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Siebzehntes Kapitel.

Die definitive Form der Gedanken Jesu über das Gottesreich.

Wir nehmen an, daß diese letzte Phase der Thätigkeit Jesu etwa achtzehn Monate gewährt hat: seit seiner Heimkunft von der Pilgerfahrt zum Osterfest im Jahre 31 bis zu seiner Reise zum Laubhüttenfest im Jahre 32. Joh. V, 1; VII, 2. Ich folge dem System des Johannes, wonach das öffentliche Leben Jesu drei Jahre gedauert hat. Die Synoptiker dagegen gruppieren alle Ereignisse in den Rahmen eines Jahres. Während dieser Zeit scheint sich Jesu Gedanke um kein neues Element vermehrt zu haben. Dagegen entwickelte und äußerte sich in einer an Kraft und Kühnheit stets zunehmenden Weise alles, was in ihm lag.

Der Grundgedanke Jesu war vom Beginn her die Errichtung des Gottesreiches.

Doch dieses Gottesreich scheint – wie schon früher erwähnt wurde – von Jesu in verschiedenem Sinne verstanden worden zu sein. Einmal möchte man ihn für einen demokratischen Führer halten, der einfach nur die Herrschaft der Armen und Enterbten will. Ein anderes Mal wieder ist das Gottesreich die buchstäbliche Erfüllung der apokalyptischen Visionen Daniels und Henoch. Oft schließlich stellt sich das Gottesreich als das Reich der Seelen dar und die nahe Befreiung ist die Befreiung durch den Geist. Die von Jesu erstrebte Revolution ist dann jene, die thatsächlich später stattgefunden hat: die Einführung eines neuen Kultus, reiner als der des Moses.

Alle diese Gedanken scheinen im Bewußtsein Jesu gleichzeitig existiert zu haben. Der erste jedoch, der einer zeitlichen Revolution, scheint ihn nicht lange beschäftigt zu haben. Jesus betrachtete das Irdische – sowohl die Begüterten der Erde, wie auch die materielle Macht – stets als etwas, womit sich lange zu beschäftigen nicht der Mühe wert sei. Er hatte keinen äußerlichen Ehrgeiz. Manchmal war zufolge einer natürlichen Konsequenz seine ganze religiöse Wichtigkeit auf dem Punkte sich in eine sociale zu verwandeln. Es kamen Leute zu ihm, die ihn baten, er möge Richter und Schiedsmann in materiellen Dingen sein. Jesus wies diese Anträge stolz, fast als Beleidigung, zurück. (Luk. XII, 13, 14.) Von seinem himmlischen Ideal erfüllt, gab er nie seine verachtete Armut auf.

Was die beiden andern Anschauungen über das Gottesreich betrifft, so scheint sie Jesus stets gleichzeitig gehegt zu haben. Wäre er nur ein Enthusiast gewesen, mißleitet von den Apokalypsen, mit denen die Phantasie des Volkes sich nährte, so wäre er auch ein unbekannter Sektierer geblieben, der tiefer als jene gestanden, deren Anschauungen er verfolgt hatte. Wäre er nur ein Puritaner gewesen, eine Art Chamming oder »Savoyischer Vikar«, so hätte er sicherlich keinen Erfolg gehabt. Die beiden Teile seines Systems, oder genauer gesagt, seine beiden Auffassungen des Gottesreiches haben sich gegenseitig gestützt und das war es, was seinen unvergleichlichen Erfolg geschaffen hat. Die ersten Christen waren Hellseher, die in einem Gedankenkreis lebten, der uns eine Träumerei scheint. Aber gleichzeitig waren sie auch die Helden des sozialen Kampfes, der die Befreiung des Geistes und die Herstellung einer Religion geschaffen hatte, aus der schließlich der reine, vom Stifter verkündete Kultus hervorgehen sollte.

