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Siebentes Kapitel

Entwicklung der Gedanken Jesu über das Reich Gottes

Bis zur Verhaftung Johannes, die wir ungefähr in den Sommer des Jahres 29 stellen können, verließ Jesus die Gegend des Toten Meeres und den Jordan nicht. Der Aufenthalt in der Wüste von Judäa wurde allgemein als Vorbereitung zu großen Dingen betrachtet, als eine Art »Rückzug« vor dem öffentlichen Auftreten. Jesus unterwarf sich hier dem Beispiel anderer, brachte vierzig Tage, ohne andere Gesellschaft als die der wilden Tiere, mit strengem Fasten zu. Die Phantasie seiner Jünger beschäftigte sich mit diesem Aufenthalt nicht wenig. Im Volksglauben galt die Wüste als Sitz von Dämonen (Tob. VIII, 3; Luk. XI, 24). Es giebt wenig Gegenden auf Erden, die trostloser, gottverlassener, dem Leben verschlossener sind, als der steinige Abhang, der das westliche Ufer des Toten Meeres bildet. Man glaubt, daß er während der Zeit, die er auf diesem entsetzlichen Gebiet zugebracht hat, fürchterliche Prüfungen bestanden hätte; daß ihn Satan mit Illusionen geschreckt, oder ihm mit verführerischen Versprechungen genaht und daß schließlich als Lohn seines Sieges ein Engel gekommen wäre, um ihm zu dienen. Matth. IV; Mark. I, 12, 13; Luk. IV. Die große Ähnlichkeit dieser Erzählungen mit ähnlichen Legenden des Vendidad und Lalitavistara könnte vermuten lassen, man habe es hier mit einer Mythe zu thun. Doch die karge, gedrängte Erzählung des Markus, die hier augenscheinlicher die ursprüngliche Fassung hat, setzt eine Thatsache voraus, die später zu legendenhafterer Ausschmückung Anlaß bot.

Wahrscheinlich erfuhr Jesus die Verhaftung Johannes des Täufers, als er die Wüste verließ. Er hatte jetzt keinen Grund mehr, seinen Aufenthalt in einem Lande zu verlängern, das ihm halb fremd war. Vielleicht befürchtete er auch, ebenfalls die Strenge fühlen zu müssen, die gegen Johannes in Anwendung kam und er wollte sich zu einer Zeit nicht bloßstellen, wo sein Tod, bei dem geringen Ansehen, das er erst besaß, den Fortschritt seiner Ideen nichts genützt hätte. Er kehrte nach Galiläa, seinem eigentlichen Vaterlande zurück (Matth. IV, 12; Mark. I, 14; Luk. IV, 14; Joh. IV, 3), gereift durch eine wichtige Erfahrung und durch die Berührung mit einem großen, von ihm so verschiedenen Manne, sich seiner eigenen Ursprünglichkeit bewußt geworden.

Im ganzen genommen war der Einfluß des Johannes auf Jesus diesem eher schädlich als nützlich gewesen. Er wurde ein Hemmnis in seiner Entwickelung. Alles läßt darauf schließen, daß er, als er den Jordan hinabging, Ideen hatte, die denen Johannes überlegen waren, und daß es nur eine Art Konzession war, die ihn für einen Augenblick der Taufe geneigt machte. Wäre der Täufer, dessen Autorität er sich kaum hätte entziehen können, frei geblieben, so hätte Jesus vielleicht das Joch der Riten und äußeren Bräuche nicht abschütteln können und dann wäre er zweifellos ein unbekannter jüdischer Sektirer geblieben; denn die Welt hätte nicht die einen Bräuche gegen die andern eingetauscht. Die Anziehungskraft einer von jeder äußeren Form freien Religion war es, die dem Christentum alle großen Seelen zugeführt hat. Als der Täufer gefangen war, wurde sein Anhang geringer und Jesus war sich seinem eigenen Gefühl wieder überlassen. Das einzige, was er Johannes zu verdanken hatte, waren gewisse Anleitungen zum Predigen und öffentlichem Wirken. Von dieser Zeit an predigte er in der That mit größerer Kraft und übte auf die Menge eine gewisse Autorität aus (Matth. VIII, 29; Mark. I, 29; Luk. IV, 32). Auch scheint es, daß sein Aufenthalt bei Johannes weniger durch Einfluß des Täufers, als zufolge des natürlichen Laufes seines eigenen Gedankens, seine Ideen über »das Himmelreich« zur Reife brachten. Sein Losungswort ist hinfort die »Botschaft«, die Verkündigung, daß das Reich Gottes nahe sei (Mark. I, 14, 15). Jesus ist jetzt nicht mehr der bloße Moralist, der hehre Lehren in wenige kurze und kräftige Aphorismen äußert; er ist jetzt der transcendentale Revolutionär, der versuchen will, die Welt auf seiner eigenen Grundlage zu erneuern und auf Erden sein Ideal zu begründen. »Das Reich Gottes erwerben« bedeutet just so viel wie ein Jünger Jesu sein (Mark. XV, 43). Der Ausdruck »Reich Gottes« oder »Himmelreich« war den Juden, wie schon erwähnt wurde, seit langem geläufig. Aber Jesus gab ihm einen moralischen Sinn, eine sociale Tragweite, die selbst der Verfasser des Buches Daniel in seiner apokalyptischen Verzückung kaum anzunehmen gewagt hätte.

