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Dreizehntes Kapitel.

Die ersten Versuche in Jerusalem.

Fast jedes Jahr zog Jesus zum Osterfest nach Jerusalem Das Nähere über diese Reisen ist nicht bekannt, denn die Synoptiker sprechen nicht davon In unbestimmter Art werden diese nur angenommen (Matth. XXIII, 37; Luk. XIII, 34). Ebenso wie Johannes, kennen sie Jesu Verhältnis zu Joseph von Arimathia. Lukas (X, 38-42) kennt sogar die Familie in Bethanien; er hat eine unbestimmte Vorstellung (IX, 51-54) von den Reisen, die im vierten Evangelium erwähnt sind. Mehrere Reden gegen die Pharisäer und Sadducäer, die nach den Synoptikern in Galiläa gesprochen wurden, haben nur für Jerusalem einen Sinn. Endlich ist die Frist von acht Tagen viel zu kurz, um alles zu erklären, was zwischen Jesu Ankunft in Jerusalem und seinem Tode geschehen mußte. und die Mitteilungen des vierten Evangeliums sind bezüglich dessen sehr unklar. Zwei Pilgerreisen sind deutlich angegebenen, 13, V, 1) ohne von der letzten Reise zu sprechen (VII, 10), von der Jesu nicht mehr nach Galiläa zurückkehrte. Die erste fand statt, während Johannes noch taufte; dies wäre daher Ostern 29. Indes fallen die bei dieser Reise angegebenen Umstände in eine spätere Zeit. Vergl. besonders Joh. II, 14 und Matth. XXI, 12, 13; Mark. X, 15-17; Luk. XIX, 45, 46.) Sicherlich hat in diesen Kapiteln des Johannes eine Verwechselung der Zeit stattgefunden, oder er hat vielmehr die Einzelheiten verschiedener Reisen miteinander vermischt. Es scheint jedoch, daß der wichtigste Aufenthalt Jesu in der Hauptstadt im Jahre 31 stattgefunden hat, sicherlich aber erst nach dem Tod Johannes. Mehrere Jünger folgten ihm. Obgleich Jesus damals auf diese Pilgerreise wenig Wert legte, ließ er sich doch dazu herbei, um nicht die jüdischen Bräuche zu verletzen, mit denen er damals noch nicht gebrochen hatte. Diese Reisen waren übrigens wesentlich wichtig für seine Zwecke, denn er fühlte schon, daß er, um eine Rolle ersten Ranges zu spielen, aus Galiläa hinausgehen müßte, um das Judentum in seiner festen Stellung anzugreifen, in Jerusalem.

Die kleine galiläische Gemeinde fühlte sich hier recht fremd. Jerusalem war damals so ziemlich das, was es heute ist: eine Stadt der Pedanterie, der Verbissenheit, des Zankens, des Hasses, der Kleingeisterei. Der Fanatismus war hier sehr groß und die religiösen Aufstände sehr häufig. Die Pharisäer herrschten; das Studium der Gesetze, bis auf die unbedeutendste Kleinigkeit sich erstreckend und dabei doch von kasuistischen Fragen beschränkt, bildete das einzige Studium. Diese ausschließlich theologische und kanonische Bildung trug nichts zur Verfeinerung des Geistes bei. Es war etwas Ähnliches wie die sterile Lehre des mohammedanischen Fakirs, diese edle Wissenschaft, die sich um eine Moschee dreht, eine große Verschwendung an Zeit und Dialektik ist, ohne daß die Geistesbildung auch nur den geringsten Nutzen daraus zöge. Die theologische Ausbildung unserer heutigen Geistlichkeit, obgleich sehr trocken, vermag doch keine Vorstellung von jener zu geben; denn die Renaissance hat in allen unseren Lehrgegenständen, selbst in den rebellischsten, etwas von Belletristik eingeführt und gute Methoden, die der Scholastik mehr oder minder die Färbung von Humanitätsstudien gaben. Die Wissenschaft des jüdischen Gelehrten war rein barbarisch, absurd, frei von jedem sittlichen Element. Zum größten Unglück erfüllte sie noch den, der sich bemüht hatte sie zu erlangen, mit einem lächerlichen Stolz. Hochmütig ob seines Wissens, dessen Erlangung ihm so viel Mühe gekostet hatte, hegte der jüdische Schriftgelehrte gegen die griechische Kultur dieselbe Verachtung, die der gelehrte Muselmann in unserer Zeit gegen die europäische Kultur hegt, und wie sie früher bei katholischen Theologen gegen das weltliche Wissen vorhanden war. Das Eigentümliche des scholastischen Wissens besteht darin, daß es den Geist gegen alles Zarte verschließt, nur vor den schwierigen Kindereien Achtung hat, in denen das Leben verbraucht wird, und die als natürliche Beschäftigung von Personen betrachtet werden, welche aus der Würdigkeit ein Gewerbe machen. (Dies läßt sich nach dem Talmud, dem Echo jüdischer Scholastik jener Tage, beurteilen.)

