Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Beginn der Legende Jesu. – Die Vorstellung, die er selbst von seiner übernatürlichen Rolle hat.

Jesus kam nach Galiläa zurück, nachdem er den jüdischen Glauben völlig verloren hatte und voll revolutionären Eifers war. Seine Gedanken drücken sich jetzt mit voller Klarheit aus. Die unschuldigen Aphorismen seiner ersten Prophetenzeit – teilweise älteren Rabbinen entlehnt – die schönen Moralpredigten seiner zweiten Periode sind nun in eine entschiedene Politik übergegangen. Das Gesetz soll abgeschafft werden und er wird es sein, der es abschaffen wird. Das Schwanken der unmittelbaren Jünger Jesu, von denen viele dem Judentum treu blieben, ließe hier einige Einwendungen zu. Allein der Prozeß Jesu läßt keinem Zweifel Raum. Wir werden sehen, daß er als »Verführer« betrachtet wurde. Der Talmud führt das Verfahren gegen ihn als Beispiel an, wie man gegen »Verführer« vorgehen müsse, die Moses Gesetz umstürzen wollen. – Talm. von Jerus. Sanhed. XIV, 16; Talm. Von Baby. Sanh. 43a, 67a. Der Messias ist gekommen: er ist der Messias. Das Reich Gottes wird bald erstehen: er ist es, durch den es erstehen soll. Er weiß recht gut, er werde das Opfer seiner Kühnheit, allein das Reich Gottes könne nicht ohne Gewalt erobert werden, durch Krisen und Unruhe müsse es begründet werden. (Matth. XI, 12; Luk. XVI, 16.) Der Menschensohn wird nach seinem Tode in Glorie wiederkehren, begleitet von Legionen von Engeln; und diejenigen, die ihn zurückgestoßen haben, sollen vernichtet werden.

Die Kühnheit einer solchen Auffassung darf uns nicht überraschen. Jesus betrachtete seit langem schon sein Verhältnis zu Gott wie das eines Sohnes zum Vater. Was bei einem andern als unerträglicher Stolz schien, darf bei ihm nicht für Überschätzung gelten.

Der Titel »Sohn Davids« war der erste, den er annahm, wahrscheinlich ohne mit dem unschuldigen Trug etwas zu thun zu haben, mit dem man ihm diese Bezeichnung zu sichern suchte. Die Familie Davids war, wie es scheint, seit langer Zeit schon erloschen. Weder die Hasmonäer, die ein priesterliches Geschlecht waren, noch Herodes, noch die Römer, denken auch nur einen Augenblick daran, daß es in ihrer Umgebung noch einen Erben des Rechts der alten Dynastie gäbe. Wohl wurden einige Gelehrte als zum Geschlecht Davids gehörig bezeichnet, so Hillel, Gamaliel. Doch dies ist sehr zweifelhaft. Hätte die Familie Davids noch ein besonderes und allgemein bekanntes Geschlecht gebildet, wie käme es dann, daß sie niemals in den Kämpfen jener Zeit, neben Sadokiten, Boëthusen, Hasmonäer, Heroden auftreten? Aber seit dem Ende der Hasmonäer ging der Traum von einem unbekannten Abkömmling der alten Könige, der das Volk an seinen Feinden rächen wird, durch alle Sinne. Die allgemeine Meinung war, der Messias werde ein Sohn Davids sein und in Bethlehem geboren werden. (Matth. II, 5, 6; XXII, 42; Luk. I, 32; Joh. VII, 41, 42; Apostelg. II, 30.) Jesu erstes Gefühl war, genau genommen, nicht dasselbe. Die Erinnerung an David, welche die Masse der Juden beschäftigte, hatte nichts gemein mit seinem Himmelreich. Er hielt sich für den Sohn Gottes und nicht für den Sohn Davids. Sein Reich, die Befreiung, die er im Sinne hatte, waren von ganz anderer Art. Aber die öffentliche Meinung vergewaltigte ihn in diesem Punkte sozusagen. Die unmittelbare Konsequenz der Annahme: »Jesus ist der Messias«, war: »Jesus ist der Sohn Davids.« Er ließ sich einen Titel geben, ohne den er auf keinen Erfolg hoffen durfte. Doch scheint er schließlich Gefallen daran gefunden zu haben, denn wenn er damit angeredet wurde, so machte er sehr verbindlich jedes Wunder, das von ihm verlangt wurde. (Matth. IX, 27; XII, 23; XV, 22; XX, 30, 31; Mark. X, 47-52; Luk. XVIII, 38.) Hier, wie unter mehreren Umständen seines Lebens, fügte sich Jesus in die Gedanken seiner Zeit, obwohl sie nicht genau mit seinen übereinstimmten. Er vereinte mit seinem Dogma vom »Reich Gottes« alles was Herz und Einbildungskraft erwärmte. So sahen wir, daß er die Taufe des Johannes annahm, obgleich sie ihm nicht ganz richtig schien.