In der Welt, wie sie einmal ist, regiert das Schlechte. Satan ist der »König der Welt« und alles gehorcht ihm (Joh. XII, 31, XIX, 30, XVI, 11. Vgl. 2. Korinth. IV, 4; Ephes. II, 2). Die Könige töten die Propheten. Die Priester und die Gelehrten thun nicht, was sie andern zu thun befehlen. Die Gerechten werden verfolgt und der einzige Anteil des Guten sind die Träume. Die »Welt« ist derart die Feindin Gottes und seiner Heiligen, Joh. I, 10, VII, 7, XIV, 17, 22, 27, XV, 18, XVI, 8, 20, 33, XVII, 9, 14, 16, 25. Dieses Hervorheben des Wortes »Welt« erfolgt besonders bei Pauli und Johannes. aber Gott wird erwachen und seine Heiligen rächen. Der Tag ist nahe, denn die Ruchlosigkeit hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Herrschaft der Guten soll nun eingesetzt werden.

Der Beginn dieser Herrschaft wird eine große Revolution sein. Die Welt wird wie umgekehrt erscheinen. Der Zustand der Welt ist schlecht, es genügt daher, sich ungefähr das Gegenteil des Bestehenden anzunehmen, um sich die Zukunft vorzustellen. Die Ersten werden die Letzten sein. Eine neue Ordnung wird die Menschheit leiten. Jetzt ist Gutes und Böses durcheinander gemengt, wie Unkraut und Frucht auf dem Felde. Der Herr läßt sie zusammen wachsen, aber die Stunde gewaltsamer Trennung soll kommen (Matth. XIII, 24). Das Reich Gottes wird einem großen Fischzug gleichen, der gute und schlechte Fische bringt. Man legt die Guten beiseite und wirft die Schlechten fort (Matth. XIII, 47). Der Keim dieser großen Umwälzung wird erst nicht zu erkennen sein. Er wird sein wie das Senfkorn, welches das kleinste der Samenkörner, das aber in die Erde gelegt, zum Baum wird, unter dessen Blättern die Vögel sich niederlassen (Matth. XIII, 31; Mark. IV, 31; Luk. XIII, 19). Oder er wird wie die Hefe sein, die in den Teig gethan, ihn gänzlich zum Gähren bringt (Matth. XIII, 33; Luk. XIII, 21). Eine Reihe oft dunkler Parabeln war dazu bestimmt, das Überraschende dieser plötzlichen Umwälzung, ihre scheinbaren Ungerechtigkeiten, ihren unermüdlichen und bestimmten Charakter auszudrücken (Matth. XIII, XVIII, 23, XX; Luk. XIII, 18).

Man wird das Reich Gottes aufrichten? Erinnern wir uns, daß der erste Gedanke Jesu – ein Gedanke, der bei ihm so tief war, daß er wahrscheinlich keinen Ursprung hatte, sondern in seinem Wesen selbst wurzelte – der war, daß er der Sohn Gottes wäre, der Vertraute seines Vaters, der Vollzieher seines Willens. Die Antwort Jesu auf so eine Frage konnte daher nicht zweifelhaft sein. Die Überzeugung, daß Gott durch ihn herrschen werde, hatte seinen Geist völlig eingenommen. Er betrachtete sich als den Welterneuerer. Der Himmel, die Erde, die ganze Natur, Thorheit, Krankheit, Tod sind nur Werkzeuge für ihn. In seinem heroischen Willen hält er sich für allmächtig. Wenn die Erde sich dieser letzten Umgestaltung nicht fügen sollte, so würde sie durch Flammen und den Odem Gottes zermalmt, gereinigt werden. Ein neuer Himmel wird geschaffen und die ganze Welt mit Engeln Gottes bevölkert werden (Matth. XXII. 30).