Die apokalyptischen Gedanken Jesu in ihrer vollständigen Form wären also kurz gefaßt:

Der damalige Zustand der Menschheit nahte seinem Wendepunkte. Dieser sollte eine gewaltige Revolution sein, eine »Angst«, gleich den Geburtswehen, eine Palingenesis oder Wiedergeburt – nach Jesu eigenem Ausdrucke (Matth. XIX, 28) – der ein düsteres Unheil vorauszieht und die durch seltsame Naturerscheinungen verkündet werden soll. Matth. XXIV, 3; Mark. XIII, 4; Luk. XVII, 22, XXI, 7. Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Schilderung des Endes aller Zeiten, wie sie die Synoptiker hier Jesu in den Mund legen, vieles enthält, was auf die Belagerung von Jerusalem Bezug hat. Lukas schrieb einige Zeit nach dieser Belagerung. (XXI, 9, 20, 24.) Das Evangelium Matthäi jedoch versetzt uns genau in die Zeit der Belagerung, oder doch kurz darauf (XXVI, 15, 16, 22, 29). Es kann nicht bezweifelt werden, daß Jesus große Schrecken verkündete, die seiner Wiedererscheinung vorhergehen sollten. Dergleichen bildete einen wesentlichen Bestandteil aller jüdischen Apokalypsen. Henoch 99 bis 103. Carm. sib. III, 334, 633, 168, 511. Auch bei Daniel soll die Herrschaft der Heiligen erst beginnen, wenn der Kummer seinen höchsten Grad erreicht haben wird; VII, 25; VIII, 23; IX, 26, 27; XII. 1. Das Zeichen des Menschensohnes wird am hellen Tage am Himmel strahlen, eine brausende, glänzende Erscheinung, ähnlich der auf dem Sinai; ein gewaltiges Wettern, das die Wolken zerreißt, ein Feuerstrahl, der in einem Augenblicke von Ost nach West schießt. In Wolken werde der Messias erscheinen, unter Trompetengeschmetter, umgeben von Engeln und in Glorie und Majestät gekleidet. Neben ihm werden auf Thronstühlen seine Jünger sitzen. Dann werden die Toten auferstehen und der Messias wird Gericht halten. (Matth. XVI, 27; XIX, 28; XX, 21; XXIV, 30; XXV, 31; XXVI, 64; Mark. XIV, 62; Luk. XXII, 30; 1. Korinth. XV, 52; 1. Thessal. IV, 15.)

Bei diesem Gerichte sollen die Menschen, je nach ihren Thaten, in zwei Kategorien geteilt werden (Matth. XIII, 38; XXV, 33) und die Engel werden die Vollzieher des Urteils sein. (Matth. XIII, 39, 41, 49.) Die Erkorenen werden an einem herrlichen Orte sich zusammenfinden, der ihnen vom Weltenbeginn herbereitet worden ist; hier werden sie, im Lichtgewand gehüllt, an einem Festmahl teilnehmen, bei dem Abraham, die Patriarchen, die Propheten den Vorsitz führten. Das wird die geringere Zahl sein. (Matth. XXV, 34. Vergl. Joh. XIV, 2; Matth. VIII, 11; XIII, 43; XXVI, 29; Luk. XIII, 23, 28; XVI, 22; XXII, 30.) Die andern kommen in die Gehenna, in die Hölle. Die Gehenna war das Thal westlich von Jerusalem. Zu verschiedenen Zeiten wurde dort Feuerdienst getrieben und der Ort war zu einer Art Pfütze geworden. Die Hölle war also, nach Jesu Begriff, ein feuriges, schmutziges Thal. Die vom Gottesreich verwiesenen werden hier verbrannt und von Würmern zernagt, umgeben vom Satan und den rebellischen Engeln. (Matth. XXV, 41. Die im Buche Henoch so entwickelte Vorstellung vom Sturz der Engel wurde im Kreise Jesu allgemein anerkannt. Epist. Jud. 6; 2. Epist. Petr. II, 4, 11; Offenbar. XII, 9; Evang. Joh. VIII, 44.) Dort soll Heulen und Zähneklappern sein. Matth. V, 22; VIII, 12; X, 28; XIII, 40, 42, 50; XVIII, 8; XXIV, 51; XXV, 30; Mark. IX, 43 ec. Das Reich Gottes jedoch wird ein geschlossener Saal sein, hell in seinem Innern, mitten dieser Welt voll Finsternis und Qual. Matth. VIII, 12; XXII, 13; XXV, 30. – Vergl. Joseph. Bell. jud. III, VIII, 5.

Diese neue Ordnung der Dinge soll ewig währen. Paradies und Hölle werden kein Ende haben; ein unüberwindlicher Abgrund trennt beide. (Luk. XVI, 28.) Diesen definitiven Zustand der Menschheit wird der Menschensohn, zur Rechten Gottes sitzend, regieren. (Mark. III, 29; Luk. XXII, 69; Apostelg. VII, 55.)