Eine ernste Schwierigkeit stellte sich entgegen: Das war seine Geburt in Nazareth, die allgemein bekannt war. Wir wissen nicht, ob Jesus gegen diesen Einwand kämpfte. Vielleicht wurde dieser weniger in Galiläa laut, wo die Annahme, daß der Sohn Davids in Bethlehem geboren sein müßte, weniger verbreitet war. Für den galiläischen Idealisten war übrigens der Titel »Sohn Davids« genügend begründet, wenn der, dem er beigelegt wurde, den Ruhm seines Volkes wieder hob und die schönen Tage Israels wieder zurückbrachte. Beglaubigte er durch sein Schweigen die fiktive Genealogie, die seine Parteigänger erdachten, um seine königliche Abstammung zu beweisen? (Matth. I, 1; Luk. III, 23.) Wußte er etwas von den Legenden, die für seine Geburt in Bethlehem erfunden wurden, besonders von der, durch die man seine Geburt in Bethlehem mit der Einschätzung in Verbindung brachte, die auf Befehl des kaiserlichen Legatens Quirinus stattgefunden hatte? (Matth. II, 1; Luk. II, 1.) Wir wissen es nicht. Die Ungenauigkeit und die Widersprüche der Genealogien Die beiden Genealogien sind verschieden voneinander und stimmen mit den Listen des alten Testaments nur wenig überein. Die Erzählung des Lukas von der Einschätzung des Quirinus enthält einen Anachronismus. Es ist übrigens begreiflich, daß sich die Legende dieses Umstandes bemächtigt hatte, die Einschätzungen brachten bei den Juden große Aufregung hervor und kehrten ihre engherzigen Anschauungen um; man erinnerte sich deren noch lange. – Vergl. Avostelg. V, 37. lassen vermuten, sie seien das Werk des an verschiedenen Punkten wirkenden Volksgeistes selbst und daß keine derselben von Jesu beglaubigt wurde. Jul. Africanus (bei Euseb. Hist. eccl. I, 7) nimmt an, die Verwandten Jesu, die nach Batanea geflüchtet sind, wären es gewesen, die diese Genealogien herzustellen versucht hätten. Nie nannte sein eigener Mund ihn Sohn Davids. Seine Jünger, weniger aufgeklärt als er, übertrieben manchmal das, was er über sich selbst äußerte; am häufigsten erhielt er von diesen Übertreibungen keine Kenntnis. Noch sei bemerkt, daß während der drei ersten Jahrhunderte beträchtliche Fraktionen des Christentums die königliche Abkunft Jesu und die Echtheit der Genealogien entschieden bestritten. So die »Ebionim«, die »Hebräer«, die Nazaräer; Tatian Markion. – Vergl. Epiphanes Adv. haer. XXIX, 9; XXX, 3, 14, XLVI, 1; Theodoret Haer. fab. I, 20; Isidor v. Pelusium, Epist. 1, 371, ad Pansophium.

