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Vierzehntes Kapitel.

Jesu Beziehungen zu den Heiden und zu den Samaritern.

Zufolge dieser Grundsätze mißachtete er alles, was nicht die Religion des Herzens war. Die eiteln Formen der Frömmler (Matth. XV, 9), die äußerliche Strenge, die nur von Zimperlichkeit ihr Heil erwartet, hatten ihn zum Todfeind. Er kümmerte sich wenig um das Fasten. Matth. IX, 14; XI, 19.) Er zog die Verzeihung einer Beleidigung jedem Opfer vor. (Matth. V, 23; IX, 13; XII, 7.) Liebe zu Gott, Barmherzigkeit, gegenseitiges Verzeihen – das ist sein ganzes Gesetz. (Matth. XXII, 37; Mark. XII, 28; Luk. X. 25.) Nichts ist weniger priesterlich. Der Priester drängt seines Amtes wegen stets zum öffentlichen Opfer, dessen verpflichteter Diener er ist; er verwirft das Privatgebet, weil es ein Mittel ist, seiner zu entbehren. Vergeblich würde man im Evangelium nach religiösen Ceremonien suchen, die von Jesu empfohlen wurden. Die Taufe ist für ihn nur von sekundärer Bedeutung. (Matth. III, 15; 1. Korinth. I, 17.) Und was das Gebet betrifft, so giebt er da nur die Vorschrift, daß es vom Herzen komme. Manche wähnten – wie das stets vorzukommen pflegt – mit dem guten Willen schwacher Seelen die wahre Liebe zum Guten ersetzen zu können; sie bildeten sich ein das Himmelreich zu gewinnen, wenn sie ihm zurufen: »Rabbi, Rabbi!« Er wies sie ab und erklärte, seine Religion sei Gutes thun. (Matth. VII, 21; Luk. VI, 46.) Oft citierte er die Stelle des Jesaias: »Das Volk ehrt mich mit den Lippen, doch sein Herz ist fern von mir.« (Matth. XV, 9; Mark. VII, 6; vgl. Jesaias XXIX, 13.)

Der Sabbath war der Hauptpunkt, auf dem sich der Bau pharisäischer Skrupeln und Spitzfindigkeiten erhob. Diese alte und vorzügliche Einrichtung war zum Vorwand erbärmlicher kasuistischer Zänkereien, zur Quelle des Aberglaubens geworden. Man glaubte, daß sogar die Natur ihn beobachte; alle zeitweiligen Quellen galten für »sabbathlich«. (Jos. B. J. VII, V, 1. Plinius Hist. nat. XXXI, 18.) Das war auch ein Punkt, in dem Jesus seinen Gegnern gern entgegentrat. (Matth. XII, 1-14; Mark. II, 23-28; Luk. V, 1-5; XIII, 14, XIV, 1.) Er verletzte öffentlich die Sabbathgebote und antwortete den Vorwürfen, die ihm deshalb gemacht wurden, mit seinem Spott. Noch berechtigter aber verachtete er die Menge neuerer Bräuche, die von der Tradition dem Gesetze zugefügt wurden und die eben deswegen den Frömmlern am höchsten standen. Die Waschungen, die Klügeleien über reinen und unreinen Dingen fanden ihn ohne Mitleid. »Könnt ihr auch,« rief er ihnen zu, »euere Seele abwaschen? Nicht was der Mensch ißt verunreinigt ihn, sondern was aus seinem Herzen kommt.« Die Pharisäer, die Verbreiter dieser Tändeleien, waren das Ziel aller seiner Angriffe. Er beschuldigte sie, die Gesetze zu übertreiben, die unmöglichsten Vorschriften zu erfinden, um den Menschen Gelegenheit zur Sünde zu geben: »Ihr blinden Führer Blinder, hütet euch, daß ihr nicht in die Grube fallet.« »Otterngezücht,« fügte er im geheimen dazu, »sie reden nur Gutes, aber innen sind sie böse. Sie strafen Lüge das Sprichwort: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.« (Matth. XII, 34, XV, 1, 12; XXIII; Mark. VII, 1, 15; Luk. VI, 45; XI, 39.)