Daß dies alles von den Jüngern und in manchem Momente auch von dem Meister buchstäblich geglaubt wurde, ist aus den Schriften jener Zeit deutlich zu erkennen. Wenn die erste christliche Generation einen tiefen und festen Glauben hatte, so kam es, weil sie das Weltenende nahe wähnte und die große »Offenbarung« Christi für bald erhoffte. Apostelg. II, 17; III, 19; 1. Korinth. XV, 23, 24, 52; 1. Thess. III, 13; IV, 14; V, 23; 2. Thess. II, 8; 1. Tim. VI, 14; 2. Tim. IV, 1; Tit. II, 13; Epist. Jak. V, 3, 8; Epist. Jud. 18; 2. Petr. III; Offenb. ganz, besonders aber I, 1; II, 5, 16; III, 11; XI, 14; XXII, 6, 7, 12, 20. Vergl. 4. Esra IV, 26. – Luk. XVII, 30; 1. Korinth. I, 7, 8; 2. Thess. I, 7; 1. Petr. I, 7, 13; Offenb. Joh. I, 1.

Die laute Verkündigung: »Die Zeit ist nahe!« (Offenb. I, 3; XXII, 10), welche die Offenbarung eröffnet und schließt; der beständig wiederholte Ruf: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Matth. XI, 15; XIII, 9, 43; Mark. IV, 9, 23; VII, 16; Luk. VIII, 8, XIV, 35; Offenb. II, 7, 11, 27, 29; III, 6, 13, 22; XIII. 9. sind die Hoffnungsworte und Losungsworte der ganzen apostolischen Zeit. Ein syrischer Ausdruck, » Maranatha.«, »Unser Herr kommt«, wurde sozusagen zur Parole, die sich die Gläubigen zur Stärkung ihres Glaubens und ihrer Hoffnungen zuriefen. (1. Korinth. XVI, 22.) Die Offenbarung, die im Jahre 68 u. Z. verfaßt wurde, stellt den Zeitpunkt auf dreiundeinhalb Jahr fest. Die »Himmelfahrt des Jesaias« nimmt eine Berechnung an, welche dieser ziemlich nahe kommt. Offenb. XVIII, 9. Der vom Verfasser als regierend bezeichnete sechste Kaiser ist Galba. Der tote Kaiser, der wiederkehren soll, ist Nero, dessen Namen in Ziffern angegeben wird (XIII, 18).

Jesus ging nie bis zu einer so präzisen Bestimmung. Über die Zeit seines Erscheinens befragt, verweigerte er die Antwort; einmal erklärte er sogar, den Zeitpunkt dieses großen Tages kenne nur der Vater, der ihn weder den Engeln, noch dem Sohne geoffenbart habe. (Matth. XXIV, 36; Mark. XIII, 32.) Er meinte, der Augenblick, in welchem man mit einer unruhigen Neugierde nach dem Gottesreich ausspähe, sei just der, in dem es nicht kommen werde. (Luk. XVII, 20. Vergl. Talm. v. Baby. Sanhed. 97 a.) Er wiederholte immer und immer, es werde überraschend kommen, wie zur Zeit Noas und Loths; man möge bedachtsam sein und stets zum Aufbruch bereit; jeder wache und halte seine Lampe angezündet, wie zu einem Hochzeitszuge der plötzlich naht; der Menschensohn werde kommen wie ein Dieb, zur Stunde, in der er nicht erwartet wird (Matth. XXIV, 36; Mark. XIII, 32; Luk. XII, 35-40; XVII, 20, 2. Pet. III, 10), wie ein Blitzstrahl, der von einem Ende des Horizont zum andern fährt. (Luk. XVII, 24.) Doch seine Erklärungen über die Nähe der Katastrophe veranlaßt Zweideutigkeiten. Er meint, das gegenwärtige Geschlecht werde nicht vergehen, ohne daß dies alles sich erfülle. Einige der Anwesenden werden den Tod nicht fühlen, bevor sie den Menschensohn in seinem Reich kommen sahen. (Matth. XVI, 28; XXIII, 36, 39; XXIV, 34; Mark. VIII, 39; Luk. IX, 27; XXI, 32.) Er wirft denen, die nicht an ihn glauben, vor, sie verstünden nicht die Merkzeichen des künftigen Reiches zu lesen. »Des Abends sprecht ihr: Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot; und des Morgens sprecht ihr: Es wird heute Ungewitter sein, denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler, des Himmels Gestalt könnt ihr beurteilen, könnt ihr denn nicht auch die Zeichen dieser Zeit beurteilen?« (Matth. XVI, 2-4; Luk. XII, 54-56.) Zufolge einer Täuschung, die allen großen Reformatoren eigen ist, wähnte er das Ende viel näher als es wirklich war; er zog die Langsamkeit der Bewegung der Menschheit nicht in Betracht; er glaubte in einem Tag schaffen zu können, was achtzehn Jahrhunderte später noch nicht vollendet sein sollte.