Diese Legende war daher die Frucht einer großen, ganz spontanen Verschwörung und wurde schon zu seinen Lebzeiten in seiner Umgebung gebildet. In der Geschichte ist kein einziges großes Ereignis zu finden, das nicht zu einem Fabelkreis Anlaß geboten hätte, und auch Jesus konnte nicht, selbst wenn er gewollt hätte, diese Volksschöpfungen kurzweg beseitigen. Vielleicht hätte ein scharfes Auge schon damals den Keim zu jenen Erzählungen ersehen, die ihm eine übernatürliche Geburt zuschreiben sollten, sei es zufolge der im Altertum weitverbreiteten Idee, daß der außergewöhnliche Mensch nicht aus der gewöhnlichen Verbindung der zwei Geschlechter geboren werden könne; sei es zufolge eines mißverstandenen Kapitels des Jesaias Matth. I, 22, 23), aus den man herauslas, der Messias werde von einer Jungfrau geboren werden; sei es endlich zufolge der Vorstellung, daß der »Odem Gottes«, der schon als göttliche Person hingestellt wurde, ein Prinzip der Fruchtbarkeit sei. 1. Mos. I, 2. Betreffs ähnlicher Ansichten der Ägypter s. Herod. III, 28; Pomp. Mel. I, 9; Plutarch Quaest. sym. VIII 1, 3; De Is. et Osir. 43. Vielleicht, daß auch über seine Kindheit mehr als eine Anekdote im Umlauf war, die in seiner Biographie die Erfüllung des messianischen Ideals beweisen sollten, oder besser gesagt, die Prophezeiungen, welche die alegorische Exegese jener Zeit auf den Messias bezog. (Matth. I, 15, 23; Jesaias VII, 14.) Ein anderes Mal brachte man ihn schon von der Wiege her mit großen Männern in Verbindung, wie Johannes den Täufer, Herodes den Großen, den chaldäischen Astrologen, die – so wird erzählt – in jener Zeit nach Jerusalem reisten, zu zwei Greisen, Simeon und Hanna, die Erinnerungen großer Heiligkeit hinterlassen hatten. (Matth. II, 1; Luk. II, 25.) In diesen, größtenteils auf entstellten Thatsachen begründete Kombinationen herrscht eine ziemlich schlechte Chronologie. So bezieht sich die Legende von dem Kindermord vermutlich auf irgend eine von Herodes in der Nähe Bethlehems verübte Grausamkeit. Vergl. Jos. Ant. XIV, IX, 4. Aber ein eigenartiger Geist der Milde und Güte, ein tiefes volkstümliches Gefühl durchzogen alle diese Fabeln und machten aus ihnen eine Ergänzung zu den Predigten (Matth. I, II; Luk. I, II; St. Justin. Dial. cum. Tryph. 78, 106.) Besonders nach dem Tod Jesu entwickelten sich derartige Erzählungen sehr; man kann indes annehmen, daß sie schon während seines Lebens im Schwang waren, ohne etwas anderm zu begegnen, als frommer Leichtgläubigkeit und naiver Bewunderung.