Er kannte nicht genügend die Heiden, um daran denken zu können, auf ihre Bekehrung etwas Dauerhaftes zu gründen. In Galiläa lebten zahlreiche Heiden, doch wie es scheint, gab es dort keinen öffentlichen und organisierten Kultus der falschen Götter. Ich glaube, die Heiden Galiläas befanden sich hauptsächlich an der Grenze, z.B. in Kades, das aber das Herz des Landes, die Stadt Tiberias ausgenommen, ganz jüdisch war. Die Grenze, wo die Ruinen der Tempel aufhören und die der Synagogen anfangen, zeigt sich heute noch deutlich auf der Höhe des Sees Huleh (Samachonitis). Die Spuren heidnischer Skulptur, wie sie in Tell-Hum sich vorfinden, sind zweifelhafter Natur. Die Küste, besonders die Stadt Acre, gehörte nicht zu Galiläa. Jesus konnte diesen Kultus in seinem ganzen Glanze in Ländern Tyrus und Sidon, in Caesare Philippi und Dekapolis entfalten sehen. Er widmete ihm wenig Aufmerksamkeit. Nie findet man bei ihm die belästigende Pedanterie der Juden seinerzeit, diese Deklamationen wider den Götzendienst, die seinen Glaubensgenossen seit Alexander so vertraut waren, und die, zum Beispiel, fast das ganze »Buch der Weisheit« füllen (XIII ec.). Was ihn bei den Heiden überraschte, war nicht ihr Götzendienst, sondern ihr Knechtsinn. (Matth. XX, 25; Mark. X, 42; Luk. XXII, 25). Der junge jüdische Demokrat – in dieser Beziehung ein Bruder Judas des Goloniters – der keinen andern Herrn als Gott anerkannte, war sehr geärgert durch die Ehren, die man der Person des Herrschers widmete, durch die oft lügnerischen Titel, die man ihnen beilegte. Bis auf diesen Punkt zeigte er in den meisten Fällen, wo er mit Heiden zusammenkam, eine große Nachsicht für sie. Oft äußerte er sich in einer Weise, die schließen ließ, als hege er betreffs ihrer größere Hoffnungen als betreffs der Juden. (Matth. VIII, 5; XV, 22; Mark. 25; Luk. IV, 25.) Das Reich Gottes soll auf sie übertragen werden. »Wenn der Besitzer eines Weinbergs unzufrieden ist mit demjenigen, den er seinen Weinberg verpachtet hat, was thut er? Er verpachtet ihn an andere, die ihm gute Früchte bringen.« (Matth. XXI, 41; Mark. XII, 9; Luk. XX, 16.) Jesus mußte umsomehr an diesen Gedanken festhalten, als nach jüdischer Meinung die Bekehrung der Heiden eines der sichersten Kennzeichen für die Ankunft des Messias war. (Jesaias II, 2; LX; Amos IX, 11; Jerem. III, 17; Maleachi I, 11; Tob. XIII, 13; Orac. sibyl. III, 715. – Vergl. Matth. XXIV, 14; Apostelg. XV, 15.) In seinem Gottesreich läßt er bei dem Festmahle Abraham, Isaak und Jakob Männer zur Seite sitzen, die von allen vier Enden der Welt gekommen sind, während des Reiches berechtigte Erben verwiesen werden. (Matth. VIII, 11, 12; XXI, 33; XXII, 1.) Freilich glaubt man oft in den Vorschriften, die er seinen Jüngern erteilt, ein entgegengesetztes Streben zu finden: es scheint als empfehle er ihnen das Heil nur den orthodoxen Juden zu predigen. (Matth. VII, 6, X, 5, 6; XV, 24; XXI, 43.) Er äußert sich da über die Heiden in einer Weise, die den Vorurteilen der Juden entsprach. (Matth. V, 46; VI, 7, 32; XVIII, 17; Luk. VI, 32; XII, 30.) Man darf da eben nicht außer Betracht lassen, daß die Jünger, deren Engherzigkeit sich noch nicht in die große Gleichgültigkeit gegen ihre Eigenschaft als Söhne Abrahams hineinfinden konnte, des Meisters Weisungen in ihrem Sinne gedeutet haben mögen. Auch ist es möglich, daß sich Jesus bezüglich dessen verschieden ausgesprochen hatte, ebenso wie Mohammed im Koran von den Juden bald in der ehrenhaftesten Weise spricht, bald wieder mit äußerster Strenge, je nachdem er sie anzuziehen hoffen mochte. Thatsächlich schreibt auch die Tradition Jesu zwei entgegengesetzte Regeln der Bekehrungsweise zu, die er abwechselnd angewandt haben mag: »Wer nicht gegen euch ist, ist für euch.« – »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.« Ein leidenschaftlicher Kampf bringt notwendigerweise solche Widersprüche hervor (Matth. XII, 30; Mark. IX, 39; Luk. IX, 50; XI, 23.)