Diese gehässige Welt mußte die zarten und weichen Gemüter des Norden schwer bedrücken. Die Verachtung der Jerusalemiten gegen die Galiläer erweiterte noch diese Kluft. In dem schönen Tempel, dem Gegenstand ihres Sehnens, fanden sie oft nur Schwierigkeiten. Der Vers des Pilgerpsalms (Psalm 84): »Ich will lieber die Thüre hüten in meines Gottes Haus,« schien eigens für sie gemacht zu sein. Eine unwürdige Priesterschaft lächelte über ihre naive Frömmigkeit, so wie später in Italien die Geistlichkeit, die mit den Heiligtümern vertraut war, kalt, fast höhnisch auf die Inbrunst der aus Fernen herbeigezogenen Pilger blickten. Die Galiläer sprachen einen recht verdorbenen Dialekt; ihre Aussprache war fehlerhaft; sie verwechselten die verschiedenen Hauchlaute, was oft zu vielbelachten Mißverständnissen Anlaß gab. (Matth. XXVI, 73; Mark. XIV, 70; Apostelg. II, 7; Talmud v. Baby. Erubin 53 a, Bereschith rab. 26 c.) In religiöser Beziehung galten sie für unwissend und nicht sehr glaubensstreng; der Ausdruck »galiläischer Dummkopf« war sprichwörtlich. Man glaubte – nicht ohne Grund – das jüdische Blut sei bei ihnen sehr gemischt und es galt als entschieden, daß Galiläa keinen Propheten hervorbringen könnte. (Joh. VII, 52.) So an die Grenze, ja fast außerhalb des Judentums gestellt, konnten die armen Galiläer ihre Hoffnungen nur aus einer ziemlich schlecht gedeuteten Stelle des Jesais (IX, 1, 2. – Matth. IV, 13) nähren: »Land Sebulon und Land Naphtali, Weg des Meeres, Galiläa der Heiden! Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über die, welche im finstern Lande wohnen, scheint es helle.« Der Ruf des Geburtsortes Jesu war besonders schlecht. »Was kann von Nazareth Gutes kommen?« (Joh. I, 46) galt als allgemeine Redensart.