Eine radikale Umwälzung, die selbst die Natur umfaßt, das war Jesu Grundgedanke (Apostelg. III, 21). Von damals an hat er zweifellos auf die Politik verzichtet; das Beispiel Judas des Galoniten mag ihm die Zwecklosigkeit, des Volksaufstandes gezeigt haben. Niemals dachte er daran gegen Römer und Tetrarchen zu revoltieren. Das zügellose, anarchische Princip des Galoniters war nicht das seinige. Seine Unterwerfung unter die bestehende Macht war in der Form vollständig, mochte sie im Grunde genommen nur scheinbar sein. Er bezahlte dem Cäsar den Tribut um keinen Anstoß zu erregen. Freiheit und Recht sind nicht von dieser Welt, warum also das Leben durch eitle Empfindlichkeiten belästigen? Das Irdische verachtend, überzeugt, daß die vorhandene Welt nicht wert sei, ihrer besorgt zu sein, flüchtete er sich in sein Idealreich. Er legte den Grund zu der großen Lehre transcendentaler Verachtung (Matth. XVII, 24-26, XXII, 16-22), der wahren Lehre von der Freiheit der Seele, die einzig nur den Frieden giebt. Aber noch hatte er nicht gesagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«. So manches Dunkle vermischte sich mit seinen klaren Ansichten. Manchmal durchzogen seltsame Versuchungen seinen Geist. In der Wüste von Judäa hatte ihm Satan die irdischen Reiche angeboten. Unbekannt mit der Macht Roms konnte er bei der in Judäa herrschenden Begeisterung, die bald zu einem so schrecklichen bewaffneten Widerstand führen sollte, konnte er, sage ich, hoffen, durch die Kühnheit und die Zahl seiner Anhänger ein Königreich zu gründen. Oft stellte sich ihm vielleicht die Hauptfrage entgegen: »Wird das Reich Gottes durch Gewalt oder durch Sanftmut, durch Empörung oder durch Geduld gegründet werden?« Eines Tages, erzählt man, wollten ihn die schlichten Leute von Galiläa entführen und zum König ausrufen (Joh. VI, 15). Jesus floh ins Gebirge und blieb dort eine Zeitlang allein. Seine edle Natur bewahrte ihn vor dem Fehler, der aus ihm einen Agitatar oder Rebellenhäuptling gemacht hätte, einen Theudas oder Barkochba.

Die Umwälzung, die er schaffen wollte, war immer eine moralische, aber er war noch nicht dahin gelangt, daß er deren Ausführung von den Engeln und den Posaunen des Weltgerichts erwartet hätte. Auf die Menschen wollte er wirken und durch die Menschen. Ein Visionär, der keinen andern Gedanken gehabt hätte, als den vom nahenden jüngsten Gericht, wäre nicht so sehr um die Besserung der Menschen besorgt gewesen, und er hätte nicht die hehrste Moral gegründet, welche die Menschheit je empfangen hat. Viel Unbestimmtes lag sicherlich noch in seinem Gedankengang, und es war mehr ein edles Gefühl als eine klare Anschauung, die ihn zu dem erhabenen Werke drängte, das durch ihn geschaffen wurde, wenn auch in einer andern Weise als er es sich vorgestellt hatte.

