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Viertes Kapitel.

Die Gedankenordnung, innerhalb der sich Jesus entwickelt.

Wie die erkaltete Erde nicht mehr erlaubt, die Erscheinungen der ursprünglichen Schöpfung zu verstehen, weil das Feuer, das sie durchdrang, erloschen ist, so haben auch die historischen Erklärungen stets etwas Ungenügendes, gilt es unsere schüchterne Untersuchung auf Umwälzungen der Schöpfungsepochen anzuwenden, die das Schicksal der Menschheit entschieden haben. Jesus lebte in einer Zeit, wo die Partie des öffentlichen Lebens ganz offen gespielt wurde, wo der Einsatz menschlicher Thätigkeit hundertfach gesteigert wurde. Jede große Rolle bringt den Tod. Denn derartige Bewegungen setzen Freiheit voraus und den Mangel an Präventivmaßregeln, die nicht ohne furchtbares Gegengewicht existieren können. Heute wagt der Mensch wenig und gewinnt auch wenig. In den heroischen Zeiten menschlicher Thätigkeit wagte der Mensch alles und gewann alles. Die Guten, die Bösen – oder wenigstens die, welche sich dafür halten, oder dafür gehalten werden – bilden gegenüberstehende Heere. Über das Blutgerüst gelangt man zur Apotheose. Die Charaktere haben Kennzeichen, die sie wie ewige Typen der Menschheit ins Gedächtnis graben. Außerhalb der französischen Revolution war keine historische Mitte so geeignet die verborgenen Kräfte zu entfalten, welche die Menschheit sozusagen in Reserve hält und nur an ihren Fiebertagen oder wenn ihr Gefahr droht sehen läßt, wie die in der Jesus sich bildete.

Wäre die Regierung der Welt ein spekulatives Problem und der bedeutendste Philosoph auch der geeigneteste Mensch um den Menschen zu sagen, was sie glauben sollen, so würden aus der Ruhe, aus dem Nachdenken die großen moralischen und dogmatischen Regeln entstehen, die man Religion nennt. Doch anders ist es. Çakya-Muni ausgenommen, sind die großen Religionsstifter keine Metaphysiker gewesen. Selbst der aus dem reinen Gedanken hervorgegangene Buddhismus hat nur aus politischen und moralischen Gründen die Hälfte Asiens erobert. Was die semitischen Religionen betrifft, so sind sie so wenig philosophisch wie nur möglich ist. Moses und Mohammed waren keine spekulative Menschen, sondern Männer der That. Sie haben die Menschen beherrscht, indem sie ihre Landsleute, ihre Zeitgenossen zum Handeln veranlaßten. Auch Jesus war kein Theologe, kein Philosoph mit einem mehr oder minder regelrechten System. Um sein Jünger zu werden, mußte man keine Formeln unterschreiben, kein Glaubensbekenntnis verkünden; man mußte nur zu ihm halten, ihn lieben. Er disputierte nie über Gott, denn er fühlte ihn unmittelbar in sich. Die Klippe metaphysischer Klügelei, an die das Christentum mit Beginn des 3. Jahrhunderts stieß, wurde nicht vom Stifter geschaffen. Jesus hatte weder Dogmen, noch ein System, sondern eine starke persönliche Entschlossenheit, die, nachdem sie jeden andern Willen gegenüber sich kräftiger erwies, noch jetzt das Geschick der Menschheit lenkt.

