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Erstes Kapitel.

Die Stellung Jesu in der Weltgeschichte.

Das Hauptereignis der Weltgeschichte ist die Umwälzung, wodurch die edelsten Teile der Menschheit von den mit dem unbestimmten Ausdruck Heidentum bezeichneten alten Religionen zu einer neuen bekehrt wurden, die auf die göttliche Einheit, die Dreieinigkeit und die Menschwerdung des Gottessohnes begründet ist. Diese Bekehrung brauchte zu ihrer Durchführung fast ein Jahrtausend. Die neue Religion selbst bedurfte zu ihrer Ausgestaltung mindestens dreihundert Jahre. Doch der Ursprung dieser Umwälzung ist eine Tatsache, die unter den Regierungen des Augustus und Tiberius stattgefunden hat. Damals lebte ein Mann, der allen Zeitgenossen überlegen war und durch kühnes Beginnen und durch die Liebe, die er einzuflößen wußte, den Gegenstand des künftigen Glaubens der Menschheit schuf und dessen Ausgangspunkt festsetzte.

Sobald sich der Mensch vom Tier unterschied wurde er religiös, das heißt, er sah in der Natur etwas, was über die Wirklichkeit hinaus gehe, in sich selbst etwas, was über den Tod hinaus gehe. Durch Jahrtausende verirrte sich diese Empfindung in der sonderbarsten Weise. Bei vielen Völkern ging sie nicht über den Glauben rohster Art an Zauberer hinaus, wovon wir noch Beispiele in einigen Teilen Australiens finden. Bei anderen wieder kam das religiöse Gefühl in scheußlicher Menschenschlächterei zum Ausdruck, wie es z.B. die alte Religion Mexikos zeigte. Anderwärts wieder, besonders in Afrika, wurde es zum Fetischdienst, zur göttlichen Verehrung materieller Dinge, denen eine übernatürliche Kraft zugesprochen wurde. So wie der Liebestrieb zuweilen den niedrigsten Menschen erhebt, aber zuweilen auch ihn zu Laster und Wildheit führt, so mochte lange Zeit das religiöse Gefühl zu einem Krebsschaden der Menschheit werden, der vernichtet werden mußte, weil er Irrtümer und Verbrechen schuf, deren Ausmerzung die Weisen erstrebten.

Die glänzende Civilisation, die sich schon in alten Tagen in China, Babylon, Ägypten entfaltete, schuf auch bei der Religion gewisse Fortschritte. China kam frühzeitig zu einem Mittelmaß gesunder Erkenntnis, die große Verirrungen verhinderte. Weder die Vorteile, noch die Nachteile des religiösen Gefühls äußerten sich da. Wenigstens nahm es in dieser Beziehung keinen Einfluß auf die Richtung der großen Strömungen der Menschheit. Die Religionen Babylons und Syriens hatten stets eine gewisse Sinnlichkeit. Sie waren bis zu ihrem Erlöschen im 4. oder 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Schulen der Unsittlichkeit, in die zufolge einer gewissen poetischen Anschauung, zuweilen einige durchdringende Streiflichter auf die göttliche Welt durchbrachen. Ägypten hatte, trotz seines scheinbaren Fetischdienstes, frühzeitig metaphysische Dogmen und eine hohe Symbolik. Aber sicherlich waren diese Erläuterungen einer verfeinerten Theologie nicht ursprünglich. Ein klar denkender Mensch fand noch nie daran Vergnügen seine Gedanken in Symbole zu kleiden. Gewöhnlich sucht man zufolge langer Betrachtungen und zufolge der Unmöglichkeit, für den Menschengeist das Abgeschmackte ohne weiteres anzuerkennen, Gedanken in den alten mystischen Bildern, deren Bedeutung verloren gegangen ist. Übrigens ist nicht Ägypten die Wiege des menschlichen Glaubens. Die Elemente, die in die Religion des Christen nach mannigfaltigen Veränderungen von Ägypten und Syrien eindrangen, waren bedeutungslose Formen, Schlacken wie sie der reinste Kultus noch enthält. Der Hauptfehler der erwähnten Religionen war ihr abergläubischer Charakter; was sie in die Welt warfen waren eine Menge von Amuletten und Talismanen. Von Völkern die durch den Despotismus erniedrigt waren, die an Einrichtungen gewöhnt waren, welche der Freiheit des Einzelnen fast gar keinen Spielraum gab, konnte kein großer sittlicher Gedanke ausgehen.