Er begründete wirklich das Reich Gottes, ich will damit sagen, das Reich des Geistes. Und wenn Jesus im Schoße seines Vaters sieht, wie sein Werk in der Geschichte Früchte trägt, so kann er mit Recht sagen: »Das ist es, was ich gewollt habe«. Was Jesus begründet hat, was ewig von ihm bleiben wird – abgesehen von den Unvollkommenheiten, die sich in jedes Menschenwerk mengen – das ist die Lehre von der Freiheit der Seele. Schon Griechenland hatte über diesen Gegenstand prächtige Gedanken gehabt (s. Stobäus Florelegium, Kap. 62, 77, 86 ec.). Mehrere Stoiker hatten Mittel gefunden, um unter einem Tyrannen frei zu sein. Doch im allgemeinen dachte sich das Altertum die Welt mit gewissen politischen Formen verknüpft. Die Freigeister hießen Harmodius, Aristogiton, Brutus und Cassius. Der wahre Christ ist viel mehr jeder Fessel ledig; er ist hier auf Erden ein Verbannter. Was kümmert ihn der zeitweilige Herr der Erde, die nicht seine Heimat ist? Für ihn ist die Freiheit die Wahrheit (Joh. VIII, 32). Jesus kannte nicht die Geschichte genügend, um zu erkennen, wie gelegen eine derartige Lehre just in dem Augenblicke kommen mußte, wo die republikanische Freiheit endigte und die kleinen Munizipalverfassungen des Altertums in der Einheit des römischen Reiches aufgingen. Aber sein bewundernswerter Verstand und der wahrhaft prophetische Instinkt, den er von seiner Sendung hatte, leiteten ihn hier mit merkwürdiger Sicherheit. Durch das Wort: »Gebt dem Cäsar was des Cäsars ist und Gott was Gottes ist«, hat er etwas in der Politik Fremdes geschaffen, eine Zufluchtsstätte für die Seelen mitten im Reiche der rohen Gewalt. Sicherlich hat eine solche Lehre ihre Gefahren. Im Prinzip behaupten, das Kennzeichen rechtmäßiger Gewalt bestehe darin, daß man die Münze betrachte; zu proklamieren, daß der vollkommene Mensch die Steuer aus Verachtung, ohne Bemerkung zahlen soll – das war eine Zerstörung der Republik in alter Weise, eine Begünstigung jeder Tyrannei. In diesem Sinne hat das Christentum viel dazu beigetragen das Pflichtgefühl der Bürger zu schwächen und die Welt der absoluten Gewalt vollendeter Thatsachen auszuliefern. Doch indem es eine riesige freie Verbindung bildete, die durch drei Jahrhunderte der Politik sich ganz fern hielt, hat das Christentum den Schaden reichlich ausgeglichen, den es den Bürgertugenden zugefügt hat. Die Staatsgewalt ist auf irdische Dinge beschränkt worden, der Geist ist befreit worden, oder wenigstens doch die schreckliche Fessel römischer Allmacht für immer gebrochen.

Der Mensch, der sich hauptsächlich mit den Pflichten des öffentlichen Lebens beschäftigt, verzeiht es andern nicht, wenn sie etwas über seine Parteistreitigkeiten stellen. Besonders tadelt er die, welche die politischen Fragen den socialen unterordnen und für erstere eine Art Gleichgültigkeit bekunden. Im gewissen Sinne hat er recht, denn jede exklusive Richtung schädigt die gute Leitung der menschlichen Angelegenheiten. Doch welchen Fortschritt haben die Parteien bei der allgemeinen Moral des Menschengeschlechts hervorgebracht? Wenn Jesus, anstatt sein Himmelreich zu gründen nach Rom gezogen wäre; wenn er nur gegen Tiberias konspiriert hätte, den Germanikus sich zurückgewünscht – was wäre aus der Welt geworden? Als strenger Republikaner, als eifriger Patriot hätte er den großen Lauf der Dinge seiner Zeit nicht gehemmt, während er, indem er die Politik für unbedeutend erklärte, der Welt die Wahrheit verkündet: daß das Vaterland nicht alles sei, daß der Mensch dem Bürger vorgehe und überrage.