So viel ist jedoch sicher, daß unter seinen Jüngern mehrere sich befanden, die von den Juden »Hellenen« genannt wurden. Josephus sagt es ausdrücklich Ant. XVIII, III, 3. – Vergl. Joh. VII, 35; XII, 20, 21. Dieses Wort hatte in Palästina sehr verschiedene Bedeutung. Es bezeichnete bald Heiden, bald Juden, die griechisch sprachen und unter Heiden lebten, bald Leute, die heidnischer Herkunft waren, jedoch zum Judentum sich bekehrt hatten. (Talm. von Jerus. Sota VII, 1. – Joh. VII, 37; XII, 20; Apostelg. XIV, 1; XVII, 4; XVIII, 4; XXI, 28.) Wahrscheinlich war es die letzte Gattung von Griechen, die mit Jesu sympathisierten. (Joh. XII, 20; Apostelg. VIII, 27.) Der Übergang zum Judentum hatte viel Grade, jedoch die Proselyten blieben immer den Juden von Geburt gegenüber in untergeordneter Stellung. Diejenigen, von denen hier die Rede ist, wurden »Proselyten des Thores« genannt, auch »gottesfürchtige Leute« und waren den Vorschriften Noes und nicht den mosaischen unterworfen. Diese Unterordnung war zweifellos der Grund, der sie Jesu näher brachte und ihnen seine Gunst verschaffte. (Mischna Baba mets. IX, 12; Talm. v. Baby. Sanh. 56, b; Apostelg. VIII, 27; X, 2, 22, 35; XIII, 16, 26, 43, 50; XVI, 14; XVII, 4, 17; XVIII, 7; Galat. II, 3; Jos. Ant. XIV, VII, 2.)

Ebenso war es mit den Samaritern. Wie eine Insel umgeben von den zwei größten Provinzen des Judentums – Judäa und Galiläa – bildete Samarien in Palästina eine Art Enklave, wo der alte Kultus des Garazim, des Bruders und Nebenbuhlers des Jerusalemers, fortbestand. Diese arme Sekte, die weder das Genie noch die gelehrte Organisation des eigentlichen Judentums besaß, wurde von den Jerusalemern mit äußerster Strenge behandelt. Prediger L, 27, 28; Joh. VIII, 48; Joh. Ant. IX, XIV, 3; XI, VIII, 6; XII, V, 5; Talm. v. Jerus. Abota sara V, 4; Pesachim I, 1. Sie wurden den Heiden gleichgestellt, nur daß der Grad des Hasses noch stärker war. Matth. X. 5; Luk. XVII, 18, vergl. Talm. v. Baby. Cholin 6 a. Jesus war ihnen infolge einer gewissen Opposition wohlgesinnt. Oft zog er die Samariter den orthodoxen Juden vor. Wenn er in anderen Fällen seinen Jüngern zu verbieten scheint ihnen zu predigen, weil er sein Evangelium für die reinen Juden bestimmt habe, so ist das sicherlich wieder eine gelegentliche Äußerung, welcher die Apostel einen zu allgemeinen Sinn gegeben haben. (Matth. X, 5, 6.) Manchmal nahmen ihn allerdings die Samariter übel auf, weil sie wähnten, auch er hege die Vorurteile seiner Glaubensgenossen (Luk. IX, 53), ebenso wie heutzutage der freidenkende Europäer von dem Mohammedaner als Feind betrachtet wird, weil er ihn stets für einen fanatischen Christen hält. Jesus wußte sich über diese Mißverständnisse fortzusetzen. Er hatte einige Jünger in Sichem und er brachte hier wenigstens zwei Tage zu. (Luk. IX, 56; Joh. IV, 39-43.) Bei einer gewissen Gelegenheit fand er Dankbarkeit und wahres Mitleid nur bei einem Samariter. (Luk. XVII, 16.) Eine seiner schönsten Parabeln ist die von dem Manne, der verwundet auf dem Wege nach Jerusalem liegt. Ein Priester geht vorüber, sieht ihn und setzt seinen Weg fort. Ein Levit geht vorüber und hält auch nicht an. Ein Samariter hat Mitleid mit ihm, nähert sich ihm, gießt Öl in seine Wunden und verbindet sie. (Luk. X, 30.) Jesus schloß daraus, daß die wahre Brüderlichkeit der Menschen die Barmherzigkeit und nicht die Religion bilde. Der »Nächste«, der im Judentum vor allem der Glaubensgenossen war, ist für ihn der Mensch, der Mitleid mit seinesgleichen hat, ohne Unterschied der Sekte. Die menschliche Brüderlichkeit in des Wortes weitester Bedeutung ging aus seinen Lehren im reichsten Maße hervor.

