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Elftes Kapitel.

Das Reich Gottes als Herrschaft der Armen hingestellt.

Diese Grundsätze, gut für ein Land, wo das Leben von Licht und Luft sich nährt; dieser zarte Kommunismus einer Schar Kinder Gottes, die im Vertrauen auf den Schoß ihres Vaters hinlebten, konnten einer naiven Sekte passen, die stets der Überzeugung war, daß ihre Utopien sich verwirklichen würden. Doch ist es klar, daß sie nicht die Gesamtheit der menschlichen Gesellschaft verbinden konnten. Jesus erkannte wirklich auch sehr bald, daß die offizielle Welt seinerzeit sein Reich ganz und gar nicht in Betracht ziehen werde. Er ging daher mit einer ganz besonderen Kühnheit zur Sache. Diese Welt mit ihrem trockenen Herzen und beschränkten Vorurteilen ließ er beiseite und wandte sich an die Schlichten. Eine große Substituierung der Rasse gab sich kund. Das Reich Gottes ist bestimmt: 1) für die Kinder und die ihnen gleichen; 2) für die Verachteten dieser Welt, die Opfer des gesellschaftlichen Hochmuts, der die guten, aber bescheidenen Menschen zurückstößt; 3) für die Ketzer und Schismatiker, Zöllner, Samariter, Heiden aus Tyrus und Sidon. Ein kräftiges Gleichnis erklärt diesen Appell an das Volk und rechtfertigt ihn (Matth. XXII, 2; Luk. XIV, 16; vergl. Matth. VIII, 11,12; XXI, 33): Ein König hatte ein Hochzeitsfest bereitet und sandte seine Diener aus, die Geladenen zu rufen. Jeder entschuldigte sich; einige mißhandelten sogar die Boten. Da faßte der König einen kräftigen Entschluß. Die vornehmen Leute wollten seiner Einladung nicht Folge leisten, so mögen es denn die Erstbesten sein, Leute, die von den Plätzen und Straßenecken zusammengelesen werden, gleichviel ob Arme, Bettler, Krüppel, der Saal müsse gefüllt werden: »Ich sage euch aber,« sprach der König, »daß keiner von denen, die geladen waren, mein Mahl kosten soll.«

Der reine Ebionismus, die Lehre, daß die Armen (Ebionim) allein erlöst werden, daß das Reich der Armen nahe sei, bildete also Jesu Lehre. »Wehe euch Reichen,« rief er aus, »denn ihr habt den Trost dahin. Wehe euch, die ihr jetzt gesättigt seid, denn euch wird hungern. Wehe euch, die ihr hier lacht, denn ihr werdet weinen und heulen« (Luk. VI, 24, 25). »Wenn du ein Mahl machest,« sprach er ferner, »so lade nicht deine Freunde, Brüder, deine reichen Nachbarn, daß sie dich nicht etwa wieder einladen und dir vergolten werde. Sondern lade, wenn du ein Mahl machest, die Armen, die Krüppel, die Lahmen und die Blinden. So bist du selig, denn sie haben es nicht dir zu vergelten, dir aber wird vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten.« (Luk. XIV, 12-14.) Vielleicht geschah es in gleichem Sinne, was er oft wiederholte: »Seid gute Haushalter«, Ein durch eine sehr alte und sehr beachtete Tradition erhaltenes Sprichwort, das sich auch bei Origines, bei Hieronymus und vielen Kirchenvätern vorfindet. das heißt: bereitet euch gute Stätten für das Reich Gottes, in dem ihr eure Güter den Armen schenkt, gemäß dem alten Sprichwort: »Wer sich der Armen erbarmet, der leiht dem Herrn.« (Sprüche Sal. XIX, 17.)

