Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Zwei Stunden noch bis zum Freitag, dem 8. Juli 1870! Zu Saint-Cloud unterzeichnete eben der Kaiser Napoleon der Dritte die Dekrete, welche alle seine beurlaubten Soldaten zu den Fahnen zurückriefen, die Matrosen und Marinesoldaten anwiesen, sich in L'Orient einzufinden, und das Mittelmeergeschwader zur Empfangnahme weiterer Befehle nach Palermo kommen ließen. In Dorf Lugau langte gerade zu derselben Stunde und, als eben die zunehmende Mondsichel hinter den Dächern von Kloster Lugau versank, vor der Tür des Försters Gipfeldürre ein später Wanderer an und stieß da mit einem andern unruhigen Gast der Gegend zusammen, der dort unter den schon erwähnten Waldbäumen auf- und abschritt im nächtlichen Dunkel.

»Sind Sie das, Freund Gipfeldürre?«

»Liegt seit einer Stunde in den Federn wie der Dachs im Winterschlaf. Meyer ist mein Name – Doktor Meyer aus Tübingen.«

»Doktor Herberger aus Wittenberg! So kennen wir uns bereits seit einiger Zeit durch Vermittelung von Fräulein Kleynkauer –«

»War heut am Abend noch hier mit Komtesse Warberg, um nachzusehen, ob Ihr Quartier auch behaglich in Ordnung sei. Die Frau Försterin ist selbstverständlich noch auf den Beinen, und wenn's beliebt –«

»Fürs erste geben Sie mir Ihre Hand. Leute, deren gegenseitiges Miteinanderbekanntwerden die Tante Euphrosyne für wünschenswert hält, sollten sich eigentlich schon längst kennen. Der Sachsenspiegel noch immer nicht gefunden?«

»Herr, bleiben Sie mir mit dem Schmarre vom Leib. Bitt' um Entschuldigung, aber –«

»Dort – in Lugau, doch sonst alles wohl?«

»Nein, nein, nein!«

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen? Ich komme, das Herz voll Sonne, auf einen Brief aus Lugau hin!«

»Und haben vollkommen das Recht dazu. Aber, Herr,« (und dieses schrie der Spiegelschwab), »Herr, das Kind stirbt mir, stirbt uns! Und den Doktor Scriewer, Ihren blonden Eckbert, Herr, hat die Tante Euphrosyne aus dem Kloster gejagt; in meinem Leben vergeß' ich den gestrigen Tag nicht. Herr, wir beide haben wohl draußen im Säkulum manchen Wirrwarr durchgemacht; aber diese Lugauer Klosteridylle sticht alles!« . . .

Die aufgehende Sonne traf die beiden Männer noch wach beim Förster Gipfeldürre. Als sie sich gegen vier Uhr morgens noch einmal die Hände geschüttelt und für eine kurze Ruhestunde in ihren Gastquartieren Abschied voneinander genommen hatten, sagte der Schwab, auf seinem Bettrande sitzend:

»Des laß i mir g'falle. Dieser Preuß gefällt mir!«

Franz Herberger aber sagte:

»Der Mann wäre freilich der Rechte für die Tante Euphrosyne und ihre Kepplershöhe. Schade, schade, wenn es zu spät wäre!«

Er ging so wenig wie der Vetter aus Schwaben zu Bett, sondern blieb am offenen Fenster im tiefen Nachdenken sitzen und sah nach Kloster Lugau hinüber, bis die goldenen Kreuze auf den alten Türmen in der jungen Sonne zu glänzen anfingen. Da stand er auf aus dem Nachgrübeln über sein Glück und seufzte melancholisch:

»Also daher die Lösung! Der blonde Eckbert hat sie mir endlich, endlich in die Arme getrieben. Ihr ist die Lebensluft auch hier zum Einatmen zu schwer geworden. Auch sie – meine Ruhige, Stolze, Herrliche nur ein armes, angstvolles Kind, ratlos und voll Ekel im widerlichen, wirren Weltgetriebe! Heimatlos in der Zeitlichkeit wie im Klosterfrieden. O wie weich habe ich die Gute, Tapfere zu betten!«

Und so war es wirklich zugegangen. Laura Warberg war durch die arme kleine Eva Kleynkaner und den Doktor Eckbert Scriewer in eine große Unruhe geraten und hatte ihrerseits und für sich »dem Elend ein Ende gemacht«. Daß man weder ihrem Gesicht noch ihren Briefen etwas von ihrer Lebensangst anmerkte, änderte im Innern nichts für das schöne, schweigende Mädchen, das Mündel Seiner Exzellenz des Herrn Geheimrats von P., der als junger Legationssekretär als gerngesehener Gast in Weimar beim Herrn Geheimrat von Goethe Exzellenz zu Tisch gewesen war.