Von der babylonischen Gefangenschaft bis zum Mittelalter hat das jüdische Volk den Vorteil gehabt, sich immer in einer sehr gespannten Situation zu befinden. Das ist es, weshalb die Vertreter des Geistes die Nation während dieser langen Periode unter dem Einfluß eines heftigen Fiebers zu schreiben scheinen, das sie stets unter oder über die Vernunftgrenze zeigt, selten in der Mitte. Nie hatte der Mensch das Problem der Zukunft und seines Geschickes mit einem so verzweifelten, zum äußersten entschlossenen Mut erfaßt. Indem sie das Schicksal der Menschheit nicht trennten von dem ihres kleinen Volkes, waren die jüdischen Denker die ersten, die Sorge getragen haben für eine allgemeine Theorie vom Gange des Menschengeschlechts. Griechenland, stets in sich selbst verschlossen und nur die Zänkereien seiner kleinen Städte beachtend, hat bewundernswerte Historiker gehabt. Aber vor der römischen Epoche würde man bei ihnen vergeblich ein allgemeines System der Philosophie der Geschichte suchen, das die ganze Menschheit umfaßt. Der Jude dagegen hat, Dank einer Art prophetischen Sinnes, die Geschichte in die Religion gebracht. Vielleicht verdankt er etwas von diesem Geiste Persien. Dieses faßte seit alter Zeit die Geschichte der Welt als eine Reihe von Evolutionen auf, deren jeder ein Prophet vorsteht. Jeder Prophet hat sein »Hasar,« sein tausend Jahre währendes Reich (Chiliasmus) und diesen aufeinander folgenden Zeitaltern – ähnlich den Millionen Jahrhunderten die jedem Buddha Indiens zugehören – bilden den Faden der Ereignisse, die das Reich des Ormuzd vorbereiten. Am Ende der Zeiten, wenn der Kreis der Chiliasmen vollendet ist, kommt das definitive Paradies. Dann werden die Menschen glücklich sein, die Erde wird wie eine Ebene, es wird für alle Menschen nur eine Sprache, nur ein Gesetz, nur eine Regierung geben. Aber dem werden fürchterliche Übel vorausgehen. Dahak (der Satan Persiens) wird die Ketten brechen, die ihn fesseln, und sich auf die Welt stürzen. Zwei Propheten werden kommen, um die Menschen zu trösten und sie auf das große Ereignis vorzubereiten. Diese Ideen durchzogen die Welt, drangen auch nach Rom, wo sie einen Cyclus prophetischer Dichtungen inspirierten, deren Grundgedanken die Teilung der Geschichte der Menschheit in Perioden war, die Aufeinanderfolge der diesen Perioden entsprechenden Götter, eine vollständige Erneuerung der Welt und schließlich ein Goldenes Zeitalter (Vgl. Vergil Egl. IV; Servius über Vers 4 dieser Egl.; Nigidius, von Servius citiert, über Vers 10). Das Buch Daniel, das Buch Henoch, gewisse Teile der sibyllinischen Bücher (III, 97-817) sind der jüdische Ausdruck derselben Lehre. Gewiß mußten das die Gedanken aller sein. Anfangs wurden sie nur von einigen erfaßt, die eine lebhafte Phantasie hatten und den fremden Doktrinen geneigt waren. Der beschränkte und trockene Verfasser des Buches Esther hat nie anders an die Welt gedacht, als um sie zu verachten und ihr übel zu wollen (VI, 13, VII, 10, VIII, 7, 11-17, IX, 1-22 und in den apokryph. Teilen: IX, 10, 11, XIV, 13, XVI, 20, 24). Der enttäuschte Epikuräer, der den Prediger Salamonis schrieb, dachte so wenig an die Zukunft, daß er es sogar für unnütz findet, für seine Kinder zu arbeiten; in den Augen dieses egoistischen Hagestolzes ist aller Weisheit Schluß: sein Vermögen in Leibrente anzulegen (I, 11, II, 16, 18-24, III, 19-22, IV, 8, 15, 16, V, 17, 18, VI, 3, 6, VIII, 15, IX, 9, 10). Allein die großen Dinge in einem Volke geschehen gewöhnlich durch die Minderheit. Trotz seiner enormen Fehler: Härte, Egoismus, Spottsucht, Grausamkeit, Engherzigkeit, Klügelei und Sophismus, war das jüdische Volk doch der Urheber der herrlichsten Bewegung uneigennütziger Begeisterung, von der die Geschichte spricht. Die Opposition bildet stets den Ruhm eines Landes. Im gewissen Sinne sind die Größten der Nation die, welchen sie den Tod giebt. Sokrates hat den Ruhm Athens gebildet, das wähnte, nicht mit ihm existieren zu können. Spinoza war der größte Jude der Neuzeit und die Synagoge hat ihn verächtlich ausgestoßen. Jesus war der Ruhm des Volkes Israel, das ihn gekreuzigt hat.

Ein gigantischer Traum verfolgte jahrhundertelang das jüdische Volk, der es in seiner Abgelebtheit stets verjüngte. Fremd der Lehre von einer persönlichen Belohnung, die Griechenland unter dem Namen Unsterblichkeit der Seele verbreitet hat, konzentrierte Juda seine ganze Liebe und sein ganzes Verlangen auf seine nationale Zukunft. Es glaubte die göttliche Verheißung einer endlosen Zukunft zu haben, und da die bittere Wirklichkeit vom neunten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an immer mehr der Gewalt die Weltherrschaft gab, jene Bestrebungen brutal zurückdrängend, so versuchte er die unmöglichsten Gedankenverbindungen, die seltsamsten Wendungen. Vor der babylonischen Gefangenschaft, als durch die Absonderung der Stämme des Nordens die ganze irdische Zukunft der Nation geschwunden war, träumte sie von der Wiederherstellung des Hauses Davids, von der Versöhnung der beiden Bruchteile des Volkes, von dem Sieg der Theokratie und des Jehovakultus über den Götzendienst. In der Epoche der Gefangenschaft sah ein Dichter, voll der Harmonie, den Glanz eines künftigen Jerusalems, dem die Völker und fernen Inseln tributär sein werden, unter so zarten Farben, daß man annehmen möchte, ein Strahl der Blicke Jesu habe ihn in einer Distanz von sechs Jahrhunderten durchdrungen (Jesaias LX u.s.w.).