Übrigens war das nichts neues. Die exaltierteste demokratische Bewegung, deren die Menschheit sich erinnern kann – die einzige auch, die Erfolg hatte, denn sie hielt sich in den Grenzen des reinen Gedankens – erregte seit langem schon das jüdische Volk. Der Gedanke, Gott sei der Rächer der Armen und Schwachen gegen die Reichen und Mächtigen, findet sich auf jeder Seite des Alten Testamentes. Die Geschichte Israels ist von allen Geschichten die, in welcher der Volksgeist am stetesten geherrscht hat. Die Propheten, wahre Tribunen, und im gewissen Sinne die kühnsten Tribunen, wetterten unaufhörlich gegen die Großen und stellten eine enge Verbindung zwischen den Wörtern »reich, gottlos, gewaltig, böse«, einerseits her und andererseits zwischen »arm, sanft, demütig, fromm.« Unter den Seuleuciden, als fast alle Aristokraten abtrünnig geworden waren und zum Hellentum überschritten, befestigten sich diese Ideenverbindungen nur noch mehr. Das Buch Henoch enthält noch heftigere Flüche als das Evangelium gegen die Welt, die Reichen, die Mächtigen. Der Luxus wird hier als Verbrechen dargestellt. Der »Menschensohn« entthront in dieser wunderlichen Apokalypse Könige, reißt sie aus ihrem Wollustleben und stürzt sie in die Hölle. Die Einweihung Judäas in das profane Leben, die noch neuere Einführung eines ganz weltlichen Elements des Luxus und des Wohllebens, verursachten eine wütende Reaktion zu Gunsten der patriarchalischen Einfachheit. »Weh euch, die ihr das Haus und Erbteil euerer Väter verachtet! Weh euch, die ihr mit dem Schweiße der andern euere Paläste baut. Jeder Stein, jeder Ziegel, aus denen sie bestehen, ist Sünde.« (Henoch XCIX, 13, 14.) Das Wort »arm« (ebion) wurde gleichbedeutend dem »heilig«, dem »Freund Gottes«. Diese Bezeichnung legten sich die galiläischen Jünger Jesu gerne bei; sie war auch lange Zeit der Name der Judenchristen von Batanea und des Hauran (Nazarener, Hebräer), die der Muttersprache Jesu und seiner ursprünglichen Lehre treu geblieben waren und sich rühmten in ihrer Mitte Abkömmlinge seiner Familie zu besitzen. Julius Afrikanus bei Eusebius Hist eccl.. I, 7; Euseb. de situ et nomine loc. hebr.. beim Wort Choba; Origines Contr. Cels. II, 1, V, 61; Epiphanes Adv. haer. XXIX, 7, 9; XXX, 2, 18. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts werden diese guten Sektierer, die außerhalb der großen Strömung standen, welche die andern Kirchen mitgerissen, als Ketzer (Ebioniten) betrachtet und man erfand, um ihren Namen zu erklären, einen angeblichen Häretiker Ebion. Die Fabel von einem Ebion ist durch Tertullian und besonders durch Epiphanes verbreitet worden.