Wir aber haben uns jetzt an dem zukünftigen lieben, guten Weibe des Hofrats Herberger, den Wittenberg zu seiner baldigen höchsten eigenen Verwunderung so lange zwar respektvoll, aber doch als »Horatio« bescherzt hatte, ein bestes Beispiel zu nehmen und so ruhig und gelassen zu berichten, wie es gekommen war und was alles die Nonnen von Lugau an sich selber und ihren Gästen erlebt hatten.

Ja, wer sich das so geben könnte! Lassen wir jedenfalls der Tante Euphrosyne auch ihren Teil an dem Bericht. Wir haben hier ja aber auch nicht bloß unser eigenes Leben in der Hand. –

Wer am Freitag, am Morgen, von der Ankunft des Doktors Herberger in Dorf Lugau im Kloster zuerst wußte, war selbstverständlich Gräfin Laura Warberg. Und ganz gegen ihre Gewohnheit war sie, als eben die Hähne gekräht hatten, und noch vor Tau und Tage im Klostergarten erschienen, hatte in der kühlen, schweren, glückschweren, wonnebangen Morgendämmerung einen wunderschönen Rosenstrauß zusammengepflückt und sich dann später, das heißt schon vor neun Uhr – mit ihm bei der Frau Oberin melden lassen. Diese Visite aber vergaß die letztgenannte würdige alte Dame, wie sie sich ausdrückte, auch dann nicht, wenn ihr der liebe Herrgott nochmal eine noch größere Überraschung bereiten sollte.

O Schleier und Skapulier! O hären Gewand und Gürtelstrick! Hatte der fromme Stifter vor tausend Jahren sein Kloster für so was gegründet? Hatte er darum damals seine drei Kreuze aufs Pergament gemalt und sein Sigill daran gehängt, daß später einmal eine seiner Äbtissinnen von einer seiner heiligen Jungfrauen in Begleitung einer herzlichen Umhalsung, vieler Küsse und zwischen Lachen und Weinen nur »recht sehr überrascht« die Eröffnung hinzunehmen habe: seit gestern abend sitze beim Förster Gipfeldürre der irdische Bräutigam und werde zur rechten Besuchszeit gleichfalls um die Erlaubnis bitten, der Frau Domina seine Aufwartung machen zu dürfen? . . .

Ja, ja, in einem Jahrtausend ändert sich manches in den Anschauungen, Gewohnheiten, Sitten und Moden der Menschen! Ob sich in ihren Gefühlen viel ändert, ist eine andere Frage.

»Aber Kind – beste – liebste Laura, meine liebe, gute Warberg, ist es denn möglich? Also doch?!«

»O bitte, bitte, nur nicht einmauern lassen, Mama! Liebste Beste, Gnädigste, alles andere – Wasser und Brot, wenn auch mit Franz Herberger, jedoch in der freien Luft! aber nicht eingemauert werden, nicht eingemauert werden! bitte, bitte!«

Und die Äbtissin von Kloster Lugau hatte ihrer jungen Sünderin nur einen fast liebkosenden Schlag auf die Wange versetzt und gerührt geseufzt:

»Ich ändere nichts an Ihnen, Gräfin Warberg; aber an Ihren Schicksalen auch nichts. Mein armes Kind, Sie haben freilich von früh an Ihr Leben in die eigene Hand nehmen müssen; – Gott schütze, segne und behüte Sie und Ihren Gatten auf Ihren ferneren Wegen; ja, ich glaube auch, daß es so das beste ist! Ja, schicken Sie mir den Herrn Doktor nur sobald als möglich; daß ich ihm noch ein wenig ins Gewissen rede, wird er ja wohl von einer alten Frau freundlich annehmen. Du lieber Himmel, aber wären wir doch nur erst vierzehn Tage älter hier in Lugau! Wird das eine unruhige Zeit jetzt werden!«

»Die Hauptpersonen werden ihre Ruhe schon zu wahren wissen,« meinte Laura. – –

Nach dem Besuch bei der Frau Oberin hatte die junge Erdenbraut leise an der Tür der Schwester Augustine gepocht und war von der Tante Euphrosyne mit dem Finger auf den Lippen eingelassen worden. Hier hatte es keiner überraschenden Eröffnungen bedurft, und Laura hatte hierher auch keinen taufeuchten Blumenstrauß aus dem Klostergarten zur besseren, fröhlicheren Einführung mitgebracht. Sie war nur gekommen, um bis zur offiziellen Visite des Herrn Hofrats Herberger mit den beiden älteren Jungfern am Bett des Kindes zu sitzen und von dem eigenen Glück wieder so wenig als möglich zu reden. Was darüber zu wissen war, wußten die beiden Fräulein Kleynkauer von allen in Kloster Lugau schon seit langem am genauesten.