Cyrus Sieg schien eine Zeit lang alle Hoffnungen zu verwirklichen. Die ernsten Schüler der Avesta und die Anbeter Jehovahs hielten sich für Brüder. Persien war durch die Verbannung des vielfältigen »Dewas« und durch die Verwandlung dessen in »Diws« (Dämonen) dahingelangt, daß es die alten arischen, hauptsächlich naturalistischen Phantasien, zu einem gewissen Monotheismus umformte. Der prophetische Ton einiger Lehren Irans ähnelt manchen Schriften Hoseas und Jesaias. Israel erholte sich unter den Achemeniden und flößte unter Xerxes (Ahasverus) den Iraniern selbst Furcht ein. Doch der siegreiche, oft brutale Einzug der griechischen und römischen Civilisation in Asien warf Israel wieder in seine Träume zurück. Mehr als je rief es den Messias an, als Rächer und Richter der Völker. Er brauchte eine vollständige Neuerung, eine Revolution, die den Erdball in seiner Grundfeste erschüttere, um den ungeheueren Rachedurst zu löschen, den das Gefühl seiner Überlegenheit und der Anblick seiner Erniedrigung bei ihm erregt hatte.

Hätte Israel der sogenannten spiritualistischen Lehre sich zugeneigt, wonach der Mensch aus zwei Teilen besteht, Körper und Geist, und die es daher für ganz natürlich erachtet, daß die Seele weiterlebt, während der Körper verwest, so hätte dieser Anfall von Wut und kräftiger Verwahrung keine Berechtigung gehabt. Doch diese, von der griechischen Philosophie ausgegangene Lehre war nicht in den Traditionen des jüdischen Geistes vorhanden. Die alten hebräischen Schriften wissen nichts von künftiger Vergeltung oder Strafe zu sagen. So lange der Gedanke der Solidarität des Stammes bestand, war es natürlich, daß man nicht eine strenge Verteilung nach den Verdiensten des einzelnen in Betracht zog. Um so schlimmer für den Frommen, der in einer gottlosen Zeit geboren wurde, ihm wurde wie den andern das öffentliche Unglück, die Folge allgemeiner Gottvergessenheit. Diese von den Weisen der Patriarchenzeit überkommene Auffassung führte immer mehr zu unhaltbaren Widersprüchen. Schon zu Hiobs Zeit war sie im Wanken. Die Greise von Theman, die sich zu ihr bekannten, waren Männer, die hinter ihrer Zeit zurückgeblieben; und der Elihu, der dazwischen kam, wagte gleich beim Beginn den revolutionären Gedanken auszusprechen: »Die Weisheit ist nicht mehr bei den Greisen« (Hiob XXXIII, 9). Mit den Verwickelungen, die seit Alexander die Welt erfahren hatte, wurde der alte themanische und mosaische Grundsatz noch unerträglicher. Israel war nie treuer den Geboten als zur Zeit, bevor es die Verfolgungen des Antiochus erlitten hatte. Nur ein Redner, der alte sinnlose Phrasen zu wiederholen gewohnt war, wagte zu behaupten, all dieses Unheil sei eine Folge der Untreue des Volkes (Esther XIV, 6; Apokryph. Brief Baruchs). Was! Diese Opfer ihres Glaubens, diese heldenhaften Makkabäer, diese Mutter mit ihren sieben Söhnen sollte Gott für ewig vergessen und der Vernichtung im Grabe preisgeben? Einen ungläubigen und weltlichen Sadducäer mochte wohl vor einer solchen Folgerung nicht bangen; ein vollkommener Weiser, wie Antigones von Soco, mochte wohl erklären, man übe nicht die Tugend aus wie ein Sklave, der den Lohn erhofft, man müsse auch ohne Hoffnung tugendhaft sein – jedoch der großen Menge konnte das nicht genügen. Die Anhänger des Prinzips der philosophischen Unsterblichkeit stellten sich den Gerechten vor als in Gottes Gedächtnis fortlebend, glorreich für immer im Angedenken der Menschen, die Gottlosen richtend, die sie verfolgt haben (Pirke Aboth I, 3; Weisheit Kap. II-VI; De rationibus imperio angeb. von Josephus 8, 13, 16, 18). »Sie leben vor Gottes Antlitz«... »Sie sind von Gott gekannt« – das ist ihr Lohn. Andere, besonders die Pharisäer, nahmen das Dogma der Auferstehung an. Die Gerechten werden von neuem leben um des messianischen Reiches teilhaft zu werden. Sie werden aufs neue leben in ihrem Fleische und in einer Welt, wo sie Könige und Richter sein werden: sie werden den Triumph ihrer Gedanken sehen, die Erniedrigung ihrer Feinde.

