse annehmen, die wie Epidemien, ohne Unterschied der Grenze oder des Volkes über die Welt sich verbreiten. Die Verbindung der Ideen der Menschen wird nicht nur durch Bücher und direkten Verkehr hergestellt. Jesus kannte Buddha, Zoroaster, Plato, nicht einmal dem Namen nach. Er hatte kein griechisches Buch, keine buddhistische Sutra gelesen; und doch sind bei ihm mehr als ein Element aus dem Buddhismus, dem Parsentum, der griechischen Weisheit zu finden. Dies alles geschah durch geheime Kanäle und durch jene gewisse Sympathie, die zwischen den verschiedenen Teilen der Menschheit besteht. Der große Geist empfängt einerseits alles von seiner Zeit, andererseits wieder beherrscht er seine Zeit. Zeigt man daher, daß die von Jesu gestiftete Religion die natürliche Folge dessen, was ihr vorausging, gewesen ist, so schwächt man damit ihre Trefflichkeit keineswegs ab; im Gegenteil, man beweist damit, daß sie ein Recht zu leben hatte, daß sie den Trieben und Bedürfnissen des Herzens in einer bestimmten Zeit entsprochen hat.

Ist es aber gerecht, zu sagen, Jesus verdanke dem Judentum alles und seine Größe sei nur die des jüdischen Volkes? Niemand kann mehr als ich geneigt sein, dieses einzig dastehende Volk hochzuschätzen, dessen besondere Gabe es gewesen zu sein scheint, in seinem Schoße das Extreme des Guten wie des Bösen halten zu können. Sicherlich ging Jesus aus dem Judentum hervor, doch so, wie Sokrates aus der Schule der Sophisten, wie Luther aus dem Mittelalter, wie Lamennais aus dem Katholizismus, wie Rousseau aus dem 18. Jahrhundert hervorgegangen sind. Man ist aus seiner Zeit und von seinem Volke, selbst wenn man seiner Zeit und seinem Volke entgegenwirkt. Weit entfernt, der Fortsetzer des Judentums zu sein, stellt Jesus den Bruch mit dem jüdischen Geist dar. Nähme man auch an, daß seine Gedanken bezüglich dessen zu Zweifeln Anlaß böten, so gab es doch die allgemeine Richtung des Christentums nach seinem Tode nicht zu. Dieser hatte sich immer mehr vom Judentum entfernt. Und die Vollkommenheit des Christentums wird darin bestehen, daß es auf Jesus, aber sicherlich nicht auf das Judentum zurückkomme. Die große Ursprünglichkeit des Stifters bleibt daher unberührt; sein Ruhm kennt keinen Teilhaber.

Sicherlich trugen auch die Verhältnisse viel zum Gelingen dieser großartigen Revolution bei; allein die Verhältnisse begünstigen nur, was wahr und gerecht ist. Jeder Zweig der Entwickelung der Menschheit hat seine bevorzugte Zeit, wo er durch einen gewissen innern Trieb und ohne Mühe zur Vollkommenheit gelangt. Keiner Mühe des Denkens kann es später gelingen, jene Meisterwerke zu schaffen, die in diesen Zeiten die Natur durch begeisterte Genien hervorbringt. Was die goldene Zeit Griechenlands für Kunst und Wissenschaft war, das war Jesu Zeit für die Religion. Die jüdische Gesellschaft wies den außergewöhnlichsten intellektuellen und sittlichen Zustand auf, den je die Menschheit aufzuweisen hatte. Es war tatsächlich eine der göttlichen Stunden, in denen das Große durch das Zusammenwirken tausend geheimer Kräfte erfolgt, wo die edlen Seelen zu ihrer Unterstützung eine Fülle von Bewunderung und Teilnahme finden. Die Welt, befreit von der straffen Tyrannei der kleinen Ortsrepubliken, genoß ihre Freiheit. Erst später machte sich der römische Despotismus in so unheilvoller Weise fühlbar, und überdies war er überhaupt in diesen fernen Provinzen weniger fühlbar als im Centrum des Reiches. Unsere Nörgeleien – die auf geistigem Gebiet mörderischer als der Tod wirken – kannte man damals nicht. Jesus vermochte drei Jahre lang ein Leben zu führen, das ihn unter anderen gesellschaftlichen Zuständen zwanzigmal vor die Polizei gebracht hätte. Schon unser Gesetz wider unbefugte Ausübung der Heilkunde hätte genügt, seiner Laufbahn plötzlich ein Ende zu machen. Ferner kümmerte sich die ungläubige Dynastie der Heroden wenig um religiöse Bewegungen; unter den Hasmonäern hatte Jesus wahrscheinlich schon bei seinem ersten Auftreten auf Hindernisse gestoßen. Unter solchen gesellschaftlichen Verhältnissen wagt ein Reformator nur den Tod und der Tod ist gut für den, der für die Zukunft wirkt. Man stelle sich vor, Jesus hätte bis zum 60. oder 70. Jahr die Last seiner Göttlichkeit tragen müssen, bis sein himmlisches Feuer verglommen wäre und er sich unter dem Zwang einer ungeheuren Rolle allmählich abgenutzt hätte! Jene, die durch ein Merkmal gekennzeichnet sind, begünstigt alles. Sie gehen mit einer gewissen unbesiegbaren Begeisterung gleichsam wie durch Schicksalsruf dem Ruhme zu.

