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Zweites Kapitel.

Kindheit und Jugend Jesu. Seine ersten Eindrücke.

Jesus wurde in Nazareth geboren, einem Städtchen in Galiläa, das vor ihm keine Berühmtheit hatte. Während seiner ganzen Lebzeit wurde er »Nazarener« genannt und nur auf einem sehr verwickelten Umweg war es möglich geworden, ihn in seiner Legende zu Bethlehem geboren werden zu lassen. Wir werden später das Motiv dieser Annahme sehen und auch weshalb diese die notwendige Folgerung der Jesu zugesprochenen Rolle war. Das genaue Datum seiner Geburt ist uns unbekannt. Sie fand unter der Regierung des Augustus statt, gegen das Jahr 750 der Erbauung Roms, möglicherweise einige Jahre vor dem Jahre 1 der Zeitrechnung, die alle civilisierten Völker von seinem Geburtstage her beginnen.

Der Name Jesus, den er erhielt, ist aus Josua gebildet. Es war dies ein recht gewöhnlicher Name, doch suchte man später natürlich etwas Geheimnisvolles darunter, eine Anspielung auf sein Messiastum (Matth. I, 21; Luk. I, 31). Vielleicht war dies für ihn selbst – wie solches ja bei allen Mystikern vorkommt – ein Ansporn seiner Begeisterung. Dermaßen giebt es mehr als eine große That in der Geschichte, deren Anlaß ein ohne Nebengedanken einem Kinde erteilter Name geworden ist. Feurige Naturen wollen nie in dem was ihnen zukommt den Zufall sehen. Für sie hat alles Gott so gefügt, der geringste Umstand gilt ihnen als Zeichen eines höheren Willens.

Die Bevölkerung Galiläas war sehr gemischt, was schon der Name andeutete ( Gelil haggogim, Kreis der Völker), Diese Provinz zählte zu Jesu Zeit viele Nicht-Juden zu ihren Bewohnern: Phönizier, Syrier, Araber und selbst Griechen. Bekehrungen zum Judentum waren in solchen gemischten Ländern nicht selten. Es ist daher unmöglich, hier eine Rassenfrage aufzuwerfen, zu untersuchen, was für Blut in den Adern dessen floß, der am meisten dazu beigetragen hat, in der Menschheit die Blutsunterschiede zu verwischen.

Er ging aus dem Volke heraus. Sein Vater Josef und seine Mutter Maria waren Leute vom Mittelstand, Handwerker, die von ihrer Arbeit lebten, in einer Lage, die im Orient so häufig vorkommt und weder Wohlhabenheit noch Armut ist. Die außerordentliche Einfachheit des Lebens in solchen Ländern, wo die Bequemlichkeit kein Bedürfnis ist, macht das Privilegium des Reichtums fast unnötig und aus allen freiwillig Arme. Anderseits giebt der gänzliche Mangel an Geschmack für Kunst und alles was das materielle Leben verfeinert, der Häuslichkeit ein kahles Aussehen. Abgesehen von etwas Schmutz und Übelständen, die überall im Gefolge des Islams auftreten, war die Stadt Nazareth zu Jesu Zeit vielleicht nicht viel anders im Aussehen als heute. Die Straßen, wo er als Kind spielte, sehen wir in den steinigen Pfaden und kleinen Pfützen, die die Hütten trennen. Das Haus des Josef hatte sicherlich viel Ähnlichkeit mit diesen armseligen Butiken, die durch die Thüre erhellt werden und gleichzeitig als Werkstätte, Küche und Schlafstube dienen, deren Einrichtung aus einer Matte, einigen Kisten, einem oder zwei Tongefäßen und einer bemalten Truhe besteht.

Die Familie war recht zahlreich, mochte sie aus einer oder mehreren Ehen hervorgegangen sein. Jesus hatte Brüder und Schwestern (Matth. XII, 46, XIII, 55; Mark. III, 31, VI, 3; Luk. VIII, 19; Joh. II, 12, VII, 3–5, 10; Apostelgesch. I, 14), deren ältester er gewesen sein mochte. Alle sind unbekannt geblieben, denn es scheint, daß die vier Personen, die für seine Brüder ausgegeben worden sind, und von denen wenigstens einer, Jakobus, in den ersten Jahren der Entwickelung des Christentums von großer Bedeutung war, seine Vettern waren. Maria hatte in der That eine Schwester, die auch Maria hieß und die einen gewissen Alphäus oder Kleophas – diese beiden Namen scheinen ein und dieselbe Person zu bezeichnen – heiratete. Sie wurde die Mutter mehrerer Söhne, die unter den ersten Jüngern Jesu eine bedeutende Rolle spielten. Diese Vettern, die dem jugendlichen Meister anhänglich waren, während seine Brüder ihm opponierten (Joh. VII, 3), nahmen den Titel an »Brüder des Herrn«. Die eigentlichen Brüder Jesu erhielten erst, so wie ihre Mutter, nach seinem Tode Bedeutung (Apostelgesch. I, 14). Selbst dann scheinen sie nicht so im Ansehen gestanden zu haben, wie ihre Vettern, deren Bekehrung freiwilliger erfolgte und deren Charakter ursprünglicher gewesen sein mochte. Ihre Namen waren so unbekannt, daß wenn der Evangelist die Leute von Nazareth die Brüder Jesu aufzählen läßt, zuerst die Namen der Söhne des Kleophas erwähnt worden.