Die Kargheit der Natur in Jerusalems Umgebung mußte Jesu Unbehagen noch vermehren. Die Thäler sind hier ohne Wasser, der Boden trocken und steinig. Wenn der Blick auf die Niederung des Toten Meeres fällt, so hat die Aussicht noch etwas Besonderes; sonst ist sie monoton. Nur der Hügel Mizpa mit seiner Erinnerung an die älteste Geschichte Israels fesselt den Blick. Die Stadt hatte zu Jesu Zeit dasselbe Aussehen wie gegenwärtig. Sie hatte keine alten Denkmäler, denn bis zur Zeit des Hasmonäer hielten sich die Juden von allen Künsten fern. Johannes Hyrkan begann sie zu verschönern und Herodes der Große machte aus ihr eine der schönsten Städte des Orients. Die herodianischen Bauten machen durch ihren großartigen Charakter, ihre vollkommene Ausführung, und durch die Schönheit des Materials, den besten Bauten des Altertums den Rang streitig. (Jos. Ant. XV, XVIII-XX, B. J. V, V, 6; Mark. XIII, 1, 2.) Eine Anzahl prachtvoller Grabmäler von eigenartigem Geschmack, erhoben sich damals im Umkreis von Jerusalem. Ihr Stil war griechisch, doch den jüdischen Bräuchen angepaßt und nach deren Grundsätzen wesentlich abgeändert. Die Ornamente von lebender Skulptur, die sich Herodes zur größten Unzufriedenheit der Strenggläubigen erlaubt hatte, waren verbannt und durch Pflanzenornamente ersetzt worden. Der Geschmack der alten Bewohner Phöniziens und Palästinas für die aus dem lebendigen Fels geschnittenen Monolithdenkmäler, schien in diesen sonderbaren Felsgräbern wieder aufzuleben, wobei die griechische Säulenordnung so wunderlich auf eine Troglodytenarchitektur Anwendung fand. Jesu, der die Werke der Kunst für eitlen Tand hielt, sah alle diese Bauwerke mißgünstig an. Sein absoluter Spiritualismus und sein fester Glaube, daß das Aussehen der alten Welt verschwinden werde, ließen ihn nur an Dingen des Herzens Geschmack finden.

Zur Zeit Jesu war der Tempel ganz neu und die äußeren Arbeiten waren noch nicht ganz vollendet. Herodes begann mit der Wiederherstellung im Jahre 20 oder 21 vor unserer Zeitrechnung, um ihn mit seinen anderen Bauten in Übereinstimmung zu bringen. Das Tempelschiff wurde in achtzehn Monaten errichtet. Die Säulengänge in acht Jahren; doch die Nebenteile wurden nur langsam angefertigt und erst kurz vor der Einnahme von Jerusalem beendet. (Jos. Ant. XV, XI.-XX, IX; Joh. II, 20.) Jesus sah wahrscheinlich noch daran arbeiten, und nicht ohne stillen Unmut. Diese Hoffnungen auf eine lange Zukunft waren gleichsam eine Insulte auf sein künftiges Reich. Heller blickend als die Ungläubigen und Fanatiker, ahnte er, daß diese Prachtbauten nur für eine kurze Dauer bestimmt wären. (Matth. XXIV, 2, XXVI, 61; XXVII, 40; Mark. XIII, 2, XIV, 58, XV, 29; Luk. XXI, 6; Joh. II, 19, 20.)

Übrigens bildete der Tempel ein wundervolles imposantes Ganze, wovon jetzt das Haram, ungeachtet seiner Schönheit kaum einen Begriff zuläßt. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß der Tempel und seine Ringmauern dort sich befanden, wo jetzt die Moschee Omar und das Haram – der heilige Hof, der die Moschee umschließt – stehen. Die Höfe und Säulenhallen dienten täglich einer beträchtlichen Menge als Ort der Zusammenkunft, so daß dieser große Raum gleichzeitig Tempel, Forum, Tribunal und Lehrhaus war. Alle religiösen Diskussionen der jüdischen Schulen, der ganze kanonische Unterricht, selbst die Prozesse und bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten – kurz gesagt, die Thätigkeit der Nation fand hier ihren Brennpunkt. (Luk. II, 46; Mischna Sanhed. X, 2.) Es war da ein beständiges Geschwirr von Argumenten, ein Kampfplatz für Disputationen, der von Sophismen und spitzfindigen Fragen erfüllt war. Der Tempel hatte somit große Ähnlichkeit mit der Moschee. Rücksichtsvoll gegen fremde Religionen, wenn diese auf ihrem eigenen Gebiet blieben, versagten sich die Römer dieses Heiligtum zu betreten. (Sueton Aug. 93.) Griechische und lateinische Inschriften bezeichneten die Stelle, bis wohin dem Nichtjuden vorzuschreiten erlaubt war. Allein der Turm Antonia, das Hauptquartier der römischen Macht, beherrschte die ganze Ringmauer und ließ alles, was innerhalb derselben geschah, sehen. Die Tempelpolizei wurde von den Juden ausgeübt. Ein Hauptmann hatte die Oberaufsicht; er ließ die Thore öffnen und schließen, verhindern, daß man den innern Raum mit einem Stock in der Hand betrete, mit staubigen Schuhen, mit Gepäck, oder um den Weg zu kürzen. Besonders wurde darauf gesehen, daß keiner im Zustand gesetzlicher Unreinheit die innere Säulenhalle betrete. Für die Frauen war ein ganz abgesonderter Raum vorhanden.