Diese so bestimmten Erklärungen beschäftigten die christliche Familie fast siebenzig Jahre. Es galt als entschieden, daß einige der Jünger den Tag der Offenbarung sehen sollen, ohne vorher zu sterben. Besonders Johannes sollte zu diesen wenigen gehören. (Joh. XXI, 22, 23.) Manche wähnten, er werde gar nicht sterben. Dies aber mochte vielleicht eine spätere Meinung sein, die erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts auftauchte. Das hohe Alter, das Johannes erreichte, scheint zu dem Glauben Anlaß gegeben zu haben, Gott wolle ihm bis ins Unendliche erhalten, bis zu dem großen Tage, um das Wort Jesu zu verwirklichen. Wie immer es sei – sein Tod erschütterte den Glauben vieler und seine Schüler versuchten die Weissagung Jesu milder zu deuten. Joh. XXI, 22, 23. – Kapitel XXI des vierten Evangeliums ist, wie der Schluß der ursprünglichen Fassung im Vers 31, Kapitel XX beweist, eine spätere Zufügung. Doch diese stammt fast aus derselben Zeit wie das bemerkte Evangelium selbst.

Indem Jesus die apokalyptische Glaubenslehren, wie sie in den apokryphischen jüdischen Büchern zu finden sind, vollständig annahm, anerkannte er auch dabei das Dogma, welches deren Vervollständigung oder vielmehr deren Bedingung ist: die Auferstehung der Toten. Diese Lehre, war, wie schon erwähnt wurde, in Israel ziemlich neu; viele kannten sie gar nicht, oder glaubten nicht daran. (Makkab. IX, 9; Luk. XX, 27.) Den Pharisäern und den eifrigen Anhängern des Messianismus war sie ein Grundsatz des Glaubens. Jesus nahm sie rückhaltslos an, doch nur im idealistischen Sinne. Viele meinten, man werde in der Welt der Auferstehung essen, trinken, sich verheiraten können. Jesu läßt in seinem Reiche zwar ein neues Osterfest zu, einen neuen Tisch und neuen Wein, allein die Ehe schließt er ausdrücklich aus. Die Sadducäer hatten in dieser Beziehung ein scheinbar wohl plumpes, aber im Grunde genommen mit der alten Theologie doch ziemlich übereinstimmendes Argument. Nach den Lehren der alten Weisen lebt bekanntlich der Mensch nur in seinen Kindern fort. Das mosaische Gesetz hat diese patriarchalische Lehre durch eine sonderbare Einrichtung, das Levirat geheiligt. Die Sadducäer zogen daraus spitzfindige Folgerungen gegen die Auferstehung. Jesu wich dem aus, indem er ausdrücklich bemerkte, daß im ewigen Leben kein Geschlechtsunterschied bestehen werde, sondern der Mensch dem Engel gleichen soll. (Matth. XXII, 30; Luk. XX, 34-38.) Manchmal scheint es, als verspräche er nur den Gerechten die Auferstehung, in dem den Gottlosen die Strafe treffe, daß sie völlig sterben und in nichts versinken. Luk. XIV, 14, XX, 35, 36. Das ist auch die Ansicht des Paulus: 1. Kor. XV, 23; 1. Thess. IV, 12. – Vergl. 4. Esra IX, 22. Zuweilen aber will Jesus wieder die Auferstehung auch den Bösen, zu ihrer ewigen Verdammnis zu teil werden lassen. (Matthäus XXV, 32.)