Daß Jesus nie daran gedacht hat, sich selbst für die Verkörperung Gottes zu halten, kann nicht bezweifelt werden. Ein solcher Begriff war dem jüdischen Geist völlig fremd; in den drei ersten Evangelien findet sich auch keine Spur davon. (Gewisse Stellen, wie Apostelg. II, 22, schließen ihn förmlich aus.) Man findet ihn nur in einzelnen Teilen des Evangeliums Johannes angedeutet, die nicht als Echo der Gedanken Jesu betrachtet werden können. Manchmal sogar scheint es, daß Jesu Vorsichtsmaßregeln treffe, um eine solche Lehre zurückzuweisen. (Matth. XIX, 17; Mark. X, 18; Luk. XVIII, 19.) Die Beschuldigung, daß er sich für Gott oder Gottesgleichen ausgebe, wird selbst im Evangelium Johannes als eine Verleumdung der Juden hingestellt (V, 18; X, 33). Im letzteren Evangelium erklärt er auch, er sei geringer als sein Vater (XIV, 28). Anderwärts (Mark. XIII, 35) gesteht er wieder, der Vater habe ihm nicht alles offenbart. Er glaubte, er sei mehr als ein gewöhnlicher Mensch, allein durch eine unendliche Entfernung von Gott getrennt. Er ist der Sohn Gottes; aber alle Menschen sind es in verschiedenem Grade, oder können es werden. (Matth. V, 9, 45; Luk. III, 38; VI, 35; XX, 36; Joh. I, 12, 13; X, 34, 35. – Vgl. Apostelg. XVII, 28, 29; Römer VIII, 14, 19, 21; IX, 26; 2. Korinth. VI, 18; Galat. III, 26 und Alt. Test. V. Mos. XIV, 1; Weisheit II, 13, 18.) Alle sollen täglich Gott ihren Vater nennen; alle Auferstandenen werden Kinder Gottes sein. Die göttliche Kindschaft wird im Alten Testamente Geschöpfen zugesprochen, von denen sich in keiner Weise behaupten ließe, sie glichen Gott. Die Wörter »Sohn«, »Kind« haben in den semitischen Sprachen und in der Sprache des Neuen Testaments den weitesten Sinn. Übrigens ist der Begriff Jesu vom Menschen nicht der erniedrigende Begriff, den ein kalter Deismus ihm gegeben hat. In seiner poetischen Auffassung der Natur durchdringt ein einziger Odem das Weltall: der Odem des Menschen ist der Gottes. Gott wohnt im Menschen, lebt durch den Menschen, ebenso wie der Mensch in Gott wohnt, durch Gott lebt. (Vergl. Apostelg. XVII, 28.) Der transcendentale Idealismus Jesu läßt ihm niemals einen klaren Begriff von seiner eigenen Persönlichkeit haben. Er ist sein Vater, sein Vater ist er. Er lebt in seinen Jüngern; er ist überall bei ihnen (Matth. XVIII, 20; XXVIII, 20); seine Jünger sind eins, so wie er und seine Jünger eins sind. Die Idee ist für ihn alles; der Körper, der die Verschiedenheit der Person bildet, gar nichts.

Der Titel »Gottessohn« oder einfach »Sohn« wurde also für Jesu eine Bezeichnung wie »Menschensohn«, nur mit dem Unterschiede, daß er sich selbst »Menschensohn« nannte, jedoch von der Bezeichnung »Gottessohn« nicht denselben Gebrauch gemacht zu haben scheint. Nur nach Evangelium Johannes gebraucht Jesus den Ausdruck »Gottessohn« oder »Sohn«, in dem er von sich selbst spricht. Der Titel »Menschensohn« drückt sein Amt als Richter aus, »Gottessohn« dagegen seine Teilnahme an den göttlichen Absichten und seine Macht. Diese Macht hat keine Grenzen. Sein Vater hat ihn Allgewalt verliehen. Er hat das Recht sogar den Sabbath zu ändern. (Matth. XII, 8; Luk. VI, 5.) Niemand kennt den Vater anders als durch ihn. (Matth. XI, 27.) Der Vater übertrug ihm das Recht zu richten. (Joh. V, 22.) Die Natur gehorcht ihm, aber sie gehorcht auch jedem, der glaubt und betet; der Glaube vermag alles. (Matth. XVII, 18, 19; Luk. XVII, 6.) Man darf hier nicht außer acht lassen, daß weder in seinem Geiste noch in dem seiner Zuhörer irgendein Begriff von den Naturgesetzen die Grenze des Unmöglichen bestimmte. Die Zeugen seiner Wunder danken Gott, »daß er den Menschen solche Macht verliehen hat«. (Matth. IX, 8.) Er verzeiht die Sünden, er ist mehr als David, als Abraham, als Salamon, als die Propheten. (Matth. IX, 2; XII, 41, 22; XXII, 43; Mark. II, 5; Luk. V, 20; VII, 47, 48; Joh. VIII, 52.) Wir wissen nicht, in welcher Form und in welchem Maße diese Behauptungen dargestellt wurden. Jesus darf nicht nach den Regeln unserer kleinlichen Konvenienzen beurteilt werden. Die Bewunderung seiner Jünger überkam ihn und riß ihn fort. Sicherlich genügte ihm der Titel Rabbi, den er anfangs führte, nicht mehr; selbst die Titel Prophet oder Gottgesandter entsprach nicht mehr seinen Gedanken. Die Stellung, die er sich zusprach, war die eines übernatürlichen Wesens und er wollte, daß man ihn betrachte als stehe er zu Gott in höherer Beziehung als andere Menschen. Bemerkt sei jedoch, daß die Ausdrücke »übermenschlich« und »übernatürlich«, die unserer kleinlichen Theologie entnommen sind, in dem hohen religiösen Bewußtsein Jesu keinen Sinn hatten. Für ihn waren Natur und Entwickelung der Menschheit keine außer Gott liegenden Gebiete, armselige Wirklichkeiten, die den Gesetzen eines strengen Empirismus unterworfen sind. Für ihn gab es nichts Übernatürliches, denn für ihn gab es keine Natur. Trunken von unermeßlicher Liebe, vergaß er die starke Fessel, die den Menschengeist gefangen hält. Mit einem Sprunge übersetzte er den für die meisten unüberwindlichen Abgrund, den die Mittelmäßigkeit menschlicher Fähigkeiten zwischen Menschen und Gott schafft.