Hier verbrachte Jesus während der Zeit seines Aufenthalts in Jerusalem seine Tage. Die Feste brachten einen bedeutenden Menschenzufluß nach dieser Stadt. Zu zehn bis zwanzig in einem Gemache vereint, lebten die Pilger in jenem bunten Durcheinander, das im Orient so sehr gefällt. Jesus verlor sich in der Menge und seine armen um ihn gescharten Galiläer machten wenig Aufsehen. Er fühlte vermutlich, daß er sich hier in einer freundlichen Welt befinde, die ihn nur mit Verachtung empfangen mag. Alles was er sah, machte ihn mißgestimmt. Der Tempel gab, wie gewöhnlich alle sehr besuchten Andachtsstätten, einen wenig erbaulichen Anblick.

Der Kultus brachte eine Menge ziemlich abstoßender Einzelheiten mit sich, besonders Handelsgeschäfte, dem zufolge innerhalb der geheiligten Ringmauer wahre Meßbuden vorhanden waren. Es wurden da Opfertiere verkauft, man fand da Wechslertische. Manchmal konnte man meinen, man befände sich in einem Bazar. Die Unterbeamten des Tempels verrichteten ihr Amt zweifellos mit der unreligiösen Gewöhnlichkeit der Kirchendiener aller Zeiten. Dieses profane und zerstreute Aussehen bei der Verrichtung des heiligen Dienstes verletzte sehr das religiöse Gefühl Jesu. (Mark. XI, 16.) Er sagte, man habe aus dem Gebetshaus eine Diebeshöhle gemacht. Eines Tages – wird erzählt – ließ er sich sogar vom Zorn fortreißen, er schlug auf die Schacher los und warf ihre Tische um. (Matth. XXI, 12; Mark. XI, 15; Luk. XIX, 45; Joh. II, 14.) Im allgemeinen liebte er den Tempel wenig. Der Kultus, den er sich für seinen Vater erdacht, hatte nichts mit diesen Schlächtereien zu thun. Alle diese alten jüdischen Einrichtungen mißfielen ihm und er mußte genötigt werden sich ihnen zu fügen. Auch flößte der Tempel und seine Stelle innerhalb des Christentums nur den Judenchristen fromme Gefühle ein. Die wahren Neuerer hatten eine Abneigung gegen diesen altgeheiligten Ort. Konstantin und die ersten christlichen Kaiser ließen die heidnischen Bauten Hadrians dessen Stelle einnehmen. ( Itin. a Burdig. Hiers.; Hieronymus, In Isaiam II, 8 In Matthäum XXIV, 15.) Die Feinde des Christentums, wie Julian, waren es, die diesen Ort in Betracht zogen. ( Amonian Marcellin XXIII, 1.) Als Omar in Jerusalem einzog, wurde die Stelle des Tempels aus Haß gegen die Juden absichtlich verunreinigt. (Entychius, Ann. II.) Erst der Islam – das heißt, eine Art wiedererstandenes Judentum in seiner semitischen Form – gab ihr die Würdigung wieder. Dieser Ort war immer antichristlich.