In allen diesen Theorien war, wie zu ersehen ist, nichts absolut Neues. Die Evangelien und Apostelschriften enthalten bezüglich der apokalyptischen Lehren nur das, was schon im Daniel, Henoch, den Sibyllinischen Orakeln, die jüdischen Ursprungs, zu finden sind. Jesus machte diese allgemein verbreiteten Anschauungen zu den seinigen. Er machte daraus die Stützen seines Wirkens, oder genauer gesagt, eine Stütze seines Wirkens, denn er war zu tief von seinem Werke durchdrungen, um es nur auf so gebrechlichen Grundsätzen zu errichten, die so leicht von den Thatsachen widerlegt werden konnten.

Es ist auch klar zu ersehen, daß eine solche Lehre, buchstäblich genommen, keine Zukunft für sich hatte. Die Welt, die hartnäckig fortbestand, ließ ihre Nichtigkeit erkennen. Der Glaube der ersten christlichen Generation ist noch begreiflich, nicht aber der der zweiten. Nach dem Tode des Johannes – oder wer sonst es sein mochte – des letzten Überlebenden aus der Schar derer, die den Meister gesehen hatten, war das Wort des letzteren als unwahr erkannt worden. Diese Angst des christlichen Bewußtseins äußert sich naiv in 2. Petri III, 8. Wäre die Lehre Jesu nur der Glaube an ein nahes Weltenende gewesen, so würde sie jetzt sicherlich schon der Vergessenheit anheim gefallen sein. Was also hat sie gerettet? Der große Umfang der evangelischen Auffassung, wonach es möglich war unter einem und demselben Symbol Lehren zu finden, die den verschiedensten geistigen Zuständen angemessen sind. Die Welt hörte nicht auf zu sein, wie Jesu verkündet, wie seine Jünger geglaubt haben. Aber sie hat sich erneut, erneut, wie Jesus es gewollt hat. Weil seine Idee von zwei Seiten sich auffassen ließ, ist sie fruchtbringend geworden. Seine Chimäre teilte nicht das Schicksal so vieler andern, die durch den Menschensinn gegangen sind, weil sie einen Lebenskeim enthielt, der ewige Früchte in dem Schoß der Menschheit gebracht hat.

Und man sage nicht, das sei eine wohlwollende Deutung, ersonnen, um die Ehre unseres großen Meisters von dem grausamen Dementi zu befreien, die die Wirklichkeit seinen Träumen gegeben hat. Nein und aber nein! Das wahre Reich Gottes, das Reich des Geistes, das jeden zum König und Priester macht; das Reich, das wie ein Senfkorn zum Baum erwachsen ist, der die Welt beschattet und unter dessen Zweigen die Vögel nisten – das hat Jesus begriffen, das hat er gewollt, das hat er begründet. Neben der falschen kalten, unmöglichen Idee von einem Weltreich hat er die wirkliche Stadt Gottes sich gedacht, die wahrhafte Palingenesis, die Bergpredigt, die Apotheose des Schwachen, die Erhöhung alles Erniedrigten, Wahren, Unschuldigen. Diese Erhöhung hat er als Künstler dargestellt, mit Zügen, die ewig dauern werden. Was jeder von uns des Besten in sich trägt, verdankt er ihm. Verzeihen wir ihm sein Hoffen auf eine traumhafte Offenbarung, auf ein Wiedererscheinen unter großem Triumph in den Himmelswolken. Vielleicht war es auch mehr der Irrtum der andern als seiner. Und wenn er wirklich sich dieser allgemeinen Täuschung hingegeben hat – was weiter! da sein Traum ihn gestärkt hat für den Tod, aufrecht erhalten in einem Kampfe, den er sonst vielleicht nicht hätte bestehen können!