Bei dem Israel frühester Zeit findet man nur sehr unbedeutende Spuren dieses Grunddogmas. Der Sadducäer der nicht daran glaubte, war eigentlich der alten jüdischen Lehre treu; die Anhänger der Auferstehungslehre, die Pharisäer waren die Neuerer. Aber in der Religion ist es immer die eifrige Partei, die Neuerungen hervorbringt; sie schreitet vor und zieht die Folgerungen. Die Auferstehung, ein Gedanke, grundverschieden von der Unsterblichkeit, ging übrigens ganz natürlich aus den früheren Lehren und der Situation des Volkes hervor. Vielleicht trug auch Persien etwas dazu bei. Immerhin bildete sie, vereint mit dem Glauben an den Messias und der Lehre von der nahen Erneuerung aller Dinge, jene apokalyptische Lehren, die ohne Glaubensartikel zu sein (der orthodoxe Sanhedrin zu Jerusalem scheint sie nicht angenommen zu haben), Eingang bei allen Geistern fanden und in der ganzen jüdischen Welt eine besonders starke Gährung hervorbrachten. Der totale Mangel an dogmatischer Strenge ließ in einer Hauptsache wie diese, gleichzeitig die widersprechendsten Vorstellungen zur Geltung kommen. Bald sollte der Gerechte die Auferstehung erwarten (Joh. XI, 24); bald sollte er gleich nach seinem Tode in Abrahams Schoß aufgenommen werden (Luk. XVI, 22), bald galt die Auferstehung für alle, bald wieder sollte sie nur den Gläubigen zu teil werden (Dan. XII, 2; 2. Mark. VII, 14). Bald setzte sie eine erneute Erde und ein neues Jerusalem voraus, bald dagegen eine vorausgegangene Zerstörung des Weltalls.

Jesus trat, als seine Gedanken rege wurden, in die glühende Atmosphäre, die von den oben erörterten Ideen in Palästina geschaffen wurde. Diese Ideen wurden in keiner Schule gelehrt, doch sie lagen in der Luft und seine Seele wurde frühzeitig davon durchdrungen. Unser Schwanken, unser Zweifel berührte ihn niemals. Auf dem Gipfel des Berges Nazareth, den kein Mensch unserer Tage betreten kann, ohne ein Gefühl der Beunruhigung über sein vielleicht frivoles Geschick, hat Jesus sicherlich zwanzigmal gesessen. Frei von Selbstsucht der Quelle unserer Betrübnis, die uns mit Bitterkeit nach einem Interesse für die Tugend jenseits des Grabes suchen läßt, dachte er nur an sein Werk, an seine Rasse, an die Menschheit. Diese Berge, dieses blaue Meer, dieser azurne Himmel, diese Hochebenen am Horizonte, waren für ihn nicht die melancholische Vision einer Seele, die die Natur über sein eigenes Schicksal befragt, sondern das bestimmte Symbol, der durchsichtige Schatten einer unsichtbaren Welt, eines neuen Himmels.