Es läßt sich nun merklich sehr leicht begreifen, daß diese übertriebene Begierde nach Armut nicht dauernd sein konnte. Es war dies eines jener utopischen Elemente, wie sie sich immer an großen Schöpfungen festsetzen und die von der Zeit gerichtet werden. In die weite Mitte der menschlichen Gesellschaft gestellt, sollte das Christentum eines Tages sehr gerne Reiche in seinem Schoße besitzen, ebenso wie der bei seinem Entstehen ausschließlich mönchische Buddhismus, als die Bekehrungen häufiger wurden, bald auch Laien aufnahm. Doch man behält stets das Gepräge seines Ursprungs. Obgleich bald vorüber und vergessen, ließ doch der Ebionismus in der ganzen Geschichte der christlichen Institution einen Sauerteig zurück, der nicht verloren ging. Die Sammlung der Logia Jesu erfolgte unter den Eberoniten Bataneas. Die Armut blieb ein Ideal, das die wahren Anhänger Jesu nicht mehr außer Acht ließen. Nichts zu besitzen, galt als der rechte christliche Standpunkt, das Betteltum wurde zur Tugend, zur Heiligkeit. Die große umbrische Bewegung im 13. Jahrhundert, die von allen Versuchen einer Religionsstiftung jene ist, welche am meisten der galiläischen Bewegung ähnlich war, erfolgte nur als ein Zeichen der Armut. Franz von Assisi, der Mann der Welt, der in seiner Herzensgüte, seiner zarten und seinen Verbindung dem Gesamtleben Jesu am meisten glich, war ein Armer. Die Bettelorden, die zahlreichen kommunistischen Sekten des Mittelalters, die sich unter dem Banner des »ewigen Evangeliums« scharten – sie alle wollten als wahre Jünger Jesu gelten und waren es auch wirklich. Aber diesesmal waren noch die unmöglichsten Träumereien der neuen Religion fruchtbringend. Das fromme Betteltum, das unserer industriellen und administrativen Gesellschaft so beschwerlich ist, war seinerzeit und unter dem günstigen Himmelstrich, voller Reiz. Er bot einer Menge beschaulicher und sanftgearteter Seelen den einzigen Stand, der ihnen zusagen konnte. Aus der Armut einen Gegenstand der Liebe und des Verlangens zu machen, den Bettler auf die geweihte Stelle zu setzen und das Kleid des Mannes aus dem Volke zu heiligen – das ist ein Meisterstück, das wohl die Nationalökonomie nicht befriedigen kann, dem gegenüber jedoch der wahre Moralist nicht gleichgültig bleiben kann. Um ihre Last zu tragen, bedarf die Menschheit des Glaubens, daß sie durch ihren Lohn nicht gänzlich bezahlt werde. Der größte Dienst, der ihr erwiesen werden kann, ist, ihr immer wieder zu sagen, daß sie nicht vom Brot allein lebe.

Wie alle großen Männer, hatte auch Jesus Neigung zum Volke und fühlte sich wohl in seiner Mitte. Das Evangelium in seinem Sinne ist für die Armen bestimmt und bringt ihnen die frohe Botschaft des Heils. (Matth. XI, 5; Luk. VI, 20, 21.) Alle vom orthodoxen Judentum Verachteten waren seine Günstlinge. Die Liebe zum Volk, das Mitleid mit dessen Schwäche, das Gefühl des demokratischen Führers, der den Geist der Menge in sich leben fühlt und sich als dessen natürlichen Dolmetscher erkennt, blinkten aus allen seinen Worten und Thaten hervor. (Matth. IX, 36; Mark. VI, 34.)