Unsere Grundsätze positiver Wissenschaft werden von den Träumereien, die in Jesu Programm enthalten sind, verletzt. Wir kennen die Geschichte der Erde. Umwälzungen von der Art, wie sie Jesus erwartet hat, entstehen nur aus geologischen oder astronomischen Ursachen, deren Zusammenhang mit moralischen Dingen noch nie erwiesen wurde. Aber um gegen die großen Schöpfer gerecht zu sein, dürfen wir uns nicht bei den Vorurteilen aufhalten, die sie teilen mochten. Kolumbus hat Amerika entdeckt, obgleich er von einer irrigen Anschauung ausging. Newton glaubte seine närrische Auslegung der Apokalypse sei ebenso sicher als sein Weltsystem. Wird man den erstbesten mittelmäßigen Kopf unserer Zeit über einen Franz von Assisi, St. Bernhard, Johanna d'Arc, Luther stellen wollen, weil er von Irrtümern frei ist, in denen jene noch lebten? Wird man den Wert der Menschen nach der Richtigkeit ihrer physikalischen Anschauungen und nach der ihrer mehr oder minder genauen Kenntnis des Weltsystems beurteilen wollen? Nehmen wir besser in Betracht was die Stellung Jesu war und was seine Stärke bildete! Der Deismus des achtzehnten Jahrhunderts und eine gewisse Richtung des Protestantismus haben uns daran gewöhnt, den Stifter des christlichen Glaubens nur als großen Moralisten, als einen Wohlthäter der Menschheit zu betrachten. Wir sehen im Evangelium nur noch gute Maximen; wir werfen klüglich einen Schleier auf den seltsamen geistigen Zustand, in dem es geschaffen wurde. Es giebt auch Personen, die bedauern, daß die französische Revolution mehr als einmal aus Prinzipien hervorgegangen ist und nicht von verständigen, maßvollen Männern geschaffen wurde. Wollen wir doch unsere spießbürgerlichen Programmchen nicht auf diese außergewöhnlichen, hoch über uns stehenden Bewegungen ausdehnen! Fahren wir fort »die Moral der Evangelien« zu bewundern; unterdrücken wir beim religiösen Unterricht die Chimäre, die dessen Seele ist – aber glauben wir nicht, daß man mit den simpeln Ideen von individueller Glückseligkeit und Moral die Welt bewege. Jesu Idee ging viel tiefer. Es war der revolutionärste Gedanke, der je in einem Menschenhirn gekeimt hat. Dieser Gedanke muß in seiner Ganzheit aufgefaßt werden, und nicht mit den schüchternen Auslassungen, die gerade das streichen, was ihn für die Regenerierung am wirksamsten gemacht hat.

Eigentlich ist das Ideal immer eine Utopie. Wenn wir heute den Christus moderner Vorstellung, den Tröster, den Richter neuer Zeiten darstellen wollen, was thun wir da? Das was Jesus selbst vor schier 1900 Jahren that. Wir halten die Bedingungen der realen Welt für ganz andere als sie in Wirklichkeit sind. Wir stellen einen geistigen Befreier dar, der ohne Waffengewalt die Ketten des Negers bricht, die Lage des Proletariats verbessert, die unterjochten Völker befreit. Wir vergessen, daß dies eine umgekehrte Welt voraussetzt: die Veränderung des Klimas von Virginien und dem Kongogebiet, die Umgestaltung von Blut und Rasse, von Millionen Menschen, die Reduzierung unserer socialen Verhältnisse auf eine chimärische Einfachheit, die Auflösung der natürlichen politischen Einteilung Europas. Die »Reform aller Dinge«, wie sie Jesus wollte (Apostelg. III, 21), war nicht schwieriger. Diese neue Erde, dieser neue Himmel, dieses neue Jerusalem, das vom Himmel niedersteigt, dieser Ruf: »Siehe ich mache alles neu!« (Offenb. Joh. XXI, 1, 2, 5) – das sind die gemeinschaftlichen Züge aller Reformatoren. Stets wird der Kontrast des Ideals mit der traurigen Wirklichkeit jene Empörung gegen die kalte Vernunft hervorbringen, die von mittelmäßigen Geistern als Thorheit taxiert wird, bis zum Tage, wo sie triumphiert und wo diejenigen, die sie bekämpft haben, die Ersten sind, die ihre hohe Berechtigung anerkennen.

