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Drittes Kapitel.

Erziehung Jesu.

Diese gleichzeitig lachende und grandiose Natur lenkte die ganze Erziehung Jesu. Er lernte Lesen und Schreiben, zweifellos nach der Methode des Orients, die darin besteht, daß dem Kinde ein Buch in die Hand gegeben wird, dessen Inhalt er mit seinen Genossen kadenzmäßig wiederholt liest, bis er ihn auswendig kennt. Zweifelhaft ist jedoch ob er die hebräischen Schriften im Urtext verstand. Seine Lebensschilderer lassen ihn nach Übersetzungen in aramäischer Sprache citieren. Seine Grundsätze in der Exegese, womit wir sie uns nach denen seiner Jünger vorstellen können, ähnelten jenen, die damals üblich waren und den Geist des Targums und der Midraschim Jüdische Übersetzungen und Erläuterungen aus der talmudischen Zeit. bildeten.

Der Schulmeister in den kleinen jüdischen Städtchen war der Hassan, der Vorleser in der Synagoge. Jesus besuchte die höheren Schulen der Schreiber, Soferim, – Nazareth hatte vielleicht keine – nur wenig und er hatte keinen der Titel, die in den Augen des Volkes als Bezeichnung der Gelehrsamkeit galten. Doch wäre es ein großer Fehler anzunehmen, Jesus wäre das gewesen, was wir einen Ignoranten nennen. Die Schulung bildet bei uns in Bezug auf den persönlichen Wert einen großen Unterschied zwischen denen, den sie zu Teil wurde und denen die sie nicht genossen. Anders war es im Orient und in der guten alten Zeit überhaupt. Der rohe Zustand, in dem bei uns zufolge unseres isolierten und ganz individuellen Lebens derjenige verharrt, der nicht zur Schule ging, war jenen Gesellschaften fremd, wo sittliche Bildung und besonders der allgemeine Geist der Zeit durch stete geistige Berührung aufeinander übertragen wurde. Der Araber, der keinen Lehrer gehabt, ist dessenungeachtet oft sehr gebildet. Denn das Zelt ist eine Art stets offene Akademie, wo aus dem Zusammentreffen wohlerzogener Leute eine große geistige, ja selbst literarische Bewegung hervorgeht. Die Zartheit der Manieren, die Feinheit des Geistes haben im Orient nichts gemein mit dem, was wir Erziehung nennen. Die Männer der Schule sind es eben, die für pedantisch und schlecht erzogen galten. Bei diesem Gesellschaftszustand ist die Unwissenheit, die bei uns den Menschen zu einem niedern Rang verurteilt, die Bedingung zu großen Dingen und zu besonderer Ursprünglichkeit.

Unwahrscheinlich ist es, daß er griechisch verstand. Diese Sprache war in Judäa, außerhalb der an der Regierung teilnehmenden Klassen und den von Heiden bewohnten Städten, wie Cäsarea, nur wenig verbreitet. Das eigentliche Idiom Jesu war der syrisch-hebräische Dialekt, der damals in Palästina gesprochen wurde. Mehr noch läßt sich annehmen, daß ihm die griechische Kultur fremd war. Diese wurde von den Gelehrten Palästinas in den Bann gelegt und derselbe Fluch galt für den, »der Schweine züchtet und den, der seinen Sohn die griechischen Wissenschaften lehrt«. Allenfalls war diese Kultur nicht in kleine Städte wie Nazareth gedrungen. Allein trotz des Fluches der Gelehrten hatten manche Juden sich die hellenische Bildung angeeignet. Ohne von der jüdischen Schule in Ägypten zu sprechen, wo schon zwei Jahrhunderte früher der Versuch begonnen wurde, Hellenentum und Judentum zu verschmelzen, sei bemerkt, daß ein Jude, Nikolas von Damaskus, gerade damals einer der bedeutendsten und gelehrtesten Männer seines Jahrhunderts war. Bald sollte Josephus das Beispiel eines ganz hellenisierten Juden zeigen. Doch an Nikolas war nichts jüdisch als das Blut. Josephus bemerkte, er sei eine Ausnahme unter seinen Zeitgenossen gewesen; und die ganze schismatische Schule in Ägypten hatte sich dermaßen von Jerusalem gesondert, daß weder im Talmud noch in der jüdischen Tradition ihrer auch nur im geringsten erwähnt wird. Auch in Jerusalem wurde das Griechische wenig studiert; es galt für gefährlich, selbst erniedrigend, und ließ es höchstens nur für den Putz der Frauen gelten. Nur das Studium der Gebote galt für freisinnig und würdig eines ernsten Mannes. Befragt um den Zeitpunkt, wann es tauglich sei die Kinder »griechische Weisheit« zu lehren, antwortete ein weiser Rabbi: »wenn weder Tag noch Nacht ist; denn es heißt von dem Gesetz: du sollst es studieren Tag und Nacht«.