Die Poesie des Fühlens, Glaube, Freiheit, Rechtlichkeit, Hingebung äußerten sich in der Welt erst mit dem Auftreten der zwei großen Rassen, die im gewissen Sinne die Menschheit erst geschaffen haben. Ich meine hiermit die indo-europäische Rasse und die semitische. Die ersten religiösen Anschauungen der indo-europäischen Rasse waren hauptsächlich naturalistisch. Doch dies war ein tiefer, geistiger Naturalismus, ein liebendes Umfangen der Natur durch den Menschen, eine herrliche Poesie voll des Gefühls der Unendlichkeit – kurz, das Grundwesen dessen, was germanischer und keltischer Geist, was Shakespeare, Goethe später zum Ausdruck brachten. Es war nicht durchdachte Religion oder Moral, es war Schwermut, Zartgefühl, Phantasie. Und vor allem war es etwas Ernstes: die Grundbedingung von Religion und Moral. Indes konnte der Glaube der Menschheit nicht von dieser Seite kommen, weil diese alten Kulte im Polytheismus steckten und nicht zu einem völlig klaren Symbol kamen. Der Brahmanismus hat sich bis auf unsere Zeit wohl nur wegen dem erstaunlichen Vorrecht des Bestehens, das Indien zu besitzen scheint, erhalten. Die Bemühungen des Buddhismus sich gegen Westen auszudehnen, sind vergeblich geblieben. Das Druidentum behielt eine ausschließlich nationale Form ohne allgemeine Bedeutung. Die griechischen Neuerungen, der Orphismus, die Mysterien genügten nicht um die Geister zu sättigen. Nur Persien vermochte eine dogmatische, fast monotheistische und weise organisierte Religion zu bilden, die jedoch vielleicht nur eine Nachahmung oder Entlehnung war. Immerhin hat Persien die Welt nicht bekehrt, im Gegenteil, es wurde selbst bekehrt als die göttliche Einheit unter der Fahne des Islams seine Grenzen überschritt.

Die semitische Bemerkt sei, daß mit diesem Worte hier die Völker bezeichnet sein sollen, die eine der sogenannten semitischen Sprachen sprechen oder gesprochen haben. Die Bezeichnung ist eigentlich fehlerhaft, aber sie muß, wie die gleichartigen Ausdrücke »gotischer Stil,« »arabische Ziffer« zum näheren Verständnis beibehalten werden, mag auch ihr Irrtum erwiesen sein. Rasse kann sich rühmen, die Religion der Menschheit geschaffen zu haben. Weit hinter den Grenzen der Geschichte, unter seinem Zelte, das von den Ausschweifungen einer schon verderbten Welt rein geblieben war, bereitete der beduinische Patriarch den Glauben der Welt vor. Eine starke Abneigung gegen den wollüstigen Kultus Syriens, ein einfacher Ritus ohne jeden Tempel, eine Beschränkung der Götzenbilder auf unbedeutende »Theraphim« – das war seine Überlegenheit. Von allen nomadischen Semitenstämmen war der der Kinder Israels zum Größten auserkoren. Alte Beziehungen zu Ägypten, woher vielleicht einige Äußerlichkeiten entlehnt wurden, steigerten nur noch die Abneigung gegen den Götzendienst. Ihr Gesetz, die Thora, das schon frühzeitig in Steintafeln eingegraben wurde, und das sie auf ihren großen Befreier Moses zurückführten, ergab schon die Vorschriften des Monotheismus und enthielt, mit den staatlichen Einrichtungen Ägyptens und Chaldäus verglichen, kräftige Keime zu einer socialen Gleichheit und Gesittung. Ein tragbarer Schrein, auf beiden Seiten mit Ringen für Tragstangen versehen, war ihr ganzes religiöses Material. Hier wurden die geheiligten Gegenstände des Volkes aufbewahrt, seine Reliquien und auch das »Buch« (I. Samuel X, 25), das stets geöffnete Stammbuch, in dem jedoch wenig verzeichnet wurde.