Die auserlesene Schar zeigte thatsächlich einen sehr gemischten Charakter, von dem die Strenggesinnten sehr überrascht sein mußten. Es waren da Leute, mit denen ein Jude, der sich selbst achtete, nicht verkehrt hätte. (Matth. IX, 10; Luk. XV.) Vielleicht fand Jesus in dieser ungewöhnlichen Gesellschaft Vorzüge und Gefühl als in einer pedantischen, formalen, auf ihre scheinbare Moral stolzen Bourgeoisie. In ihrer Übertreibung der mosaischen Vorschriften waren die Pharisäer dahin gekommen, sich durch die Berührung mit Leuten, die minder strenggläubig waren, für befleckt zu halten; und was die Mahlzeiten betraf, so war man fast den kindischen Unterscheidungen der indischen Kasten gleich. Diese elende Abirrung des religiösen Gefühls verachtend, aß Jesus mit denen an einem Tische, die deren Opfer waren (Matth. IX, 11; Mark. II, 16; Luk. V, 30); er hatte da Personen zur Seite, die im schlechten Ruf standen, freilich das vielleicht nur, weil sie die Lächerlichkeiten der Frömmler nicht teilten. Die Pharisäer und Schriftgelehrten schrieen Zeter. »Seht,« sagten sie, »mit was für Leuten er ißt!« Jesus hatte dafür eine seine Antwort, welche die Heuchler erbitterte: »Die Starken brauchen des Arztes nicht, sondern die Kranken« (Matth. IX, 12); oder: »Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hätte und wenn er eines verlöre, nicht die neunundneunzig in der Wüste ließe und hinginge nach dem verlorenen, bis er es finde? Und wenn er es gefunden hätte, lege er es mit Freuden auf seine Schultern« (Luk. XV, 4); oder: »Der Menschensohn ist gekommen, um selig zu machen, was verloren ist« (Matth. XVIII, 11; Luk. XIX, 10); oder: »Ich bin gekommen die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Frommen« (Matth. IX, 13); endlich das köstliche Gleichnis vom Verlorenen Sohn, wo der, welcher gefehlt hat, dargestellt, als habe er ein Vorrecht auf den, welcher stets gerecht gewesen ist. Schwache und schuldige Frauen, überrascht von so viel Reiz, und zum erstenmal die ganze Anziehungskraft der Tugend fühlend, näherten sich ihm offen. Man war erstaunt, daß er sie nicht zurückwies. »Ach,« riefen die Strenggesinnten aus, »dieser Mann ist kein Prophet! Denn wäre er's, so würde er auch wissen, daß das Weib, das ihn berührte, eine Sünderin ist.« Jesus antwortete mit dem Gleichnis von dem Gläubiger, der seinen Schuldnern ungleiche Schulden erließ; und ohne Scheu zog er das Los dessen vor, dem die größte Schuld erlassen wurde. Luk. VII, 36. – Lukas, der alles hervorzuheben liebt, was die Vergebung der Sünde betrifft (X, 30; XV, XVII, 16; XIX, 2; XXIII, 39-43), hat diese Erzählung mit einer anderen vereint, die von der Salbung der Füße in Bethanien, einige Tage vor Jesu Tod. Doch die Verzeihung der Sünderin war zweifellos eines der wesentlichsten Züge aus dem Anekdotenleben Jesu. Vergl. Joh. VIII, 3. Er beurteilte den Seelenzustand nur nach dem Grad der Liebe, die damit verbunden war, Frauen mit kummervollem Gemüt und wegen ihres Fehltritts zur Demut geneigt, standen seinem Reiche näher als die mittelmäßigen Naturen, die oft nur wenig Verdienst dabei haben, daß sie nicht gefehlt. Andererseits wieder ist es begreiflich, daß diese zarten Gemüter, in der Bekehrung zu der Sekte ein leichtes Rehabilitationsmittel findend, Jesu leidenschaftlich anhänglich waren.

Fern davon das Murren zu besänftigen, das seine Verachtung der socialen Empfindlichkeit jener Zeit hervorgerufen hatte, schien er, im Gegenteil Gefallen daran zu finden. Niemals hat jemand lauter seine Verachtung der »Welt« bekundet, die Vorbedingung großer Thaten und großer Ursprünglichkeit. Er verzieh dem Reichen nur, wenn dieser durch irgend ein Vorurteil von der Welt mißgünstig betrachtet wurde. (Luk. XIX, 2.) Laut gab er Leuten von zweifelhaftem Lebenswandel und geringem Ansehen den Vorzug vor den orthodoxen Notabeln. »Zöllner und Huren werden wohl eher ins Himmelreich kommen als ihr, Johannes kam zu euch; Zöllner und Huren glaubten ihm und ob ihr es auch sahet, habt ihr doch nicht Buße gethan.« (Matth. XXI, 31, 32.) Es ist begreiflich, wie verletzend für Leute, die aus Würde und strenger Moral ein Gewerbe machten, der Vorwurf sein mußte, dem guten Beispiel, das ihnen Freudenmädchen gaben, nicht gefolgt zu sein.