Der Stolz der Juden machte Jesus ganz unzufrieden und verleidete ihm den Aufenthalt in Jerusalem. In dem Maße, wie die großen Gedanken Israels reiften, sank das Priestertum. Die Institution der Synagoge hatte dem Gesetzesdeuter, dem Gelehrten, einen großen Vorrang vor dem Priester gegeben. Es gab nur in Jerusalem Priester und selbst hier wurden sie, beschränkt auf die rituellen Ausübungen – ungefähr so wie unsere katholischen Pfarrpriester von der Predigt ausgeschlossen sind – von dem Redner der Synagoge, dem Kasuisten, dem Schriftgelehrten – wie sehr der letztere auch Laie sein mochte – überholt. Die berühmten Männer des Talmuds waren keine Priester, sondern Gelehrte nach der Anschauung jener Zeit. Die vornehmere Geistlichkeit Jerusalems nahm wohl einen hohen Rang im Volke ein, allein sie stand keineswegs an der Spitze der religiösen Bewegung. Der Hohepriester, dessen Würde schon von Herodes gemindert wurde (Jos. Ant. XV, III, 1, 3 und XVIII, II) war immer mehr zum römischen Beamten geworden, der oft abgesetzt wurde, um dieses Amt für mehrere einträglich zu machen. Als Gegner der Pharisäer, der überexaltierten Laien-Eiferer, waren fast alle Priester Sadducäer, das heißt, Mitglieder jener ungläubigen Aristokratie, die sich um den Tempel gebildet hatte, die wohl vom Altar lebte, aber ihn mißachtete. (Apostelgeschichte V, 1, 17; Jos. Ant. XX, IX, 1; Pirke Aboth I, 10.) Die Priesterkaste hatte sich vom Nationalgefühl und der hohen religiösen Richtung des Volkes dermaßen getrennt, daß der Name Sadducäer ( sadoki) – der ursprünglich nur ein Mitglied der Priesterfamilie Sadek bezeichnete – als gleichbedeutend galt mit »Materialist« und »Epikuräer«.

Seit Herodes des Großen Regierung kam noch ein schlimmeres Element zur Korruption der hohen Geistlichkeit dazu. Herodes verliebte sich in Marianne, die Tochter eines gewissen Simon, Sohn des Boethus von Alexandrien; und da er sie heiraten wollte – etwa 28 vor u. Z. – so fand er kein anderes Mittel, um seinen Schwiegervater zu adeln und zu seinem eignen Rang zu erheben, als ihn zum Hohepriester zu machen. Diese intrigante Familie behielt fast ohne Unterbrechung fünfunddreißig Jahre die Hohepriesterwürde. Eng verwandt mit der herrschenden Familie, verlor sie dieses Amt erst nach der Absetzung des Archiläus, doch erhielt sie es im Jahre 28 vor Chr. wieder, nachdem Herodes Agrippa für einige Zeit das Werk des großen Herodes wieder hergestellt hatte. Unter dem Namen Boëthusim Dieser Name kommt nur in der jüdischen Schrift vor. Ich glaube, die Herodianer des Evangeliums wären die Boëthusim gewesen. bildete sich dermaßen ein neuer Priesteradel, der sehr weltlich gesinnt war, wenig fromm und so ziemlich mit den Sadokiten verschmolz. Im Talmud und in den rabbinischen Schriften werden die Boëthusim gewissermaßen als Ungläubige und stets in Verbindung mit den Sadducäern hingestellt. Aus alledem bildete sich um den Tempel eine Art »römischer Hof«, der von Politik lebte, religiösen Excessen wenig geneigt war, sie sogar fürchtete, und von heiligen Personen oder Neuerern nichts wissen wollte, weil er aus den bestehenden Verhältnissen seinen Nutzen zog. Diese epikuräischen Priester waren nicht gewaltthätig wie die Pharisäer; sie wollten nur Ruhe haben. Ihre moralische Gleichgültigkeit, ihre kalte Unreligiösität empörten Jesum. Obwohl sehr verschieden, waren Priester und Pharisäer doch einig in ihrer Abneigung gegen Jesum. Aber, fremd und ohne Ansehen wie er war, mußte Jesus lange Zeit seine Unzufriedenheit in sich verschließen und durfte seine Empfindungen nur der vertrauten Schar, die ihn begleitete, mitteilen.