Man muß also für Jesu Gottesreich mehrere Bedeutungen annehmen. Wäre sein einziger Gedanke gewesen, das Ende aller Tage sei nahe und man müsse sich darauf vorbereiten, so hätte er Johannes dem Täufer nicht übertreffen können. Das letzte Wort seiner Predigt wäre dann gewesen, man möge auf die dem Untergang nahe Welt verzichten, sich mächtig vom gegenwärtigen Leben losmachen und nach dem künftigen Reich streben. Doch Jesu Lehre hatte immer eine größere Bedeutung. Er wollte einen neuen Zustand der Menschheit schaffen und nicht nur das Ende des vorhandenen vorbereiten. Wäre Elias oder Jeremias wieder erstanden, um den Sinn der Menschen auf das letzte hinzulenken, sie hätten nicht wie er gepredigt. Das ist so wahr, daß sogar diese vermeintliche Moral des jüngsten Tages zur ewigen Moral geworden ist, zu der, welche die Menschheit gerettet hat. Jesus selbst gebraucht oft Redewendungen, die keineswegs mit der Offenbarungslehre übereinstimmen. Er erklärt da, das Gottesreich habe schon begonnen, jeder Mensch trage es in sich, wenn er dessen würdig sei, und jedermann vermöge dieses Reich durch die echte Bekehrung des Herzens im stillen zu schaffen. (Matth. VI, 10, 33; Mark. XII, 34; Luk. XI, 2; XII, 31; XVII, 20, 21.) Das Gottesreich wäre da nur das Gute (s. besonders Mark. XII, 34), ein besserer Zustand der Dinge als der vorhandene: die Herrschaft der Gerechtigkeit, die der Fromme, je nach seinem Können herstellen soll, oder auch die Freiheit der Seele, etwas Analoges der buddhistischen »Befreiung«, die Frucht der Losmachung. Diese Wahrheiten, die für uns rein abstrakte sind, waren für Jesus lebendige Wirklichkeiten. In seiner Vorstellung ist alles konkret und substanziell. Jesus ist der Mensch, der am entschiedensten an die Realität des Ideals geglaubt hat.

Die Utopien seiner Zeit und seines Stammes annehmend, wußte Jesu, Dank fruchtbringender Mißverständnisse, hohe Wahrheiten daraus zu schaffen. Sein Gottesreich war zweifellos die Offenbarung, die sich bald im Himmel vollziehen sollte. Aber es war auch, und wahrscheinlich hauptsächlich das Reich der Seele, geschaffen durch die Freiheit und das Kindesgefühl, das der tugendhafte Mensch im Schoße seines Vaters empfindet. Das war die reine Religion, ohne Ceremonien, ohne Tempel, ohne Priester; das war das moralische Weltgericht, übertragen dem Gewissen des Gerechten und in die Hand des Volkes gelegt. Hier ist, was geschaffen wurde, um zu leben, hier, was gelebt hat! Als nach einem Jahrhundert vergeblichen Harrens die materialistische Hoffnung auf ein nahes Weltenende erschöpft war, zeigte sich das wahre Reich Gottes. Übergefällige Erklärer werfen einen Schleier über das reale Reich, das nicht kommen will. Weil die Offenbarung Johannes, das erste kanonische Buch des Neuen Testaments (Justin. Dial. cum Triph. 81), zu sehr den Gedanken einer sofortigen Katastrophe vertritt, wird es in den Hintergrund gestellt, für unverständlich gehalten, tausendfältig gedeutet und fast verworfen. Wenigstens wird die Erfüllung auf unbestimmte Zeit verschoben. Einige arme Nachzügler, die noch die Hoffnungen der ersten Jünger bewahren, werden Häretiker (Ebioniten, Millenarier), die in die Tiefe des Christentums sich verlieren. Die Menschheit war zu einem andern Gottesreich übergegangen. Der Teil Wahrheit, der in Jesu Gedanke enthalten war, hat die Chimäre besiegt, die sie verdunkelt hat.