Die Familie, deren Amt es war die Tragstangen aufzubewahren und den Schrein zu bewachen, kam bald zu hohem Ansehen, zumal das »Buch« in ihren Händen war und sie darüber verfügen konnte. Doch nicht daher kam die Einrichtung, die über die Zukunft entschied. Der jüdische Priester unterschied sich nicht viel von andern Priestern des Altertums. Was Israel von den theokratischen Völkern hauptsächlich auszeichnete, war, daß das Priestertum hier stets der individuellen Inspiration untergeordnet war. Außer den Priestern hatte jeder Nomadenstamm seinen »Nabi,« Propheten, eine Art lebendigen Orakels, das man zur Lösung der schwierigsten Fragen, die einen besondern Scharfsinn erforderten, heranzog. Die Gruppen oder Schulen bildenden Nabi Israels hatten einen großen Einfluß. Als Verteidiger des alten Volkstums, als Feinde der Reichen, als Gegner jeder politischen Organisation und sonstiger Vorkehrungen, die Israel in den Bahnen andrer Völker hätte wandeln lassen, waren sie das rechte Werkzeug für den religiösen Vorrang des jüdischen Volkes. Früh schon erweckten sie weitgehende Hoffnungen; und als der Staat, teilweise ein Opfer ihrer priesterlichen unpolitischen Weisungen, durch die Macht Assyriens vernichtet worden war, verkündeten sie, daß ihnen noch ein mächtiges Reich werden soll, daß Jerusalem einst die Hauptstadt der Welt und die Menschheit jüdisch sein werde. Jerusalem und sein Tempel erschien ihnen wie eine gipfelhohe Stadt, zu der alle Völker herbeiströmen würden, wie ein Orakel, das das allgemeine Gesetz verkünden sollte, wie das Centrum eines Idealreiches, in dem die Menschheit, von Israel zum Frieden geleitet, die Freuden Edens finden sollte. (I. Jessaias II, 1-4, Kap. XL-LX. – Mich. VI, 1 ec. Es darf nicht vergessen werden, daß der zweite Teil von Jesaias vom XL. Kapitel an nicht von ihm herrührt.)

Schon wurden unbekannte Stimmen laut, die das Martyrertum verherrlichten und die Macht des Schmerzenssohnes priesen. Veranlaßt von jenen erhabenen Duldern, die, gleich Jeremias, mit ihrem Blute die Straßen Jerusalems färbten, ließ ein Begeisterter ein Loblied erschallen über die Leiden und den Triumph der Diener Gottes, worin die ganze poetische Kraft des Geistes Israels angesammelt zu sein schien (Jesaias LII, 18 ec. und LIII).

»Wie ein schwaches Reis, wie eine Wurzel aus dürrem Boden erhob er sich; er hatte nicht Anmut, nicht Schönheit. Er war der verachtetste und törichtste voll Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Antlitz vor ihm barg und wir haben ihn darum nicht geachtet. Er trug unser Leid und belud sich mit unseren Schmerzen. Wir aber hielten ihn für einen, der von Gott geplagt, gezüchtigt, gemartert wurde. Doch um unserer Missethat willen ist er verwundet worden, um unserer Sünde willen gemartert. Er wurde bestraft, daß wir Frieden erlangen und durch seine Wunden wurden wir geheilt. Wir sind irre gegangen wie die Schafe, jeder sah auf seinen Weg. Doch der Herr warf alle unsere Sünden auf ihn. Und als er gestraft und gemartert wurde hielt er seinen Mund verschlossen, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaf, das vor seinem Scherer verstummt und den Mund nicht aufthut. Und er ist begraben wie die Gottlosen und gestorben wie ein Reicher, obgleich er niemand ein Unrecht gethan noch Trug in seinem Munde war. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gebracht hat, so wird er Samen haben und in die Länge leben und des Herrn Thun wird durch seine Hand geschehen.«

Damals erfolgten auch an der »Thora« wichtige Veränderungen. Neue Texte tauchten auf, die behaupteten, das wahre Gesetz Moses zu bieten, wie der Deuteronomos, und leiteten damit eine Anschauung ein, verschieden von der der alten Nomaden. Sein vorherrschender Zug war der Fanatismus. Rasende Fromme verübten stets Gewalttaten gegen alles was vom Dienste Jehovas sich entfernte. Es gelang ihnen ein Blutgesetz durchzudringen, das auf religiöse Vergehen die Todesstrafe setze. Stets zeigt die Frömmigkeit eigenartige Gegensätze von Zorn und Mildheit. Dieser Eifer, fremd der derben Schlichtheit der Richterzeit, begeisterte zu innigfrommen Predigten, wie sie bis dahin noch nicht vernommen wurden. Schon läßt sich auch eine starke Neigung zu den socialen Fragen erkennen: Utopien, Träumereien von einer vollkommenen Gesellschaft finden im Gesetze Raum. Ein Gemisch von patriarchalischer Moral und begeisterter Frömmigkeit, von einfacher Anschauung und frommer Verfeinerung, wie jene, die die Seele eines Hesekiel, Hosea, Jeremias erfüllten, gelangt im Pentateuch zur festen Form, die wir heute noch vorfinden und wird für Jahrhunderte zum Lenker des Volksgeistes.