Es läßt sich nicht leugnen, daß in diesen Behauptungen Jesu der Keim der Lehre lag, aus der später seine Göttlichkeit erstehen sollte, S. besonders Joh. XIV usw. Doch ist es zweifelhaft, ob es die authentische Lehre Jesu ist. indem sie ihm mit dem Wort identifizierte, oder mit dem zweiten Gott, Philo, bei Euseb. citiert, Praep. Evang. VII. 13. oder dem ältesten Sohne Philo, De migr § 1; Quod Deus immut. § 6; de confus. lieg. §§ 14, 28; De profugis § 20; De somniis I, § 37; De agric. Noë § 12; Quis rerum div. Haeres § 25 ec., 48 ec. ec. oder dem Metathronengel, Μεταζρδνος d. h. der an Gottes Thron Teilnehmende, eine Art göttlicher Sekretär, der im Register Verdienst und Sünde verzeichnet: Bereschit Rabba V, 6o; Talmud von Baby. Sanhed. 38 b; Chag. 15a: Targum Jonath. Gen. V, 24. der andererseits von der jüdischen Theologie geschaffen worden ist. Diese Theorie von Logos enthält keine griechischen Elemente. Auch die Vergleiche, die man mit dem Honower der Parsen gemacht hat, ist unbegründet. Der Minokhired, oder das »göttliche Verständnis« hat große Ähnlichkeit mit dem jüdischen Logos. Allein die Entwickelung der Lehre vom Minokhired der Parsen gehört der neueren Zeit an und kann einen fremden Einfluß gehabt haben. Das »göttliche Verständnis« (Mainyu Khratu) figuriert zwar in den Handbüchern, dient jedoch nicht zur Grundlage einer Theorie, sondern kommt nur bei einigen Anrufungen vor. Vergleiche die zwischen der alexandrinischen Theorie vom »Wort« und gewissen Stellen der egyptischen Theologie angestellt wurden, können nicht ohne Wert sein. Jedoch deutet nicht darauf hin, daß in den der christlichen Zeitrechnung vorhergehenden Jahrhunderten das palästinische Judentum etwas von Egypten aufgenommen habe. Ein gewisses Bedürfnis, die harte Strenge des alten Monotheismus zu mildern, führte diese Theologie herbei; man gab Gott sozusagen einen Beisitzer, dem – wie man annahm – der ewige Vater die Weltregierung überließe. Auch glaubte man, gewisse Personen wären die Verkörperung göttlicher Fähigkeiten oder Kräfte. Die Samariter besaßen zu jener Zeit einen Wunderthäter, Namens Simon, den sie mit der »großen Kraft Gottes« identifizierten. (Apostelg. VIII, 10.) Seit beinahe zwei Jahrhunderten gaben sich die spekulativen Geister des Judentums dem Hange hin, verschiedene Personen mit göttlichen Attributen zu schaffen, oder mit gewissen Ausdrücken, die sich auf die Gottheit bezogen. So wird der im Alten Testament oft erwähnte »Odem Gottes« als ein besonderes Wesen, als »Heiliger Geist« betrachtet; ebenso werden »die Weisheit Gottes«, »das Wort Gottes« zu existierenden Wesen. Es war dies der. Keim des Prozesses, der die Sephiroth der Kabbala, die Äons des Gnosticismus, die christlichen Persönlichkeiten – kurz die ganze trockene Mythologie schuf, die in personifizierter Abstraktion besteht, und nach der der Monotheismus greifen muß, wenn er die Vielfältigkeit in Gott einführen will.