Den politischen Geschehnissen seiner Zeit legte er nie eine große Bedeutung bei, wahrscheinlich war er auch bezüglich derer ungenügend unterrichtet. Die Dynastie der Heroden lebte in einer Welt, die so verschieden von seiner war, daß er sie zweifellos nur dem Namen nach kannte. Herodes der Große starb ungefähr um das Jahr als er geboren wurde, unvergängliche Erinnerungen hinterlassend, Denkmäler, welche die mißgünstigste Nachwelt zwingen müßten, seinen Namen dem des Salomos beizufügen und nichtsdestoweniger ein unvollendetes Werk hinterlassend, das fortzusetzen unmöglich war. Ein ehrgeiziger Weltling, verirrt in einem Labyrinth religiöser Kämpfe, hatte dieser listige Idumenäer den Vorteil, welchen Kaltblütigkeit und Verstand, entkleidet der Moral, mitten unter leidenschaftlichen Fanatikern gaben. Doch seine Idee eines weltlichen Reiches Israel würde, wie die ähnlichen Projekte Salomos, an den von dem Charakter der Nation selbst ausgehenden Schwierigkeiten gescheitert sein, wären sie auch bei dem vorhandenen Zustand der Welt kein Anachronismus gewesen. Seine drei Söhne waren nur Statthalter der Römer, ähnlich den Rajah Indiens unter englischer Herrschaft. Antipator oder Antipas, der Tetrarch von Galiläa und Peräa, dessen Unterthan Jesus sein lebelang war, war ein träger, unbedeutender Fürst, ein Günstling und Schmeichler des Tiberius, und ließ sich oft von dem schlechten Einfluß seines zweiten Weibes Herodias verleiten. Philippus, der Tetrarch von Golonitis und Batanea, dessen Gebiet Jesus oft bereiste, war ein viel besserer Herrscher. Was Archelaus, den Ethnarchen von Jerusalem betrifft, so konnte ihn Jesus nicht kennen, denn er war erst etwa zehn Jahre alt, als dieser schwache und charakterlose, zuweilen aber gewaltthätige Mensch von Augustus abgesetzt wurde. Derart ging für Jerusalem die letzte Spur von Autonomie verloren. Vereint mit Samaria und Idumäa bildete Judäa eine Art Anhängsel der Provinz Syrien, deren kaiserlicher Legat eine sehr bekannte Konsularperson war, der Senator Publius Sulpicius Quirinius. Dort folgte nun eine Reihe römischer Landpfleger, die in allen bedeutenden Angelegenheiten den kaiserlichen Legaten in Syrien untergeordnet waren: Coponius, Marcus Ambivius, Annius Rufus, Valerius Gratus und endlich – im Jahre 26 unserer Zeitrechnung – Pontius Pilatus, alle stets bemüht den Vulkan, der unter ihren Füßen ausbrach, zum Erlöschen zu bringen.

Fortwährende Aufwiegelungen, hervorgerufen von den Zeloten des Mosaismus, hielten während der ganzen Zeit Jerusalem in Aufregung. Dem Aufrührer war der Tod sicher; doch dieser wurde mit Begier gesucht, wo es sich um eine Integrität der Gebote handelte. Das Abreißen der Adler, die Zerstörung der von Herodes geschaffenen Kunstwerke und derer, wo die mosaischen Vorschriften nicht immer beachtet wurden, Auflehnung wider die von den Prokuratoren errichteten Votivtafeln, deren Aufschriften mit Götzendienst befleckt schienen – das waren die steten Versuchungen für die Fanatiker, die zu einem Grad der Exaltation gelangt waren, in dem man das Leben nicht mehr beachtet. Juda, der Sohn des Sariphäus, Mathias, der Sohn des Margaloths, zwei gefeierte Glaubenslehrer, bildeten so eine Partei des kühnen Angriffs auf die bestehende Ordnung, eine Partei, die selbst durch die Hinrichtung der Führer nicht vernichtet wurde. Von einer gleichen Aufregung wurden auch die Samaritaner erfaßt. Es scheint, daß das Gesetz nie leidenschaftlichere Anhänger hatte, als zur Zeit, wo der schon lebte, welcher es durch die ganze Autorität seines Genies und seiner großen Seele abschaffen sollte. Es begannen nun die »Zeloten« ( Kanaim) oder »Sicarier« zu erscheinen (Mischna Sanh. IX, 6; Joh. XVI, 2; Jos. B. J. Buch IV), fromme Mörder, die sich's zur Pflicht machten, jeden zu töten, der in ihrer Gegenwart gegen das Gesetz sich vergehe. Vertreter eines andern Geistes, Thaumaturgen, die wie göttliche Personen betrachtet wurden, fanden Glauben zufolge des gebieterischen Bedürfnisses, welches das Zeitalter nach Übernatürlichem und Göttlichem hatte.