Weder direkt noch indirekt gelangte also irgend ein Element profaner Bildung zu Jesu. Er kannte nichts außer dem Judentum; sein Geist bewahrte jene offene Unbefangenheit, die stets eine ausgedehnte und mannigfaltige Bildung schwächt. Selbst im Schoß des Judentums blieb er vielen Bemühungen fremd, die mit seinen eigenen oft parallel waren. Einerseits war ihm das strenge Leben der Essäer oder Therapeuten fremd, anderseits auch der schöne Versuch einer Religionsphilosophie der jüdischen Schule zu Alexandrien, deren geistvoller Erklärer sein Zeitgenosse Philo war. Die vielen Ähnlichkeiten, die zwischen ihm und Philo zu finden sind, die trefflichen Maximen über die Liebe zu Gott, die Barmherzigkeit, die Ruhe in Gott, welche gleichsam ein Echo zwischen dem Evangelium und den Schriften des berühmten alexandrinischen Denkers bilden, kommen vom gemeinsamen Streben, das die Bedürfnisse der Zeit allen erleuchteten Geistern einflößte.

Zu seinem Glücke kannte er auch nicht die bizarre Scholastik, die in Jerusalem gelehrt wurde und aus der bald der Talmud entstehen sollte. Wenn sie auch von einigen Pharisäern nach Galiläa schon gebracht wurde, so verkehrte er doch mit ihnen nicht; und als er später diese kleinliche Kasuistik berührte, widerte sie ihn nur an. Doch läßt sich annehmen, daß ihm die Grundsätze eines Hillels nicht unbekannt blieben. Hillel hatte 50 Jahre vor ihm Aphorismen ausgesprochen, die seinen sehr ähnlich sind. Zufolge seiner demütig ertragenen Armut, seines sanften Charakters, seiner Opposition gegen Heuchler und Priester, wurde Hillel der eigentliche Lehrer Jesu, wenn es dort, wo es sich von einer so großen Ursprünglichkeit handelt, erlaubt ist von einem Lehrer zu sprechen.

Die Lektüre der Bücher des Alten Testaments machte auf ihn großen Eindruck. Der Kanon der heiligen Schriften bestand aus zwei Teilen: dem Gesetze, d.h. dem Pentateuch, und den Propheten, so wie wir sie heute noch besitzen. Eine umfassende Methode allegorischer Deutung wurde auf alle diese Schriften angewandt; man suchte darin was in ihnen nicht enthalten war, jedoch den Bestrebungen der Zeit entsprechen mochte. Ein Gesetz, das nicht mehr das alte Gesetz des Landes war, sondern vielmehr eine Utopie, eine Künstelei, ein frommer Trug aus der Zeit frömmelnder Könige, war zum unerschöpflichen Thema für spitzfindige Deutungen geworden, seitdem die Nation sich nicht mehr selbst regierte. Was die Schriften der Propheten und die Psalmen betrifft, so glaubte man, daß fast alle etwas geheimnisvollen Stellen auf den Messias sich bezögen und man suchte in ihnen das Vorbild dessen, der die Hoffnungen des Volkes erfüllen sollte. Auch Jesus neigte sich der allgemeinen Vorliebe für solche allegorische Deutungen zu. Doch die wahre Poesie der Bibel, die den kleinlichen Lehrern zu Jerusalem entging, entfaltete sich völlig vor dem schönen Genie Jesu. Das Gesetz scheint nicht viel Reiz für ihn gehabt zu haben; er glaubte Besseres thun zu können. Aber die religiöse Poesie der Psalmen befanden sich mit seinem lyrischen Gemüte in wundervoller Harmonie. Sein ganzes Leben lang blieben sie seine Nahrung, seine Stütze. Die Propheten – besonders Jesaias und seine Fortsetzer zur Zeit der Gefangenschaft – mit ihren glänzenden Zukunftsträumen, ihrer feurigen Beredsamkeit, ihren mit entzückenden Bildern untermischten Scheltworten, waren seine wirklichen Lehrer. Er las auch ohne Zweifel mehrere der apokryphischen Schriften, das heißt, jener ziemlich neueren Schriften, deren Verfasser sich hinter den Namen von Propheten und Patriarchen verbargen, um sich eine Autorität zu geben, die sonst nur sehr alten Schriftstellern zugesprochen wurde. Eines dieser Bücher zog ihn besonders an: das Buch Daniel. Dieses Buch, verfaßt von einem exaltierten Juden in der Zeit des Antiochus Epiphanes, und unter dem Namen eines alten Weisen herausgegeben, war das Resümee des Geistes der letzten Zeit. Die Legende von Daniel war schon im 7. Jahrhundert v. Chr. geschaffen (Hesek. XIV, 14, XXVIII, 3). Nur der Legende wegen hat man ihn zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft leben lassen. Sein Verfasser, der wahre Schöpfer der Philosophie der Geschichte, hatte es als Erster gewagt in der Bewegung der Welt und in der Folge der Reiche nichts anderes zu sehen als eine Reihe von Thatsachen, untergeordnet den Bestimmungen des jüdischen Volkes. Frühzeitig war Jesus von diesen hohen Hoffnungen durchdrungen. Vielleicht kannte er auch das Buch Henoch, das damals den heiligen Schriften gleichgestellt wurde und auch andere Schriften dieser Art, die den Volksgeist so sehr bewegten. Die Ankunft des Messias mit ihrer Glorie und ihrem Schrecken, das Aufeinanderstürzen der Völker, das Zusammenbrechen von Himmel und Erde, wurden vertraute Stoffe seiner Phantasie. Und da diese Umwälzungen für bevorstehend gehalten wurden, viele Leute deren Zeitpunkt zu berechnen suchten, schien ihm das Übernatürliche, in das uns solche Visionen versetzen, völlig natürlich und einfach.