Jesus scheint diesen theologischen Klügeleien, die bald die Welt mit unfruchtbaren Zänkereien erfüllen sollten, fern geblieben zu sein. Die metaphysische Lehre vom »Wort«, wie sie in den Schriften seines Zeitgenossens Philo, in den chaldäischen Targum und schon im Buch der »Weisheit« zu finden ist, Weish. IX, 1, 2; XVI, 12; vergl. VII, 12; VIII, 5; IX und überhaupt IX bis XI. Diese Darstellung verkörperter Weisheit findet sich auch in viel älteren Schriften. Sprüche Sal. VIII, IX; Hiob XXVIII. läßt sich weder in der Logia des Matthäus, wie überhaupt nicht in den synoptischen Schriften, den so authentischen Dolmetschern der Worte Jesu, ahnen. Die Lehre vom »Wort« hat tatsächlich nichts mit dem Messiastum gemein. Der Evangelist Johannes, oder seine Schule waren es, die später beweisen wollten, Jesus sei das »Wort« und die hiermit eine ganz neue Theologie schufen, die von der des Gottesreiches ganz verschieden ist. Evang. Joh. I, 1–14; 1. Epist. Joh. V, 19; Offenb. XIX, 13. Wie zu ersehen ist, kommt im Evangelium Johannes der Ausdruck »Wort« außer in der Einleitung nicht vor, und der Erzähler läßt ihn auch nie von Jesu aussprechen. Die hauptsächliche Rolle des »Wortes« ist die eines Schöpfers, einer Vorsehung. Nun hat aber Jesus nie behauptet, er habe die Welt geschaffen, oder er regiere sie; sein Wirken dabei sei, sie zu richten und zu erneuen. Das Amt eines Vorsitzenden des jüngsten Gerichts der Menschheit, das ist es, was Jesu hauptsächlich sich beilegt und was ihm von allen ersten Christen zugesprochen wurde. (Apostelg. X, 42.) Bis zu diesem Tage sitzt er als Metathronos Gott zur Rechten, als dessen erster Minister, als zukünftiger Rächer. Matth. XXVI, 64; Mark. XVI, 19; Luk. XXII, 69; Apostelg. VII, 55; Römer VIII, 34; Ephes. I, 20; Koloss. III, 1 usw.

Der übermenschliche Christus der byzantinischen Bilder, der als Richter der Welt mitten der Aposteln sitzt, die ihm gleichen und über den Engeln stehen, die nur Beistand und Dienst leisten – das ist die genaue bildliche Darstellung dieser Auffassung vom »Menschensohne«, deren Anfänge wir bereits im Buch Henoch stark angedeutet finden.

Allenfalls war die Strenge einer überdachten Scholastik keineswegs die Sache einer solchen Welt. Die Summe der hier erörterten Ideen, bildeten im Geist der Jünger ein so wenig bestimmtes System, daß sie den Gottessohn, diese Art Verdoppelung der Gottheit, rein menschlich handeln lassen. Er gerät in Versuchung; er weiß viele Dinge nicht; er korrigiert sich selbst; Matth. X, 5; vergl. mit XXVIII, 19. er ist niedergeschlagen, entmutigt; er bittet seinen Vater, er möge ihm die Prüfungen ersparen; er ist Gott unterwürfig wie ein Sohn. Matth. XXVI, 39; Joh. XII, 27. Er, der die Welt richten soll, kennt nicht den Tag des Gerichtes. (Mark XIII.) Er trifft Vorsichtsmaßregeln für seine Sicherheit (Matth. 311, 14-16; XIV, 13; Mark. III, 6, 7; IX, 29, 30; Joh. XII, 1.) Kurz nach seiner Geburt muß man ihn verschwinden lassen, um ihn mächtigen Menschen zu entziehen, die ihn töten wollten. (Matth. II, 20.) Bei seinen Teufelsbeschwörungen ärgert ihn der Teufel und verschwindet nicht gleich beim ersten Wort. (Matth. XVII, 20; Mark. IX, 25.) In seinen Wundern zeigt sich eine gewisse Mühe, ein Ermatten, als ob sich etwas von ihm losgelöst hätte. (Luk. VIII, 45, 46; Joh. XI, 33, 38.) Dies alles ist nur das Wirken eines Gottgesandten, eines von Gott beschützten und begünstigten Menschens. (Apostelg. II, 22.) Man darf hier weder Logik noch Konsequenz fordern. Das Bedürfnis, das Jesus hatte sich Ansehen zu verschaffen und die Begeisterung seiner Jünger, mehrten nur die widersprechenden Vorstellungen. Für die Anhänger des Messianismus, für die eifrigen Leser der Bücher Daniel und Henoch, war er der »Menschensohn«; für die Juden gewöhnlichen Glaubens, für die Leser von Jesaias und Micha, war er der Sohn Davids; für die Genossen war er der »Gottessohn« oder einfach der »Sohn«. Andere hielten ihn, ohne drob von den Jüngern getadelt zu werden, für den auferstandenen Johannes den Täufer, für Elias, Jeremias, gemäß dem Volksglauben, daß die alten Propheten wieder erstehen werden, um die Zeit des Messias vorzubereiten. (Matth. XIV, 2; XVI, 4; XVII, 3; Mark. VI, 14, 15; VIII, 28; Luk. IX. 8, 19.)