Diese hehre Persönlichkeit, die gegenwärtig noch jeden Tag das Geschick der Welt leitet, darf man wohl göttlich nennen; nicht in dem Sinne, als ob Jesus alles Göttliche in sich aufgenommen hätte, oder ihr – um eine scholastische Bezeichnung zu gebrauchen – adäquat wäre, sondern in dem Sinne, daß Jesus das Individuum ist, das sein Geschlecht den größten Schritt zum Göttlichen machen ließ. Die Menschheit zeigt in ihrer Ganzheit ein Gemenge niedriger, egoistischer Wesen, die dem Tiere nur darin überlegen sind, daß ihr Egoismus ein bedachter ist. Doch mitten dieser gleichartigen Gemeinheit ragen Säulen gegen den Himmel und bezeugen eine edlere Bestimmung. Jesus ist die höchste dieser Säulen, die dem Menschen zeigen, woher er kommt, wohin er streben soll. In ihm ist alles verdichtet, was es in der Natur an Guten und Großen giebt. Er war nicht sündenrein; er hat dieselben Leidenschaften besiegt, gegen die wir ankämpfen. Kein Engel hat ihn getröstet, nur sein gutes Gewissen; kein Satan hat ihn versucht, nur der, den jeder in seinem Herzen hegt. Ebenso wie mehrere der großen Seiten seines Herzens durch die Schuld seiner Jünger für uns verloren sind, so ist es wahrscheinlich auch mit vielen seinen Fehlern der Fall. Allein nie hat noch jemand in seinem Leben das Interesse der Menschheit so sehr vor den Kleinlichkeiten der Eigenliebe vorwalten lassen wie er. Rückhaltslos seinem Gedanken hingegeben, hatte er alles andere so sehr untergeordnet, daß gegen sein Lebensende hin, die Welt für ihn nicht mehr existierte. Durch diese heldenhafte Willenskraft hat er den Himmel erobert. Es hat – Çakya-Muni vielleicht ausgenommen – keinen Menschen je gegeben, der die Familie, die Freuden dieser Welt, alle irdischen Sorgen so sehr von sich gewiesen hat. Er lebte nur seinem Vater und der göttlichen Mission, die er seiner Überzeugung nach hatte.

Wir aber, die wir ewig Kinder bleiben und zur Ohnmacht verurteilt sind; die wir arbeiten ohne zu ernten und die Frucht unserer Saat nie sehen sollen – wir beugen uns vor diesen Halbgöttern. Sie vermochten, was wir nicht können: schaffen, erstarken, handeln. Wird diese große Ursprünglichkeit noch einmal geboren werden, oder soll sich die Welt begnügen, in den Bahnen zu wandeln, die ihr kühne Schöpfer alter Zeiten eröffnet haben? Wir wissen es nicht. Aber wie immer die unerwarteten Erscheinungen der Zukunft auch sein mögen – Jesus wird nicht übertroffen werden. Sein Kultus wird sich stets verjüngen; seine Legende wird die edelsten Augen mit Thränen füllen und seine Leiden die besten Herzen rühren. Alle Jahrhunderte werden verkünden, daß unter den Erdensöhnen kein größerer geboren worden ist als Jesus.

Ende


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