Vor seinem letzten Aufenthalt, den längsten von allen, die er in Jerusalem nahm, und der mit seinem Tode enden sollte, versuchte Jesus doch sich Gehör zu verschaffen. Er predigte; man sprach von ihm; man unterhielt sich über gewisse Geschehnisse, die als Wunder betrachtet wurden. Doch dies alles führte nicht zu einer Kirche in Jerusalem, noch brachte es zu einer Schar dortiger Jünger. Der gütige Lehrer, der allen verzieh, wenn man ihn nur liebte, konnte in diesem Sanktarium eitler Zänkereien und veralteter Opferungen kein Echo finden. Er gewann damit nur einige gute Verbindungen, die ihm später nützten. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er damals schon die Bekanntschaft der Familie in Bethanien gemacht hatte, die ihm in den Prüfungen der letzten Monate so viel Trost brachte. Doch frühzeitig zog er die Aufmerksamkeit eines gewissen Nikodemus auf sich, eines reichen Pharisäers, Mitglied des Sanhedrins und sehr angesehen in Jerusalem. Dieser Mann, der redlich und aufrichtig gewesen zu sein scheint, fühlte sich zu dem jungen Galiläer hingezogen. Doch weil er sich nicht bloßstellen wollte, besuchte er ihn nachts und pflog mit ihm ein langes Gespräch. (Joh. III, 1; VII, 50. – Es läßt sich wohl mit Gewißheit annehmen, daß selbst der Wortlaut des Gespräches eine Schöpfung des Johannes sei.) Zweifellos behielt er von Jesus einen günstigen Eindruck, denn er verteidigte ihn später gegen die Vorurteile seiner Genossen (Joh. VII, 50) und bei Jesu Tod finden wir ihn wieder in liebevoller Sorge um den Leichnam des Herrn. Joh. XIX, 39.) Nikodemus wurde nicht Christ; er glaubte zufolge seiner Stellung sich nicht in eine revolutionäre Bewegung einlassen zu dürfen, die noch keine angesehene Anhänger hat. Aber er hegte sicherlich eine große Freundschaft zu Jesu und erwies ihm Dienste, ohne jedoch seinen Tod verhindern zu können, dessen Urteil zur Zeit, bei der wir nun angelangt sind, bereits geschrieben war.

Was die berühmten Gelehrten dieser Zeit betrifft, so scheint Jesus in keinen Beziehungen zu ihnen gestanden zu sein. Hillel und Schamai waren tot; die größte Autorität war nun Gamaliel, der Enkel Hillels. Dieser war ein Freigeist und Weltmann, den weltlichen Wissenschaften zugängig und durch seinen Verkehr mit der höheren Gesellschaft zur Toleranz geneigt. (Mischna Baba metsia V, 8; Talmud von Baby. Sota 49 b.) Im Gegensatz zu den überstrengen Pharisäern, die verschleiert oder mit geschlossenen Augen einher gingen, sah er die Frauen an, selbst die heidnischen. (Talm. v. Jerus. Berak. IX, 2.) Die Tradition verzieh ihm das, ebenso, daß er griechisch gelernt hatte, weil er dem Hof nahe stand. Nach Jesu Tod äußerte er über die neue Sekte sehr gemäßigte Ansichten. (Apostelg. V, 34.) Aus seiner Schule ging auch Paulus hervor (Apostelg. XXII, 3), doch ist es wahrscheinlich, daß Jesus sie nie betreten hat.