Eine Bewegung von größerem Einfluß auf Jesus, war die Judas des Galoniters oder Galiläers. Von allen Lasten, die den jüngst eroberten Ländern von Rom aufgebürdet wurde, war der Census der unpopulärste. Die Maßregel, die ein an die Ausgaben einer großen Centralverwaltung wenig gewöhntes Volk stets in Staunen setzt, war den Juden ganz besonders verhaßt. Schon unter David finden wir, wie die Abschätzung heftige Vorwürfe und Anklagen der Propheten verursacht (2. Sam. XXIV). Der Census war thatsächlich die Grundlage der Steuer; die Steuer indes war nach der Anschauung reiner Theokratie beinahe eine Gottlosigkeit. Da Gott der alleinige Herr der Menschen ist, so bedeutet den Zehnten einem weltlichen Herrscher bezahlen, fast so viel wie diesen an Gottes Stelle setzen wollen. Die jüdische Theokratie, der der Staatsgedanke völlig fremd war, zog hiermit nur die letzte Folgerung: die Negierung der bürgerlichen Gesellschaft und der Regierung. Das Geld öffentlicher Kassen galt für gestohlenes Geld. Die von Quirinius im Jahre 6 u.Z. angeordnete Abschätzung erweckte diese Anschauung wieder machtvoll und schuf eine große Gährung. In den Nordprovinzen brach die Bewegung hervor. Ein gewisser Juda aus Gamala, am östlichen Ufer des Sees von Tiberias und ein Pharisäer Namens Sadok schufen, die Rechtmäßigkeit der Steuern leugnend, eine große Schule, die bald zur offenen Revolte griff. Die Hauptsätze dieser Schule waren, man dürfe keinen »Herrn« nennen, weil dieser Titel Gott allein gebühre, und die Freiheit sei mehr wert als das Leben. Juda hatte sicherlich noch andere Hauptregeln, die Josephus, der stets darauf bedacht war, seine Genossen nicht bloßzustellen, absichtlich mit Schweigen überging. Denn es läßt sich nicht gut begreifen, warum ihm einer so einfachen Anschauung wegen der jüdische Historiker eine Stelle unter den Philosophen seines Volkes einräumte, daß er ihn gewissermaßen als Stifter einer vierten Sekte betrachtete, der jene der Pharisäer, Sadducäer und Essäer parallel war. Juda war gewiß das Oberhaupt einer galiläischen Sekte, die von dem messianischen Gedanken erfüllt war und schließlich zu einer politischen Bewegung führte. Der Prokuratar Coponius unterdrückte wohl den Aufstand des Galoniters, doch seine Schule bestand weiter und behielt ihre Führer. Unter Führung Menahems, des Stifters Sohn, und eines gewissen Eleasars, seines Verwandten, findet man sie wieder sehr rührig in den letzten Kämpfen der Juden gegen Rom. Jesus sah vielleicht diesen Juda, der die jüdische Revolution ganz anders als er auffaßte; jedenfalls aber kannte er dessen Schule und es war vielleicht um dessen Irrtum zu begegnen, daß er die Regel von dem »Pfennig des Cäsars« aussprach. Der weise Jesus, fern jedem Aufstandsgedanken, benutzte den Fehler seines Vorgängers und träumte ein anderes Reich und eine andere Erlösung.

So war denn Galiläa ein riesiger Schmelzofen, wo die verschiedensten Elemente in Fluß gerieten. Eine außerordentliche Lebensverachtung, oder besser gesagt, eine Art Verlangen nach dem Tod war die Folge dieser Agitationen. Die Erfahrung gilt nichts bei großen fanatischen Bewegungen. In der ersten Zeit der französischen Occupation sah Algerien jährlich Fanatiker erstehen, die erklärten, unverwundbar zu sein und von Gott gesandt, die Ungläubigen zu vertreiben. Im nachfolgenden Jahre schon war ihr Tod vergessen und ihre Nachfolger fanden nicht geringeren Glauben. Sehr hart von einer Seite, gewährte die damals noch wenig quälende römische Herrschaft anderseits wieder viel Freiheit. Diese großen brutalen, in der Unterdrückung fürchterlichen Mächte, waren nicht argwöhnisch wie es jene sind, die ein Dogma zu hüten haben. Sie ließen alles geschehen bis zur Stunde in der ihnen ein Eingreifen nötig schien. Bei seiner herumschweifenden Art wurde Jesus auch nicht ein einziges mal von der Polizei behindert. Diese Freiheit, und überdies das Glück, das Galiläa hatte, von der pharisäerischen Pedanterie minder bewegt zu werden, gaben diesem Landstrich einen wirklichen Vorzug vor Jerusalem. Die Revolution, oder mit einem andern Worte gesagt, der Messianismus beschäftigte da alle Köpfe. Man wähnte am Vorabend einer großen Neuerung zu stehen. Die Schrift, mit den verschiedensten Deutungen gequält, diente den ausgedehntesten Hoffnungen zur Nahrung. In jeder Zeile des schlichten Alten Testamentes erblickte man eine Versicherung, gewissermaßen ein Programm für das Zukünftige Reich, das dem Gerechten Frieden bringen sollte und das Werk Gottes für ewig bekräftigen.