Als dieses große Buch geschaffen war, entwickelte sich die Geschichte des jüdischen Volkes rasch, mit unwiderstehlicher Gewalt. Die in Westasien aufeinanderfolgenden großen Reiche überlassen Israel seinen religiösen Träumerein, die mit einer gewissen düstern Leidenschaft erfüllt waren, da jene alle Hoffnungen auf ein irdisches Königreich zerstörten. Wenig war ihm an einer nationalen Herrschaft oder an politischer Unabhängigkeit gelegen und willig nahm es jede Herrschaft hin, die ihm die freie Ausübung seines Kultus und seiner Bräuche gewährte. Israel hatte nun keine andere Leitung mehr, als die seiner religiösen Enthusiasten, keinen andern Feind mehr, als den seines Gottes, kein anderes Vaterland mehr, als sein Gesetz.

Dieses Gesetz – was nicht außer Acht gelassen werden darf – war völlig socialer und moralischer Natur. Es war die Schöpfung von Männern, die von einem hohen Ideal des irdischen Lebens erfüllt waren und das beste Mittel zu dessen Verwirklichung gefunden zu haben wähnten. Nach ihrer Überzeugung bildete die strenge Beobachtung der Thora die wahre Glückseligkeit. Diese Thora kann nicht mit den griechischen oder römischen Gesetzen verglichen werden. Diese beschäftigen sich nur mit dem abstrakten Recht und kümmern sich wenig um das Wohl und die Gesittung des Einzelnen. Schon im Vorhinein ließ sich da erkennen, daß das Ergebnis socialer und politischer Art sein werde, daß das Werk, an dem dieses Volk arbeitet ein Reich Gottes sei und kein bürgerlicher Staat, eine allgemeine Verfassung und keine Nationalität oder Vaterland.

Trotz zahlreichen Mißgeschickes hielt Israel diesen Beruf in bewundernswerter Weise aufrecht. Eine Reihe Frommer, wie Esra, Nehemia, Tobias, die Makkabäer, alle vom Gesetzeseifer erfüllt, folgten einander in der Verteidigung der alten Einrichtung. Der Gedanke, daß Israel das auserwählte Volk Gottes sei, ein Volk mit dem er einen Bund geschlossen, festete sich immer mehr. Eine ungeheuere Erwartung erfüllte die Gemüter. Das ganze indo-europäische Altertum nahm ein Paradies vor dem Weltbeginn an, alle seine Dichter beklagten eine entschwundene Goldene Zeit. Nur Israel versetzte die Goldene Zeit in die Zukunft. Die ewige Poesie aller religiösen Gemüter, die Psalmen entstanden in ihrer ganzen göttlichen und wehmütige Harmonie aus diesem exaltierten Pietismus. Israel wurde in Wirklichkeit und vorzugsweise das Volk Gottes, indes das Heidentum immer mehr zu einem groben Götzendienst wurde, wie in Ägypten und Syrien, oder zu einem leeren Gepränge, wie in der Welt Hellas und Roms. Was in den ersten zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die christlichen Märtyrer gethan haben, was bis auf unsere Tage die Opfer der Verfolgung seitens der Orthodoxie im Christentum selbst geleistet haben, das thaten die Juden in den zwei Jahrhunderten, die unserer Zeitrechnung vorausgehen. Sie waren ein lebendiger Protest gegen Aberglauben und Materialismus. Eine außergewöhnliche geistige Bewegung, die die entgegengesetzte Wirkung hatte, machte damals aus ihnen das auffallendste und eigenartigste Volk der Welt. Ihre Zerstreuung längs der ganzen Küste des Mittelländischen Meeres, ihre Benutzung der griechischen Sprache außerhalb Palästinas ebneten ihnen die Wege zu einer Propaganda, von der die in kleinen Nationen verteilte Gesellschaft des Altertums noch kein Beispiel aufgewiesen hatte.