Ob Fräulein Eva Kleynkauer von dem, was um sie her vorging, etwas verstand, konnte man nicht wissen. Sie lag mit geschlossenen Augen und rührte sich kaum. Der gestern sofort aus dem nächsten Badeort zur Hülfe herbeigerufene Klosterarzt hatte sich auf der Stelle den Zustand nicht erklären können. Er wurde erst am Nachmittag wieder erwartet. – –

Um elf Uhr wurde Laura zum ersten Mal im Klostergarten am Arm ihres Franz gesehen, und zwar von einem Zellenfenster aus, und zwar von Fräulein Seraphine von Kattelen.

»Ist denn hier jetzt alles möglich? . . . Eben die Hexe Kleynkauer mit allen zehn Fingernägeln im Gesicht meines armen Eckbert und nun dieses im offenen Licht des Tages ohne Scheu und Scham! . . . Und da – da! vor aller Augen! Nun, wozu sollten sich die Herrschaften auch noch viel genieren in Sodom und Gomorrha? Allgerechter Gott, wie lange willst du denn in deiner Langmut deinen Blitz noch zurückhalten?« . . .

Wie die Blitze Gottes aus dem blauen Sommerhimmel herniederfuhren und seine Donner über die erschreckte Welt hinrollten, davon wird wahrlich noch die Rede sein müssen; aber erst im nächsten Kapitel. In diesem haben wir uns zu sagen, daß nun mit Blitzesschnelle Kloster Lugau das Neueste erfuhr. Auf der Treppe, die zu den Gemächern der Frau Domina hinauf führte, stattete Schwester Seraphine als die erste der Lugauer Nonnen dem Herrn Hofrat und der Gräfin Warberg ihre herzlichsten Glückwünsche ab. Die übrigen Schwestern folgten so rasch es sich machen ließ, einzeln und in Scharen, im Zimmer der Komtesse, in dem der Frau Domina, im Versammlungssaale, in den Korridoren und im Garten. Erst gegen Abend beruhigte sich Kloster Lugau in der festen Überzeugung, daß das ja auch gar nicht anders hätte kommen können. Selbst die ehrlichsten der Damen hatten so was schon längst geahnt; einige aber hatten es noch länger schon fest vorausgewußt.

Im Klostergarten treffen wir aber endlich, auch gegen Mittag, die Tante Euphrosyne, die Gräfin Laura, den Doktor Herberger und den Doktor Meyer allein. Um diese Stunde war es fast wie eine Verabredung unter den guten Seelen von Lugau, die Leutchen sich einmal einen Augenblick selber zu überlassen; doch hatte auch die Frau Domina das Ihrige dazu getan und ein verständiges Wort in dieser Hinsicht gesprochen. Es gab da eine schöne Stelle in einer künstlichen, sicheren Wildnis, alte Steinbänke, einen alten bemoosten Steintisch, in einer Tuffstein-Grotte vor der heißen Julisonne geschützt. Da saßen die vier (die Tante Augustine war am Bett der kranken Kleinen geblieben) und machten nicht die sonnigen Gesichter, die von Rechts wegen in die Stunde gehörten.

Franz und Laura sahen ernst genug drein, der Schwabe hatte seine Faust grimmig auf dem Knie liegen, und die Tante Euphrosyne streckte die ihrige fast noch grimmiger nach der Welt da draußen, nach der Landstraße jenseit der Klostergartenmauer, nach dem Säkulum, nach der Zeitlichkeit hin aus. Und sie hatte auch das Wort.