Diese Gedanken, die Jesum bei seiner Abreise von Jerusalem überkamen, fanden ihren lebhaftesten Ausdruck in einer Anekdote, die uns über seine Rückkehr erhalten worden ist. Der Weg von Jerusalem nach Galiläa führt in einer halbstündigen Entfernung an Sichem vorüber (jetzt Naplus), gegenüber der von den Bergen Ebal und Garasim beherrschten Thalöffnung. Dieser Weg wurde gewöhnlich von den jüdischen Pilgern vermieden, die lieber einen Umweg über Peräa machten, als sich den Erpressungen der Samariter auszusetzen, oder sie um etwas zu bitten. Es war verboten mit ihnen zu essen und zu trinken; ja der Grundsatz gewisser Kasuisten war sogar: »Ein Stück Brot des Samariters ist Schweinefleisch gleich.« (Luk. IX, 53; Joh. IV, 9. – Mischna Scheb. VIII, 10.) Wer aber diesen Weg nahm, der versorgte sich vorher mit Lebensmitteln, sonst kam es fast immer zu Zank und übler Behandlung. (Jos. Ant. XX, V, 1; L. 5. II, XII, 3; Vita 52.) Jesus teilte weder diese Skrupeln noch diese Befürchtungen. An der Stelle angelangt, wo sich links das Thal von Sichem öffnet, fühlte er sich ermüdet und hielt nahe eines Brunnens an. Die Samariter hatten damals, wie heute noch, die Gewohnheit, allen Örtlichkeiten ihres Thales Namen aus der Patriarchenzeit zu geben. Sie hielten diesen Brunnen für den, der von Jakob einst den Josef geschenkt worden ist; wahrscheinlich ist es derselbe, der heute noch Bir-Jakub heißt. Die Jünger beschritten das Thal und gingen nach der Stadt, um dort Lebensmittel zu kaufen. Jesus setzte sich an den Brunnenrand nieder, dem Berge Garisim gegenüber. Es war gegen Mittag. Ein Weib aus Sichem kam Wasser zu holen. Jesus verlangte von ihr zu trinken, was bei dem Weibe großes Erstaunen hervorrief, denn die Juden versagten sich gewöhnlich den Verkehr mit Samaritern. Eingenommen von Jesu Rede, erkannte das Weib einen Propheten in ihm, und Vorwürfe ob ihres Kultus erwartend, suchte sie diesen zuvorzukommen: »Herr,« sagte sie., »unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet, während ihr andern meint, in Jerusalem müsse man anbeten.« Jesus antwortete ihr: »Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, wo man weder auf diesem Berg noch in Jerusalem anbeten wird, sondern, wo die wahren Anbeter Gott anbeten werden im Geist und in der Wahrheit.« Joh. IV, 21-23. Vers 22, wenigstens dessen letzter Teil der einen, Vers 21 und 23 ganz entgegengesetzten Gedanken ausdrückt, scheint eine Interpolation zu sein. Man darf der historischen Treue eines solchen Gespräches nicht zu viel Wichtigkeit beimessen, weil nur Jesus oder die Samariterin davon erzählen haben können. Aber die Anekdote des vierten Kapitels giebt sicherlich einen der vertrautesten Gedanken Jesu wieder und die meisten Umstände der Erzählung haben ein auffallend wahrheitsgetreues Gepräge.

An dem Tage, wo er dieses Wort aussprach, war er in Wirklichkeit der Sohn Gottes. Er sagte zum erstenmal das Wort auf dem der Bau der ewigen Religion ruhen wird. Er begründete den reinen Kultus, ohne Zeit, ohne Vaterland, den welche alle edle Seelen bis ans Ende der Tage die hehre Religion der Menschheit war, sie war auch die absolute Religion. Und wenn andere Planeten Bewohner besitzen, die mit Vernunft und Moral begabt sind, so kann diese Religion nicht verschieden von der sein, die Jesus am Jakobsbrunnen verkündet hat. Der Mensch konnte nicht daran festhalten, denn das Ideal erreicht man nur für einen Augenblick. Jesu Wort war ein Blitzstrahl durch dunkler Nacht; es brauchte achtzehn Jahrhunderte, ehe die Augen der Menschheit – was sage ich! eines winzig kleinen Teils der Menschheit – sich daran gewöhnt haben. Aber der Blitzesschein soll zum hellen Taglicht werden; und nachdem sie alle Kreise der Irrungen durchlaufen hat, wird die Menschheit auf dieses Wort zurückkommen als den unsterblichen Ausdruck ihres Glaubens und ihres Hoffens.


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