Daß er von dem allgemeinen Weltenzustand keine Kenntnis hatte, zeigt sich aus jedem Zug der authentischsten seiner Reden. Die Erde scheint ihm noch in Reiche geteilt zu sein, die sich gegenseitig bekriegen; er scheint nichts vom »römischen Frieden« zu wissen und dem neuen Gesellschaftszustand, der sein Jahrhundert einleitete. Er hatte keinen klaren Begriff von der römischen Macht, nur der Name »Cäsar« wurde ihm bekannt. Er sah in Galiläa oder in dessen Nachbarschaft Tiberias, Julias, Diocäsarea, Cäsarea bauen, Prachtwerke der Heroden, die hiermit ihre Bewunderung für römische Civilisation, ihre Ergebenheit den Mitgliedern der Familie Augustus erweisen wollten, deren Namen, durch eine Schicksalslaune, heutigestags in bizarrem Wandel zur Bezeichnung der elendsten Beduinenweiler dienen. Er sah wahrscheinlich auch Sebasta, das Werk Herodes des Großen, eine Prachtstadt, deren Ruinen glaubhaft machen könnten, sie sei fertig wie eine Maschine an Ort und Stelle gebracht und aufgestellt worden. Diese Prunkarchitektur, die in Schiffsladungen nach Judäa gebracht wurde, diese Hunderte von Säulen gleichen Durchmessers, die irgendwelcher geschmacklosen Hauptstraße als Zierat dienen konnten – das ist es, was er »die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit« nannte. Aber dieser Luxus auf Kommando, diese administrative und offizielle Kunst mißfielen ihm. Was er liebte waren seine galiläischen Dörfer, ein buntes Durcheinander von Hütten, Tennen, in Fels gehauenen Weinkellern, Brunnen, Gräbern, Feigen- und Olivenbäumen. Er blieb stets in der Nähe der Natur. Der Hof der Könige dünkte ihn ein Ort, wo die Leute herausgeputzt dahergingen (Matth. XI, 8). Die reizenden Unmöglichkeiten, deren seine Parabeln voll sind, wenn er von Königen oder Mächtigen spricht, beweisen, daß er die aristokratische Gesellschaft nie anders betrachtete als ein junger Dörfler, der die Welt durch die Prisma seiner Naivität beschaut.