Jederzeit war diese Teilung in zwei dem Interesse und Geist nach sich entgegenstehenden Parteien für die jüdische Nation in moralischer Beziehung ein Prinzip der Fruchtbarkeit gewesen. Jedes zu hohen Bestimmungen berufene Volk muß eine kleine vollständige Welt bilden, das die entgegengesetzten Pole in sich trägt. Wenige Meilen voneinander entfernt, zeigte Griechenland Sparta und Athen, für den oberflächlichen Beobachter zwei Antipoden, in Wirklichkeit jedoch wetteifernde Schwestern, die sich gegenseitig nötig hatten. Dasselbe war mit Judäa. Im gewissen Sinne minder glänzend als zu Jerusalem, war die Entwickelung des Nordens im ganzen genommen doch viel fruchtbarer Die lebendigsten Werke des jüdischen Volkes kamen daher. Der vollständige Mangel an Naturgefühl, der eine gewisse Trockenheit, Engherzigkeit, Rauheit verursachte, gab hier den jerusalemitischen Werken einen zwar großartigen, aber auch düsteren, starren, abstoßenden Charakter. Mit seinen gravitätischen Gelehrten, seinen geschmacklosen Kanonikern, seinen heuchlerischen und trübsinnigen Frömmlern, hätte Jerusalem nie die Menschheit erobert. Der Norden gab der Welt die naive Sulamith, die demütige Kananäerin, die leidenschaftliche Magdalena, den gutartigen Pflegevater Joseph, die Jungfrau Maria. Der Norden hat das Christentum geschaffen; Jerusalem dagegen ist die wahre Heimat des verknöcherten Judaismus, der von Pharisäern gegründet, vom Talmud befestigt, das Mittelalter überdauernd, bis auf uns gelangt ist.

Eine reizende Natur trug dazu bei, jenen minder strengen Geist zu schaffen, jenen, wenn ich sagen darf, monotheistischen Geist, der allen Träumen Galiläas eine idyllische und reizende Prägung gab. Der traurigste Landstrich der Welt mag vielleicht die Umgebung Jerusalems sein. Galiläa dagegen war ein sehr begrüntes, sehr schattiges und sehr lachendes Gefilde, die rechte Heimat des Hohenliedes und der Lieder des Vielgeliebten. In den Monaten März und April ist dieses Gebiet ein Blumenteppich von unvergleichlicher Farbenfrische. Die Tiere sind hier klein, aber sehr zahm. Zierliche, lebhafte Turteltauben, blaue Amseln, so leicht, daß sie sich auf einen Halm setzen, ohne ihn niederzudrücken, Haubenlerchen, die sich fast vor den Füßen des Wanderers niederlassen, kleine Bachschildkröten mit lebendigen, sanften Augen, Störche mit gravitätischen, ernsten Mienen, lassen den Menschen ganz nahe an sich herankommen, ja sie scheinen ihn sogar zu rufen. In keinem Lande der Welt zeigen sich die Berge in harmonischerer Gestalt, flößen sie höhere Gedanken ein. Jesus scheint sie besonders geliebt zu haben. Die wichtigsten Thaten seiner göttlichen Laufbahn ereigneten sich auf diesen Bergen; hier war er am begeistertsten, hier hatte er geheime Unterredungen mit den alten Propheten, hier zeigte er sich den Blicken seiner Jünger verklärt (Matth. V, 1; XIV, 23; Luk. VI, 12 – Matth. XVII, 1; Mark. IX, 1; Luk. IX, 28).

Dieses schöne Land, das heute zufolge der riesigen Armut, die der Islam in das menschliche Leben brachte, so düster, so beklemmend geworden ist, wo aber alles, was der Mensch nicht zerstören konnte, noch den Überfluß, die Süße, die Zartheit atmet, zeigte zu Jesu Zeit die Fülle von Behagen und Frohsinn. Die Galiläer galten für energisch, wacker, arbeitsam. Tiberias ausgenommen, das von Antipas um das Jahr 15 unserer Zeit zu Ehren des Tiberias nach römischem Stil erbaut wurde, besaß Galiläa keine größeren Ortschaften. Nichtsdestoweniger war das Land stark bevölkert, mit kleinen Städten und großen Dörfern bedeckt und in allen seinen Teilen mit Fleiß kultiviert. Aus den vom alten Glanze noch übrig gebliebenen Ruinen erkennt man ein ackerbauendes Volk, das gar nicht für die Künste begabt war, sich wenig um Luxus kümmerte, das gleichgültig für die Schönheit der Form, das ausschließlich idealistisch war. Der Landstrich hatte Überfluß an frischen Wassern und Früchten; die großen Farmen waren von Reben und Feigenbäumen beschattet, die Gärten voll Citronenbäumen, Granatbäumen, Orangenbäumen. Der Wein war ausgezeichnet, wenn man nach dem urteilen darf, den die Juden in Safed noch heute keltern, und man trank viel. Dieses zufriedene und leicht zu befriedigende Leben führte nicht zu dem groben Materialismus unseres Bauern, zu der derben Heiterkeit einer fruchtbaren Normandie oder zu der schwerfälligen Frohheit des Vlämen. Es vergeistigt sich zu ätherischen Träumereien, zu einer Art poetischen Mysticismus, der Himmel und Erde vereinigt. Laßt den strengen Johannes den Täufer in seiner Wüste von Judäa Buße predigen, unaufhörlich grollen und von Heuschrecken, in Gesellschaft der Schackale leben! Warum sollten die Genossen des Jungvermählten fasten, während er bei ihnen ist? Die Freude soll einen Teil des Reiches Gottes bilden. Ist sie nicht eine Tochter der Herzensdemut, des guten Willens?