»Ja, glückliche Reise! Los wäre ich ihn; aber wer hält mir mein Kind, mein armes, armes Kind im Leben fest? Hier, Herberger, habe ich sie, dort unter dem Fliederbusch bewußtlos vom Boden aufgehoben und dem schleichenden Bösewicht meine letzte Meinung, weit ausgeholt, auf die linke Backe hin mitgeteilt, und so hat er sich die Endwirkung nicht vorgestellt, als er sich hierherschicken ließ, um dem Vetter Eberhard beim Suchen nach dem Sachsenspiegel zu helfen! Wenn er heute in Wittenberg in den Spiegel guckt, findet er hoffentlich noch die Spuren meiner fünf Finger im Gesicht. Aber wie habe ich mich auch auf die Lauer gelegt, um da ein fünfmal unterstrichenes Finis unter seinen Aufenthalt in Kloster Lugau zu setzen! Keine Tigerkatze, der man ihr Junges gestohlen hat, konnte giftiger und lautloser hinter dem Räuber herschleichen, um im richtigen Moment bei der Hand zu sein. Hier – hier bei den Rosen hatte er mein armes, hilfloses Evchen wieder in seinen schleimigen Windungen und ließ das wehrlose Geschöpf Staub fressen, Zuckerstaub, wie in dem Brief, den Sie kennen. Herberger, dem süßen Giftschleimgeschmier, das ich dem Kinde aus seinem Schulatlas, aus der Weltkarte nach Mercators Projektion, gestohlen habe! Wahrlich, der glücklichste Sündenfall, dessen sich ein armes Weibsbild seit unserer allgemeinen Mutter Apfelbiß zu rühmen hatte. Wovon sprach er ihr? ich meine, meiner Eva? Natürlich von dem ihren unglücklichen Eltern drohenden Unheil, ihrer Insolvenz, Nagen am Hungertuch, Schuldturm! Selbstverständlich von seinem Edelmut, von Ännchen von Tharau, von Simon Dach und seines, des blonden Eckberts, felsensicherem Vorsatz, bei seinem Bräutchen, seinem süßen, süßen Bräutchen, in Hunger und Kummer, in Not und Tod, für Zeit und Ewigkeit auszuharren, freilich unter der Voraussetzung, daß die Tante Euphrosyne Kleynkauer das Ihrige tue, und, wenn es nötig werden sollte, von seinem wonnigen Mädchen herumgekriegt werde. Ja, – von seinem wonnigen Mädchen herumgekriegt werde! Da hinter dem Busch habe ich gestanden und mit blutendem Herzen und mit den letzten Zähnen knirschend über dieses Prachtwort doch grinsen müssen. Aber das leise Stöhnen des Kindes, die Angstrufe: Mein armer Vater! meine liebe Mama! . . . und dazu das Achselzucken und Komödien-Händeringen, und dann der Griff der Kleinen nach dem Herzen – mein Kind in meinen Arm und – klatsch, klatsch, klatsch, ein Gruß von Kepplershöhe an den Herrn Doktor Eckbert Scriewer, wie er ihn in seiner Welt nach Krämers Rechnung wohl noch nicht als empfangen zu bescheinigen hatte. Fräulein Laura und der Herr Vetter aus Schwaben können mir das Zeugnis geben, daß die Tante Euphrosyne nichts von dem hat merken lassen, was in ihr kochte, sondern den Göttern ruhig ihren Willen ließ; aber die Erlösung, als endlich es wie eine Stimme von oben kam: ›So haue doch zu,‹ die kann mir keiner nachfühlen. Nun ist freilich die Krisis da. Die närrischen, törichten Alten in Wittenberg wissen Bescheid; ich habe geschrieben, und der blonde Eckbert wird gesprochen haben. Des Schuftes Weib wird das Kind nicht; und ich bin ein altes Weib, und ist es Gottes Wille, will er die Schönheit und Lieblichkeit hier nicht länger in seiner Welt lassen, geht das Kind von mir, so gehe ich ihm bald nach. Was kümmert mich der Rest noch weiter?« . . .

Was sollten sie dazu sagen?

Doktor Herberger wußte auch diesem Erden-Gespenstertum gegenüber wieder nichts sehr zur Sache Dienliches zu bemerken und verdiente augenblicklich im vollen Ernst seinen Wittenberger Scherznamen Horatio. Laura Warberg drückte ihr Gesicht an seine Schulter, sie vermochte wieder nichts gegen ihre Natur, sie konnte es den Leuten auch jetzt nicht gut zeigen, daß sie weinen konnte. Doktor Meyer aus Tübingen aber rief:

»I halt des net aus!« und damit faßte er das alte Weible in die Arme wie ein Uhlandscher Ritter und Königssohn seine junge Schäferin. »Schluchze Sie sich bei mir aus, Tante Euphrosyne! Zum Henker, weiter kann i ja weiß Gott auch nichts sage zu Ihrem Trost; – aber i heul mit dir!«

So ist es der Vetter aus Schwaben gewesen, der der norddeutschen Base das Du anbot, und von dieser Stunde an sind sie beide dabei geblieben.

 


 


 << zurück weiter >>