Bis zur Makkabäerzeit hatte das Judentum nur den Charakter aller anderen Religionen der alten Zeit, trotz seiner steten Verkündigung, es werde zum Glauben der ganzen Menschheit werden. Es war ein Familienkultus, ein Stammkultus. Wohl glaubte es, daß sein Kultus der beste sei, wohl sprach es mit Verachtung von den fremden Göttern; aber es meinte auch, daß der Glaube an den wahren Gott nur für ihn allein da sei. Man bekannte sich zum Dienst Jehovahs, wenn man in die jüdische Familie trat – das war alles. Kein Jude dachte daran, einen Fremden zu dem Kultus zu bekehren, der das Erbe der Kinder Abrahams war. Die pietistische Richtung, die sich seit Esra und Nehemia geltend machte, führte zu einer strengeren und logischeren Auffassung. Das Judentum galt als die einzige wahre Religion und jedem war das Recht gegeben, beizutreten. Bald galt es auch für eine fromme That, so viel Personen wie nur möglich war zu bekehren. Jenes innige Gefühl, das Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus über den kleinlichen Rassenbegriff erhob, war damals zweifellos noch nicht vorhanden. Ein eigentümlicher Widerspruch war es jedoch, daß diese Proselyten wenig geachtet, ja sogar verachtet wurden (Mischna Scheb. X, 9; Talmud v. Babyl. Niddach, 13 d, Iebamoth 47 k, Kidduschim 70 k, Midrasch Ialkut Ruth 163 d). Doch die Basis zum Gedanken einer exklusiven Religion, zum Gedanken, daß es etwas gäbe, was mehr gilt als Vaterland, Familie und Gesetz, war geschaffen. Das gemeinsame Gefühl aller Juden war fortan ein tiefes Mitleid mit den Heiden, so groß deren irdisches Glück auch sein mochte. Ein Legendenkreis, der bestimmt war, Vorbilder unerschütterlicher Standhaftigkeit zu zeigen (Daniel und seine Genossen, die Mutter der Makkabäer und ihre sieben Söhne, die Erzählung vom Hippodrom in Alexandrien), gab den Volksführern auch Gelegenheit die fanatische Anhänglichkeit an religiöse Einrichtungen als den Begriff der Tugend hinzustellen.

Die von Antiochus Epiphanes ausgehenden Verfolgungen steigerten diese Idee einer Leidenschaft fast bis zur Raserei. Es geschah, was zweihundertunddreißig Jahre später unter Nero sich ereignete. Wut und Verzweiflung stürzten die Frommen in eine Welt von Visionen und Träumen. Es erschien das »Buch Daniel«, die erste Apokalypse. Es war gewissermaßen die Wiedergeburt des Prophetentums, doch grundverschieden von seiner früheren Gestalt, und mit einem viel deutlicheren Gefühl von den Bestimmungen der Welt. Das »Buch Daniel« brachte die messianischen Hoffnungen sozusagen zum letzten Ausdruck. Nicht mehr war der Messias ein König, gleich David und Salamon, ein theokratischer, mosaischer Cyrus, sondern ein in der Wolke (VII, 13) erscheinender »Menschensohn«, ein übermenschliches, doch menschlich aussehendes Wesen, bestimmt die Welt zu richten und das Goldene Zeitalter zu schaffen. Vielleicht, daß der »Sostosch« der Perser, der große künftige Prophet, der das Reich Ormuzd verbreiten soll, diesem neuen Ideal einige Züge verliehen hat. Der unbekannte Verfasser des Buches Daniel hatte allenfalls einen entscheidenden Einfluß auf das religiöse Ereignis, das bestimmt war, die Welt umzuwandeln. Es bot den neuen Messianismus, die Inszenierung und die technischen Ausdrücke. Es läßt sich von ihm sagen, was Jesus von Johannes dem Täufer gesagt: »Bis zu ihm die Propheten, von ihm ab das Reich Gottes.«