So ist denn die ganze Geschichte der Entstehung des Christentums eine köstliche Idylle geworden. Ein Messias beim Hochzeitsgelage, den Courtisane und der gute Zachäus zu seinen Festen gerufen, die Stifter des göttlichen Reiches wie ein Zug Brautführer – das ist es, was Galiläa gewagt hat, was es zur Annahme gebracht hat. Griechenland hat durch die Skulptur und durch die Dichtkunst bewundernswerte Bilder des menschlichen Lebens geschaffen; doch diese sind stets ohne Perspektiv, ohne weiten Gesichtskreis. Hier fehlen Marmor, die tüchtigen Arbeiter, der gewählte, feine Ausdruck. Aber Galiläa hat für die Phantasie des Volkes das erhabenste Ideal geschaffen; denn hinter seiner Idylle bewegt sich das Schicksal der Menschheit und das Licht, das sein Bild erhellt, ist die Sonne des Reiches Gottes.

Jesus lebte und wuchs in dieser entzückenden Umgebung. Seit seiner Kindheit pilgerte er fast jährlich zur Zeit der Feste nach Jerusalem (Luk. II, 41). Diese Pilgerfahrt war für die Juden der Provinzen eine sehr angenehme Festlichkeit. Reihen von Psalmen dienten dem Zwecke das Glück zu preisen, derart im Frühling mit der Familie tagelang über Hügel und Thäler zu ziehen, mit der Aussicht auf den Glanz Jerusalems, dem Schauer der geheiligten Tempelhallen, die Freude brüderlich vereint zu sein (Psalm LXXXIV, CXXII, CXXXIII; Vulg. LXXXIII, CXXI, CXXXII). Der Weg über Ginäa und Sichem, den Jesus nahm (Luk. IX, 51 ec.), ist derselbe, der heute noch benutzt wird. Von Sichem bis Jerusalem ist er sehr beschwerlich. Allein die Nachbarschaft der altgeheiligten Stätten von Silo und Bethel, an denen man vorüberzieht, hält die Seele wach. Aïn el Haramieh, die letzte Etappe, ist ein melancholischer, reizender Ort. Wenige Eindrücke nur sind mit dem zu vergleichen, den man erhält, wenn man hier sein Nachtlager aufschlägt. Das Thal ist eng und düster. Ein schwarzes Wasser springt aus den von Gräbern durchbrochenen Fels, der seine Wände bildet. Das ist, wie ich glaube, das »Thal der Thränen«, oder des sickernden Wassers, das in dem köstlichen 84. Psalm als eine der Stationen besungen wurde, aber für den sanften, traurigen Mysticismus des Mittelalters zum Sinnbild des Lebens geworden ist. Am nächsten Morgen gelangt man nach Jerusalem. Diese Erwartung hält noch heutzutage die Karawane aufrecht, kürzt den Abend und macht den Schlummer leicht.

Diese Reisen, auf denen das Volk einen Gedankenaustausch vornimmt, und die immer die Geburtsstätten reger Bewegungen waren, setzten Jesus mit der Seele seines Volkes in Verbindung und flößten ihm sicherlich damals schon einen lebhaften Widerwillen ein gegen die Fehler der offiziellen Vertreter des Judaismus. Man sagte, die Wüste sei frühzeitig für ihn eine zweite Schule gewesen und er habe sich da lange aufgehalten (Luk. IV, 42, V, 16). Aber der Gott, den er dort fand, war nicht seiner. Das war höchstens der Gott Hiobs, streng und schrecklich, der keinem Gehör giebt. Zuweilen versuchte ihn der Satan. Dann kehrte er nach seinem teueren Galiläa zurück und fand seinen himmlischen Vater wieder, mitten der grünen Hügel und klaren Quellen, mitten der Kinderscharen und der Frauen, die mit freudiger Seele und der Engel Lobgesang im Herzen, das Heil Israels erwarteten.


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