Eine absolute Überzeugung, oder richtiger gesagt, die Begeisterung, die keinen Zweifel zuließ, deckte alle diese Kühnheiten. Wir, mit unserer kühlen, schüchternen Art, können nicht recht erfassen, wie man dermaßen von dem Gedanken besessen sein kann, zu dessen Apostel man sich macht. Für uns tiefernste Völker bedeutet die Überzeugung vor allem Aufrichtigkeit gegen sich selbst. Doch diese hat bei den an die Feinheiten des kritischen Geistes wenig gewöhnten Orientalen nicht viel Sinn. Treue und Trug sind Worte, die unserer Gewissensstrenge unvereinbar gegenüberstehen. Im Orient giebt es da mannigfaltige Übergänge. Exaltierte Männer, wie die Verfasser apokryphischer Schriften Daniel und Hennoch, verübten zu Gunsten ihrer Schriften – sicherlich ohne die geringsten Gewissensbisse – etwas, was wir Fälschung nennen mögen. Die materielle Wahrheit gilt dem Orientalen wenig; er betrachtet alles vom Standpunkt seiner Gedanken, seiner Interessen, seiner Leidenschaften.

Die Geschichte ist unmöglich, wenn man nicht offen zugiebt, daß es mehr als einen Maßstab für die Aufrichtigkeit gäbe. Alle großen Dinge geschehen durch das Volk, allein man kann das Volk nur lenken, wenn man auf seine Ideen eingeht. Der Philosoph, der sich dessen bewußt, absondert und hinter seinem Adel verschanzt, ist recht lobenswert. Allein derjenige, der die Menschen bei ihren Illusionen erfaßt, auf ihnen und mit ihnen zu wirken strebt, kann auch nicht getadelt werden. Cäsar wußte recht gut, er sei nicht der Venus Sohn; Frankreich wäre nicht, was es heute ist, wenn man nicht ein Jahrtausend lang an die Flasche heiligen Öls zu Rheims geglaubt hätte. Uns, machtlos wie wir sind, fällt es leicht das eine Lüge zu schelten und stolz auf unsere furchtsame Ehrlichkeit, jene, die unter anderen Bedingungen den Kampf ums Leben aufgenommen haben, mit Verachtung zu betrachten. Wenn wir mit unseren Bedenken je vollbracht haben werden, was jene mit ihren Lügen, dann würden wir auch das Recht haben, streng gegen sie zu urteilen. Mindestens jedoch muß man einen großen Unterschied machen zwischen einer Gesellschaft wie die unsrige, wo alles im vollen Licht der Reflexion erfolgt, und jener naiven, leichtgläubigen Gesellschaften, aus denen Glaubenslehren hervorgegangen sind, die Jahrhunderte beherrscht haben. Es giebt keine große Schöpfung, die nicht auf einer Legende beruht. Der einzige Schuldige ist da die Menschheit selbst, die betrogen sein will.


 << zurück weiter >>