Indes verachten wir diese Chimäre nicht, welche die rauhe Schale des heiligen Kerns war, von dem wir leben. Dieses phantastische Himmelreich, dieses endlose Sehnen nach einer Stadt Gottes, welches das Christentum auf seiner langen Bahn stets beschäftigt hat, ist das Prinzip des großen Instinkts der Zukunft gewesen, das alle Reformatoren – hartnäckige Jünger der Offenbarung – von Joachim Florus bis auf die protestantischen Sektierer der Gegenwart beseelt hat. Dieses ohnmächtige Mühen, eine vollkommene Gesellschaft zu gründen, war die Quelle außerordentlicher Anspannung, die aus dem wahren Christen stets einen die Gegenwart bekämpfenden Athleten gemacht hat. Die Idee des Gottesreiches und die Offenbarung, dessen genaues Abbild, sind daher im gewissen Sinne der erhabenste und poetischste Ausdruck menschlichen Fortschritts. Wohl mußten daraus auch große Verwirrungen entstehen. Als stete Drohung über der Menschheit schwebend, hat die Annahme vom Weltenende durch den periodischen Schrecken, den sie Jahrhunderte lang ausgeübt hat, jeder profanen Entwicklung stark geschädigt. Ihres Daseins ungewiß, ging ein gewisses Ängsten durch die Gesellschaft, die niedrige Gewohnheiten annahm, welche das Mittelalter so tief unter das Altertum und die Neuzeit stellten. Übrigens war in der Auffassung des Erscheinens Christi eine große Veränderung eingetreten. Das erste Mal, als man der Menschheit verkündete, ihr Planet werde untergehen, empfand sie die lebhafteste Freude, dem Kinde gleich, das mit einem Lächeln den Tod empfängt. Alternd hing die Welt wieder am Leben.

Der Gnadentag, der von den reinen Seelen Galiläas so lang erwartet wurde, wurde für die eiserne Zeit des Mittelalters zum Tag des Zornes: » Dies irae, dies illae!« Aber selbst im Schoße der Barbarei blieb die Idee vom Gottesreich fruchtbar. Trotz der feudalen Kirche protestierten Sekten, religiöse Orden, Heilige im Namen des Evangeliums fortwährend gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Selbst in unseren Tagen, getrübte Tage, in denen Jesus keine berechtigtere Nachfolger hat, als die, welche ihn von sich zu weisen scheinen, sind die Träume von einer idealen Organisation der Gesellschaft – die so große Ähnlichkeit mit den Bestrebungen der ersten christlichen Sekten aufweisen – gewissermaßen nur der Schößling derselben Idee, ein Zweig des Riesenbaumes, in welchem jeder Zukunftsgedanke keimt, dessen Stamm und Wurzel das »Gottesreich« allewiglich sein wird. Alle sozialen Revolutionen der Menschheit werden auf dieses Wort gepfropft werden. Aber weil die »socialistischen« Versuche unserer Zeit mit einem groben Materialismus verbunden sind und nach dem Unmöglichen streben, das heißt, das allgemeine Glück auf politischen und wirtschaftlichen Maßregeln gründen wollen, so werden sie unfruchtbar bleiben, bis sie den wahren Geist Jesu sich zur Richtschnur nehmen, ich meine damit den absoluten Idealismus, den Grundsatz, daß man auf die Welt verzichten müsse, um sie zu besitzen.

Das Wort »Gottesreich« drückt anderseits wieder mit besonders glücklicher Wahl das Bedürfnis aus, das die Seele nach einer Ergänzung ihres Geschickes empfindet, nach einer Entschädigung für das gegenwärtige Leben. Selbst jene, die den Menschen anders als aus zwei Substanzen bestehend, auffassen, die das deistische Dogma von der Unsterblichkeit der Seele im Widerspruch mit der Psychologie finden, geben sich noch gerne der Hoffnung auf ein endliches Besserwerden hin, was unter einer unbekannten Form den Bedürfnissen des Menschenherzens genügen wird. Wer weiß, ob nicht der letzte Zeitpunkt des Fortschritts nach vielen, vielen Jahrtausenden das absolute Bewußtsein der Welt herbeiführen wird und mit diesem Bewußtsein auch das Erwachen alles dessen, was gelebt hat! Ein Schlaf von einer Million Jahre ist nicht länger als ein Schlaf von einer Stunde. Bei dieser Annahme hätte Paulus noch heute mit Recht sagen können: In ictu oculi (1. Korinth. XV, 52). Sicher ist, daß die moralische und tugendhafte Menschheit ihre Genugtuung erhalten wird, daß eines Tages das Gefühl des ehrlichen armen Mannes die Welt richten wird, und daß an diesem Tage die ideale Erscheinung Jesu die Vernichtung des Sittenlosen, der nicht an Tugend glaubt, des Selbstsüchtigen, der sie nicht zu erreichen wußte, sein wird. Das Lieblingswort Jesu bleibt daher voll ewiger Schönheit. Eine großartige Divination scheint es sozusagen in einer hehren Unbestimmtheit gehalten zu haben, die die verschiedenen Gattungen der Wahrheit gleichzeitig umfaßt.


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