Fremder noch war ihm der neue Gedankengang, der durch die griechische Wissenschaft geschaffen wurde, der die Basis jeder Philosophie bildet und den die moderne Wissenschaft laut anerkannt hat, die Ausschließung der Götterwesen, denen der naive Glauben des Altertums die Regierung des Weltalls beimaß. Etwa ein Jahrhundert vor ihm hatte Lucretius in bewundernswerter Weise die Unveränderlichkeit der allgemeinen Ordnung in der Natur dargelegt. Die Leugnung des Wunders, der Gedanke, daß alles in der Welt nach Gesetzen sich regelt, an die das persönliche Zuthun höherer Wesen keinen Anteil hat, wurde in den hohen Schulen aller Länder gelehrt, die sich von der griechischen Wissenschaft nährten. Vielleicht war dies selbst Babylon und Persien bekannt. Jesus wußte nichts von diesem Fortschritt. Obwohl in einer Zeit geboren, in der das Prinzip positiver Wissenschaft schon verkündet wurde, lebte er doch inmitten des Übernatürlichen. Nie mochten die Juden vom Verlangen nach dem Wunderbaren erfüllter gewesen sein. Philo, der in einem großen geistigen Centrum lebte und eine umfassende Erziehung genoß, besaß nur ein chimärisches Wissen von geringem Gehalt.

Jesus unterschied sich in diesem Punkte nicht von seinen Landesgenossen. Er glaubte an den Teufel, den er für eine Art Genius des Bösen hielt (Matth. VI, 13) und wie die andern wähnte auch er, daß die Nervenkrankheiten von Dämonen herrühren, die sich des Kranken bemächtigen und ihn durchrütteln. Das Wundervolle galt ihm nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Der Begriff des Übernatürlichen mit seinen Unmöglichkeiten tritt erst dann zu Tage, wenn die experimentierende Naturwissenschaft beginnt. Der Mensch, dem jeder Begriff der Physik fehlt, der glaubt, daß er durch Gebete den Zug der Wolken ändern könne, Krankheiten, ja selbst den Tod bannen, findet im Mirakel nichts Außergewöhnliches, weil für ihn aller Dinge Lauf das Resultat des freien Willens der Gottheit ist. Dies war auch stets der geistige Standpunkt Jesu. Aber in seiner großen Seele brachte ein solcher Glauben eine Wirkung hervor, entgegengesetzt der, die er auf die Menge ausübte. Bei dieser verursachte der Glaube an das persönliche Wirken Gottes eine thörichte Leichtgläubigkeit und den Trug der Charlatanerie. Bei ihm jedoch hielt er sich an die tiefe Erkenntnis der familiären Beziehungen des Menschen zu Gott und an einen übertriebenen Glauben an die Macht des Menschen, holde Irrtümer, die das Prinzip seiner Macht wurden. Denn wenn sie ihn auch eines Tages in den Augen des Physikers und Chemikers als befangen hinstellen mußten, so gaben sie ihm doch eine Macht über seine Zeit, die keine Person vor ihm oder nach ihm je besessen hat. Früh schon zeigte sich sein eigenartiger Charakter. Die Legende gefällt sich darin, ihn schon in seiner Kindheit als widerspenstig gegen die väterliche Autorität zu zeigen, indem er von der gewöhnlichen Bahn abweicht um seinem Berufe zu folgen (Luk. II, 42. Die apokryphischen Evangelien enthalten eine Fülle ähnlicher, oft ins Groteske verzerrter Geschichten). Sicher ist wenigstens, daß die verwandtschaftlichen Verhältnisse von ihm gering geachtet wurden. Seine Familie scheint ihn nicht geliebt zu haben (Matth. XIII, 57; Mark. VI, 4; Joh. VII, 3) und zuweilen ist auch er hart gegen sie (Matth. XII, 48; Mark. III, 33; Luk. VIII, 21; Joh. II, 4; Evangelium nach den Hebräern bei St. Hieronymus Dial. adv. Pelag. III, 2). Wie alle Menschen, die mit einem Gedanken ausschließlich beschäftigt sind, gelangte auch Jesus dahin, die Bande des Blutes wenig zu beachten. »Hier ist meine Mutter, hier sind meine Brüder,« sagte er auf seine Jünger weisend; »wer den Willen meines Vaters erfüllt, der ist mein Bruder, meine Schwester.« Die simpeln Leute verstanden das nicht und eines Tages kam ein Weib an ihm vorüber und rief aus: »Glücklich der Leib der dich geboren und die Brust, die dich gesäugt!« Er aber antwortete (Luk. XI, 27): »Glücklich vielmehr, der das Wort Gottes vernimmt und ihm gehorcht.« Bald ging er in seinem Widerstand gegen die Natur noch weiter und wir werden sehen, wie er alles was dem Menschen wert ist, Verwandtschaft, Liebe, Vaterland mit Füßen tritt und nur noch Seele und Herz für den Gedanken hat, der sich ihm als die absolute Form des Guten und Wahren darstellt.


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