Er strebte nicht nach Äußerlichkeiten und zeigte auch keine Strenge. Er floh nicht die Freude, sondern besuchte gerne Hochzeitsvergnügungen. Eines seiner Mirakel erfolgte zur Erheiterung auf einer Hochzeit in einem Städtchen. Im Orient finden die Hochzeiten abends statt. Jeder trägt eine Lampe und die fackelnden Lichter gaben da einen recht angenehmen Eindruck. Jesus liebte diesen heiteren und belebten Anblick und schöpfte daraus Stoff zu Gleichnissen. (Matth. XXV, 1.) Wenn man dieses Benehmen mit dem Johannes des Täufers verglich, so war man empört. (Mark. II, 18; Luk. V, 33.) Als nämlich eines Tages die Jünger des Johannes und die Pharisäer Fasten hielten, fragte man Jesum: »Wie kommt es, daß, während die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasten und beten, die deinigen essen und trinken?« »Lasset sie,« antwortete Jesus. »Wie können Hochzeitsleute Leid tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, wo der Bräutigam von ihnen genommen wird, dann werden sie fasten.« (Matth. IX, 14; Mark. II, 18; Luk. V, 33.) Seine sanfte Heiterkeit äußerte sich stets in lebhaften Reflexionen und liebenswürdigen Scherzen. »Wem,« sprach er, »soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht den Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und ihren Kameraden zurufen: »Wir haben euch gesungen und ihr habt nicht getanzt; wir haben euch geklaget und ihr habt nicht geweint! Johannes ist gekommen; er aß nicht, er trank nicht, so sagten sie: Er ist verrückt. Der Menschensohn ist gekommen, er lebt wie jeder andere und ihr sagt nun: Er ist ein Fresser und Säufer, Genosse der Zöllner und Sünder! Und die Weisheit muß sich rechtfertigen lassen vor ihren Kindern.« Matth. XI, 16; Luk. VII, 34. – Ein Sprichwort, das sagen will: Die Meinung der Menschen ist blind. Die Weisheit der Werke Gottes verkündet sich nur durch sich selbst.

So durchwanderte er Galiläa unter steten Festlichkeiten. Er bediente sich dabei eines Maultiers – eines im Orient ebenso guten und verläßlichen Reisemittels – dessen großen schwarzen Augen von langen Wimpern beschattet sind und viel Sanftes an sich haben. Seine Jünger entfalteten zuweilen einen ländlichen Pomp um ihn, auf Kosten ihrer Kleidung, die hierbei die Stelle von Teppichen einnahmen. Sie legten sie auf das Maultier, das ihn trug, oder breiteten sie vor ihm auf der Erde aus. (Matth. XXI, 7, 8.) Wenn er in einem Hause abstieg, so gab es da Freude und Glückwünsche. Er hielt in Ortschaften und auf großen Gehöften an, wo er mit herzlicher Gastfreundschaft aufgenommen wurde. Im Orient wird das Haus, wo ein Fremder absteigt, sogleich ein öffentlicher Ort. Das ganze Dorf versammelt sich hier; die Kinder drängen sich heran, die Diener vertreiben sie, doch sie kehren immer wieder zurück. Jesus wollte nicht, daß man diese unschuldigen Zuschauer hart anfahre. Er ließ sie herankommen und küßte sie. (Matth. XIX, 13; Mark. IX, 35; X, 13; Luk. XVIII, 15, 16.) Die Mütter, ermutigt durch einen solchen Empfang, brachten ihre Säuglinge herbei, damit er sie berühre. Frauen kamen um Öl auf sein Haupt zu gießen und seine Füße zu salben. Seine Jünger drängten sie manchmal als belästigend zurück, doch Jesus, der die alten Bräuche und alles, was Herzenseinfalt bekundete, liebte, machte das Übel wieder gut, das seine übereifrigen Freunde angerichtet hatten. Er beschützte die, die ihn ehren wollten. (Matth. XXVI, 7; Mark. XIV, 3; Luk. VII, 37.) Kinder und Frauen beteten ihn auch förmlich an. Der Vorwurf, daß er diese zarten, stets der Verführung geneigten Geschöpfe ihren Familien entfremde, war einer von denen, der ihm von seinen Feinden am häufigsten gemacht wurde. Evang. von Markion, Zusatz zu Lukas XXIII, 2 (Epiphanes Adv. haer. XIII, 11). Ob auch die Kürzungen des Markion keinen kritischen Wert haben, so gilt doch nicht dasselbe für seine Zusätze.