Daß ein Widerspruch bestand zwischen dem Glauben an ein nahes Weltenende und der gewöhnlichen, vom Standpunkt eines festen, dem jetzigen ziemlich ähnlichen Zustand der Menschheit aufgefaßten Moral Jesu, wird niemand leugnen wollen. Die dem Glauben an das Tausendjährige Reich hegenden Sekten Englands zeigen denselben Kontrast; ich meine damit den Glauben an den nahen Weltuntergang und dabei doch einen gesunden Verstand für das praktische Leben, ein besonderes Verständnis für kaufmännische und gewerbliche Angelegenheiten. Eben dieser Widerspruch sicherte das Gelingen seines Werkes. Der Verkünder des Tausendjährigen Reiches hätte damit allein nichts dauerndes geschaffen, der Moralist allein nichts mächtiges. Der Millenarismus gab die Anregung, die Moral sicherte die Zukunft. Hiermit vereinte das Christentum die beiden Grundbedingungen jedes großen Erfolges in der Welt: einen revolutionären Ausgangspunkt und Lebensfähigkeit. Alles was gelingen soll, muß diesen beiden Bedingungen genügen, denn die Welt will gleichzeitig sich verändern und bleiben wie sie ist. Als Jesus eine beispiellose Umwälzung in den menschlichen Angelegenheiten verkündete, proklamierte er gleichzeitig die Grundsätze, die seit achtzehn Jahrhunderten die Stützen der Gesellschaft bilden.

Was Jesus wirklich von den Agitatoren seiner Zeit und aller Zeiten unterscheidet, das ist sein vollkommener Idealismus. Jesus ist in gewisser Beziehung Anarchist, denn er hatte keinen Begriff von einer Staatsverwaltung. Diese Regierung scheint ihm nichts weiter als ein Mißbrauch zu sein. Er spricht davon in unklarer Weise, wie ein Mann aus dem Volke, dem jede Politik fremd ist. Jeder Beamte scheint ihm ein natürlicher Feind der Kinder Gottes zu sein. Er erzählt seinen Jüngern Streitigkeiten mit der Polizei, ohne nur im geringsten dabei zu denken, daß da Anlaß zum Erröten vorliege (Matth. X, 17, 18; Luk. XII, 11). Doch niemals äußert sich bei ihm der Versuch, die Stelle der Mächtigen und Reichen einzunehmen. Er will Reichtum und Macht vernichten, nicht aber sich ihrer bemächtigen. Er prophezeit seinen Jüngern Verfolgungen und Todesstrafen (Matth. V, 10, X; Luk. VI, 22; Joh. XV, 18, XVI, 2, 20, 33, XVII, 14), allein kein einziges Mal läßt er dabei den Gedanken eines bewaffneten Widerstandes erkennen. Der Gedanke, daß man durch Leiden und Resignation allmächtig sei, daß die Herzensreinheit über die Gewalt siege, ist Jesu eigentümlich. Er ist kein Spiritualist. Er hat nicht die geringste Vorstellung der Trennung von Leib und Seele. Aber er ist ein vollkommener Idealist; die Materie ist für ihn nur ein Zeichen des Gedankens und das Wirkliche nur der lebendige Ausdruck des Unsichtbaren.

An wen sollte er sich aber wenden, auf wen zählen, um das Gottesreich zu gründen? Der Gedanke Jesu schwankt hierbei niemals. Was hoch für den Menschen ist, das ist in Gottes Augen verächtlich (Luk. XVI, 15). Die Gründer des Gottesreiches werden die Schlichten sein. Kein Reicher, kein Gelehrter, kein Priester, sondern Frauen, Männer aus dem Volke, Demütige, Geringe (Matth. V, 3,10, XVIII, 3, XIX, 14, 23, 24, XXI, 31, XXII, 2; Mark. X, 14, 15, 23–25; Luk. IV, 18, VI, 20, XVIII, 16, 17, 24, 25). Das große Kennzeichen des Messias ist, daß »den Armen die frohe Botschaft verkündigt wird« (Matth. XI, 5). Die idyllische, sanfte Natur Jesu zeigte auch hier ihre Übermacht. Eine ungeheuere sociale Umwälzung, wobei Amt und Würde umgekehrt wird und alles was hoch steht erniedrigt – das ist sein Traum. Die Welt wird ihm nicht glauben; die Welt wird ihn töten. Aber seine Jünger werden nicht von dieser Welt sein (Joh. XV, 19, XVII, 14, 16). Sie werden eine kleine Schar Niedriger und Schlichter sein, die eben durch ihre Niedrigkeit siegen wird. Das Gefühl, das aus »weltlich« den Gegensatz »christlich« gemacht hat, findet in den Gedanken des Meisters seine vollständige Rechtfertigung. S. besonders Joh. XVII, ein Kapitel, das, wenn es nicht eine von Jesu wirklich gesprochene Rede enthält, wenigstens doch ein Gefühl ausdrückt, das bei seinen Jüngern tief war und gewiß auch von ihm ausging.


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