Man darf jedoch nicht annehmen, daß diese tief religiöse und leidenschaftliche Bewegung von gewissen Dogmen ausging, wie solches bei allen Kämpfen, die im Schoß des Christentums stattfanden der Fall war. Der Jude jener Zeit war nichts weniger als Theologe. Er grübelte nicht über das Wesen der Gottheit. Sein Glaube an die Engel, an die Endbestimmung des Menschen, an die persönlichen Eigenschaften Gottes, dessen erster Keim hie und da schon sichtbar war, war ein freier Glaube; es waren Anschauungen, deren jeder je nach seiner Gemütsstimmung hegte, welche jedoch gar vielen fremd waren. Eben die orthodoxesten Bekenner waren frei von solchen Phantasien und hielten an die Einfachheit des Mosaismus fest. Auch gab es damals noch keine dogmatische Macht, ähnlich der, welche das orthodoxe Christentum der Kirche zuerkannte. Erst zu Beginn des dritten Jahrhunderts, als das Christentum in die Hände klügelnder, in Dialektik und Metaphysik vernarrter Völker geriet, begann dieses definitive Fieber, das die Geschichte der Kirche zu einer Geschichte endloser Streitfragen machte. Wohl desputierte man auch bei den Juden. Eifrige Schulen wußten für alle angeregten Fragen eine konträre Lösung. Aber diese Streitfälle, deren wesentliche Einzelheiten uns der Talmud überliefert hat, enthalten nichts von spekulativer Theologie. Das Gesetz beobachten und aufrecht erhalten, weil es gerecht ist und – sehen wir näher zu – auch weil es Glückseligkeit bietet: das ist das ganze Judentum. Kein Kredo, kein theoretisches Symbol. Ein Schüler kühnster arabischer Philosophie, Moses Maimonides, konnte das Orakel der Synagoge werden, weil er ein recht geübter Kanoniker war.

Die Zeit der Regierung der letzten Hasmonäer und die des Herodes sahen die Exaltation noch anwachsen. Sie bildeten eine Kette religiöser Bewegungen. In dem Maße wie die Macht weltlicher wurde und in die Hand Ungläubiger geriet, lebte auch das jüdische Volk immer weniger für die Außenwelt und versenkte sich immer mehr in eine Thätigkeit, die in seinem Innern war. Von andern Schauspielen in Anspruch genommen bemerkte die übrige Welt gar nicht, was in diesem vergessenen Winkel des Orients vorging. Doch besser unterrichtet waren die auf der Höhe ihrer Zeit stehenden Geister. Der sanfte, scharfsichtige Vergil kommt uns wie ein geheimes Echo des zweiten Jesaias vor. Die Geburt eines Kindes versenkt ihn in Träume von einer allgemeinen Wiedergeburt. Vgl. IV. Das Cumaeum carmen, Vers 4, bildete eine Art sibyllinischer Apokalypse, mit dem Ausdruck der Philosophie der dem Orient vertrauten Geschichte. – S. Servius und Carmina sibyllina III, 97–817. Vgl. Tacitus, Hist. V, 13. Solche Träumereien waren nichts ungewöhnliches und bildeten einen Litteraturzweig, der als sibyllinischer bezeichnet wird.

Die völlig neue Schöpfung des Kaisertums erhitzte die Phantasie. Die große Friedensära, die nun folgte, der Eindruck schwermütiger Empfindlichkeit, den nach allen Revolutionsperioden die Gemüter empfinden, erweckte überall grenzenlose Hoffnungen.

In Judäa erreichte die Erwartung ihren Höhepunkt. Fromme Leute – man nennt hier den alten Simeon, den die Legende Jesus in seinen Armen halten läßt, auch Hanna, die Tochter Phanuels, die als Prophetin gegolten hat – verbrachten ihr Leben fastend und betend in der Nähe des Tempels, daß es Gott gefallen möge, sie nicht von der Welt zu nehmen, bevor sie die Hoffnungen Israels erfüllt gesehen hätten. Man fühlte, daß etwas Gewaltiges im Werden sei, etwas Unbekanntes nahe.

Dieser Chaos von Klarheit und Träumen, dieser Wechsel von Enttäuschung und Hoffnung, dieses von einer feindlichen Wirklichkeit stets niedergedrückte Sehnen fand endlich seinen Dolmetschen in dem unvergleichlichen Manne, dem das Volksgefühl die Bezeichnung »Gottessohn« gab, und das mit Recht. Denn er ließ die Religion einen Schritt vornehmen, der nie seinesgleichen hatte und wahrscheinlich auch nie haben wird.


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