Die werdende Religion war derart in mancher Hinsicht eine Bewegung der Frauen und Kinder. Letztere bildeten um Jesum gleichsam eine junge Garde zur Einweihung seines unschuldigen Königtums, und brachten ihm kleine Huldigungen dar, indem sie ihn »Sohn Davids« nannten und Hosiannah Ein Ruf, der am Laubhüttenfest bei dem Umgang um die Bundeslade unter Schwenken von Palmenzweigen, laut wurde. – Mischna Sukka III, 9. Dieser Brauch besteht noch jetzt bei den Juden. rufend, Palmen um ihn her trugen, was ihm gar wohl gefiel. Jesus benutzte sie, vielleicht wie später Savonarola, als Werkzeuge zu frommen Missionen. Er sah diese jungen Apostel, die ihn nicht kompromittierten gerne vorausziehen und den Titel aussprechen, den er selbst nicht anzunehmen wagte. Er ließ sie reden und wenn er befragt wurde, ob er es vernehme, so antwortete er ausweichend, das Lob, das von jungen Lippen käme, sei Gott am wohlgefälligsten. (Matth. XXI. 15, 16.)

Er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne zu wiederholen, daß die Kleinen geheiligte Wesen wären, daß das Reich Gottes den Kindern gehöre, daß man Kind werden müsse, um daselbst einzugehen, daß man es als Kind empfangen müsse, daß der himmlische Vater seine Geheimnisse vor den Weisen verberge, doch vor den Kleinen offenbare. Bald werden in seinen Gedanken seine Jünger und die Kinder fast eins. (Matth. XVIII, XIX, X; Luk. XVII, XVIII, IX, X, VII; Mark. X, IX.) Als die Jünger in Jesu Gegenwart eines Tages stritten – was nicht selten vorkam – wer den Vorsitz haben soll, nahm Jesus ein Kind, setzte es mitten unter sie und sprach: »Das ist der Größte, wer sich selbst erniedrigt wie dieses Kind, der ist der größte im Himmelreich.« (Matth. XVIII, 4; Mark. IX, 33-36; Luk. IX, 46-48.)

Es war auch wirklich die Kindheit, die mit ihrer göttlichen Unbefangenheit, ihren naiven Freuden Besitz von der Erde nahm. Jeden Augenblick erwarteten die Gläubigen, daß das heißersehnte Reich komme. Jeder sah sich schon auf einem Throne zur Seite des Meisters sitzen. Man verteilte unter sich die Plätze (Mark. X, 37, 40, 41) und versuchte den Tag zu berechnen. Das hieß »die frohe Botschaft«, die Lehre hatte keinen andern Namen. Ein altes Wort, »Paradies« – welches das Hebräische, wie alle andern orientalischen Sprachen, dem Persischen entlehnt hatte, und das ursprünglich die Gärten der Achemenidenkönige bezeichnete – faßte den Traum aller in einem: ein herrlicher Garten, wo man ewig das prächtige Leben, das man hier führte, fortsetzen werde. (Luk. XXIII, 43; 2. Korinth. XII, 4; vergl. Carm. sibyll pro. 86; Talmud v. Baby. Chaggiga 14, b.) Wie lange währte diese Trunkenheit? Wir wissen es nicht. Keiner maß im Verlaufe dieser zauberischen Erscheinung die Länge der Zeit; ebensowenig wie man einen Traum bemißt. Der Begriff der Dauer war ausgehoben; eine Woche glich einem Jahrhundert. Mag er nun Jahre oder Monate gewährt haben, dieser Traum war doch so schön, daß seither die Menschheit daran sich labte und noch heute unser Trost ist, einen schwachen Duft seiner zu verspüren. Niemals hat eine größere Freude die menschliche Brust. Einmal bei diesen Versuchen – den kräftigsten, den sie gemacht hatte, um sich über ihren Planeten zu erheben – vergaß die Menschheit das Bleigewicht, das sie an der Erde hielt und die Traurigkeit des irdischen Lebens. Glücklich, dessen Augen dieses göttliche Erblühen sehen konnten, und sei es auch nur einen Tag gewesen, der dieser unvergleichlichen Illusion teilhaft wurde. Aber glücklicher noch – würde Jesus uns sagen – wer frei von Illusionen, diese göttliche Erscheinung in sich wieder erstehen lassen kann, und, ohne Schwärmerei vom tausendjährigen Reich, ohne chimärisches Paradies, ohne Zeichen am Himmel – durch die Redlichkeit seines Willens und die Poesie seiner Seele das wahre Reich Gottes in seinem Herzen zu gründen weiß.


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