Ein Gedanke wenigstens, den Jesus aus Jerusalem mitnahm und der seither bei ihm eingewurzelt zu sein scheint, ist der, daß es unmöglich sei ein Bündnis mit dem altjüdischen Kultus zu schließen. Die Abschaffung der Opfer, die bei ihm einen so großen Widerwillen erregt hatten, die Unterdrückung der gottlosen und hochmütigen Priesterschaft, und im allgemeinen die Abschaffung des Gesetzes schien ihm eine unerläßliche Notwendigkeit zu sein. Von dieser Zeit an zeigt er sich nicht mehr als Reformator des Judentums, sondern als dessen Zerstörer. Einige Anhänger des Messianismus hatten bereits zugegeben, der Messias werde ein neues Gesetz bringen, das auf Erden allgültig sein soll. ( Orac. sib. III, 573, 715, 756-758. Vgl. den Targum Jonathans I, XII, 3.) Die Essäer, die kaum noch Juden waren, scheinen gleichfalls gegen den Tempel und die mosaischen Bräuche gleichgültig gewesen zu sein. Aber das waren nur vereinzelte oder nicht offen eingestandene Kühnheiten. Jesus wagte es zuerst zu sagen, daß von ihm an, oder vielmehr seit Johannes, das Gesetz nicht mehr bestehe. (Luk. XVI, 16; Matth. XI, 12, 13 ist minder klar, kann jedoch keinen anderen Sinn haben.) Wenn er zuweilen bescheidenere Ausdrücke gebrauchte, Matth. V, 17, 18. (Vergl. Talmud v. Baby. Schabbath 116 b.) Diese Stelle ist nicht ein Widerspruch mit denen, wo die Abschaffung des Gesetzes vorausgesetzt wird. Sie besagt nur, daß in Jesu alle Gestalten des Alten Testamentes erfüllt sind. – Vergl. Luk. XVI, 17.) erfolgte es, um gegen überlieferte Vorurteile nicht zu heftig zu verstoßen. Aufs äußerste getrieben, lüftete er den Schleier und erklärte, daß das Gesetz keine Kraft mehr habe. Er gebrauchte dabei kräftige Vergleiche: Man flickt nicht Altes mit Neuem. Man faßt nicht Most in alte Schläuche«. (Matth. IX, 16, 17; Luk. V, 36.) Das ist in der Praxis seine That als Lehrer und Schöpfer. Der Tempel schloß die Nichtjuden durch mißächtliche Ankündigungen aus, Jesus will davon nichts wissen. Das engherzige, harte, unbarmherzige Gesetz ist nur für die Kinder Abrahams gemacht worden. Jesus behauptete, jeder Mensch mit guten Absichten, jeder der ihn aufnimmt und liebt, sei ein Sohn Abrahams. (Luk. XIX, 9.) Der Stolz des Blutes scheint ihm der Hauptfeind zu sein, den er bekämpfen muß. Jesus ist, mit anderen Worten, kein Jude mehr. Er ist Revolutionär im höchsten Grade; er fordert alle Menschen zu einem Kultus auf, der nur auf ihre Eigenschaft als Kinder Gottes begründet ist. Er Proklamiert die Rechte der Menschen und nicht die Rechte der Juden, die Religion der Menschen und nicht die Religion der Juden, die Befreiung der Menschen und nicht die Befreiung der Juden. (Matth. XXIV, 14; XXVIII, 19; Mark. XIII, 10; XVI, 15; Luk. XXIV, 47.) O wie fern sind wir von einem Judas den Goloniten, von einem Mathias Margaloth, die die Revolution im Namen des Gesetzes predigten! Die Religion der Menschheit ist geschaffen, nicht auf Grundlage des Blutes, sondern auf der des Herzens. Moses ist überwunden; der Tempel hat kein Recht mehr zu sein und ist unwiderruflich verdammt.


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