Seine Schwestern verheirateten sich in Nazareth und er brachte hier die Jahre seiner frühesten Jugend zu. Nazareth war ein kleines Städtchen, in einer Senkung gelegen, welche sich einer Gruppe von Bergen zu weit öffnete, die im Norden die Ebene von Esdrelon abschließen. Die Bevölkerung besteht gegenwärtig aus 3000–4000 Seelen und sie mochte sich auch nicht viel verändert haben. Im Winter ist es hier ziemlich kalt; das Klima ist recht gesund. Wie alle jüdischen Ortschaften jener Zeit, war auch das Städtchen ein Haufen regellos errichteter Häuser und hat wohl denselben trockenen, ärmlichen Anblick gewährt, den die Dörfer im Orient gewöhnlich aufweisen. Wie es scheint unterscheiden sich die Häuser nicht viel von jenen Steingevierten ohne äußere oder innere Zierlichkeit, die noch heute den reichsten Teil des Libanons bedecken, die jedoch, zwischen Reben und Feigenbäumen stehend, recht angenehm zu wirken wissen. Übrigens ist die Umgegend reizend und kein Fleck auf Erden scheint so gut wie dieser für die Träume eines vollkommenen Glückes geeignet. Selbst noch in unseren Tagen ist Nazareth ein köstlicher Aufenthalt, vielleicht der einzige Ort in Palästina, wo die Seele sich etwas erleichtert fühlt von dem Drucke, den sie inmitten dieser unvergleichlichen Öde fühlt. Die Bevölkerung ist liebenswürdig und fröhlich; die Gärten sind frisch und grün. Antonin der Märtyrer, Ende des 6. Jahrhunderts, schildert ein bezauberndes Bild von der Fruchtbarkeit der Umgegend, die er mit dem Paradiese vergleicht. Einige Thäler der Ostseite rechtfertigen auch vollkommen seine Beschreibung. Der Brunnen, an dem sich einst das Leben und die Heiterkeit des Städtchens ansammelte, ist zerstört; seine geborstenen Rinnen geben nur noch ein trübes Wasser. Aber die Schönheit der Frauen, die abends hier sich vereinen, eine Schönheit, die schon im 6. Jahrhundert auffiel und die man als Geschenk der Jungfrau Maria betrachtete – hat sich in einer überraschenden Weise erhalten. Zweifellos war Maria alle Tage hier und hat, den Krug auf der Schulter, ihren unbekannt gebliebenen Landesgenossinnen sich angereiht. Antonin der Märtyrer bemerkt, daß die jüdischen Frauen, die andernorts die Christen verächtlich ansahen, hier voller Wohlwollen wären. Noch heute ist der Religionshaß in Nazareth minder lebhaft als anderwärts.

Der Horizont der Stadt ist beschränkt: wenn man jedoch höher steigt, die Hochebene erreicht, welche von einer steten Brise überweht wird und welche die höchsten Häuser überragt, so ist die Aussicht prachtvoll. Im Westen zieht sich in schönen Linien der Karmel hin, in eine Spitze endend, die ins Meer zu sinken scheint. Dann zeigen sich die Doppelgipfel, die Mageddo beherrschen, die Berge des Landes Sichem mit ihren heiligen Orten aus der Patriarchenzeit, die Berge Gelboé, die kleine malerische Gruppe, an die sich die holden und auch die schrecklichen Erinnerungen von Sulem und Endor knüpfen, der Tabor, mit seiner schönen abgerundeten Form, die das Altertum mit einem Busen verglich. Durch ein Senkung zwischen dem Berge Sulem und dem Tabor erblickt man in der Ferne das Thal des Jordan und die Hochebene von Peraea, die gegen Osten eine fortgesetzte Linie bilden. Gegen Norden neigen sich die Berge von Safed dem Meere zu, verdecken St. Jean d'Acre, doch lassen vor dem Blick den Golf von Khaïfa erscheinen. Das war der Horizont Jesu. Dieser bezaubernde Kreis, die Wiege des Reiches Gottes, war ihm durch Jahre eine Welt. Sein Leben selbst ging nur wenig heraus aus diesen seiner Kindheit vertrauten Grenzen. Dann jenseits, gegen Norden, bemerkt man, fast am Abhang des Hermon, Cäsarea Philippi, seinen äußersten Punkt im Lande der Völker; und gegen Süden ahnt man hinter den ernsteren Bergen Samariens, das traurige Judäa, ausgedorrt wie von einem Wind der Vernichtung, des Todes. Wenn jemals die christlich gebliebene Welt, die aber zu besserem Begriff von dem gelangt, was die Achtung vor den Anfängen bedeutet, die apokryphischen und unbedeutenden Heiligtümer, an die sich die Frömmigkeit roherer Zeiten hing, durch authentische heilige Orte ersetzen will, so wird es die Höhe von Nazareth sein, wo sie ihren Tempel baut. Dort, am Ort der Erscheinung des Christentums, im Mittelpunkt des Wirkens seines Gründers, müßte sich die große Kirche erheben, wo alle Christen beten könnten. Dort auch, auf diesem Boden, in dem der Zimmermann Joseph und Tausende vergessener Nazarener ruhen, die die Kimmung ihres Thales nie überschritten haben, fände auch der Philosoph den besten Platz in der Welt, um nachzudenken über den Lauf menschlicher Dinge, um sich zu trösten über deren Gang, um sich zu beruhigen über das göttliche Ziel, dem die Welt durch zahllose Unfälle hindurch folgt, ungeachtet der menschlichen Eitelkeit.


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