Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Am Hause des Ortsvorstehers von Dorf Lugau trat dem Bewohner Deutschlands wie dem Ausländer auch eine der Errungenschaften des Jahres Achtzehnhundertsechsundsechzig deutlich vor die Augen. Dort befand sich nämlich ein Briefkasten des norddeutschen Bundes und vermittelte auch den schriftlichen Verkehr von Kloster Lugau mit der Außenwelt, mit dem Säkulum.

Als nun der wandernde Bote des norddeutschen Reichspostamts am Abend des 5. Juli 1870 den Inhalt dieses Kastens in seine Ledertasche ausleerte, um ihn dem nächsten »Filial« zur Weiterbeförderung zuzutragen, brummte er sehr verwundert:

»Nanu!« und fügte kopfschüttelnd die Frage an: »Donner und Hagel, was mag denn da bei unsere Damens passiert sein? Das geht doch noch übers Bohnenstroh! Wenn dies in einem Hühnerstall zu Tage gekommen wäre als ein Eiersegen, dann könnte man schon seinen eigenen Segen dazu geben. Ein viertel Hundert haben wir ja wohl da auf'm geistlichen Hofe, und – alle haben sie diesmal gelegt. Alle Hagel, alle Hagel! Und Ihrer soll auch noch mit, Herr Doktor? Na, dann geben Sie man her, in angenehmer Gesellschaft reist er; aber der letzte Droppen in den Eimer ist's auch beinahe.«

Es war Doktor Meyer, der seinen Beitrag zur heutigen Korrespondenz von Kloster und Dorf Lugau vom Förster Gipfeldürre im letzten Augenblick auch noch herbeitrug.

»Verlieret Se ihn mir net, Alterle; ja, aber zum Donner, kommt das alles aus Kloster Lugau?«

»Kömmt mir beinah so vor. Ein recht schöner Abend, Herr Doktor! Übrigens schwört ein Königlich Preußischer Unteroffizier nicht bloß bei's Militär, sondern auch im Zivilversorgungszustande seinem König Eid und Treue und verliert weder 'nen Brief noch schädigt das Briefgeheimnis. Recht guten Abend.«

Der Vetter aus Schwaben sah dem Veteranen von den Düppeler Schanzen mit Wohlgefallen nach, dann mit einem schweren Seufzer nach den Linden des Klosters im Abendsonnenglanz hinüber, und dann – ging er nicht wie sonst, den Nonnen einen Abendbesuch abzustatten, sondern verzog sich einsam in den Wald. Auch hinter ihm schlugen die Sträuche zusammen, das Gras stand wieder auf; aber mitten in der Öde legte er sich in es hinein und grübelte bis zum Dunkelwerden seinem vorhin nach Stuttgart abgesendeten Brief weiter nach.

Meltau über Kloster Lugau! – Wie es uns in allen zehn Fingern juckte, dem alten, braven Unteroffizier und Landbriefträger auf seinem Wege zur nächsten Postanstalt aus dem Busch über den Hals zu springen, ihm seinen Sack abzunehmen und den ganzen Inhalt vor unsern Lesern auszuschütten! O, Reichtum des Lebens, alle hatten sie geschrieben – alle in Lugau hatten sie ihrem Herzen Luft machen müssen, und alle, Homer, Shakespeare, Milton, sowie auch Schiller und Goethe, würden diesem Reichtum gegenüber die Feder haben sinken lassen müssen: welch ein Glück, daß wir den Sack und seinen Träger haben laufen lassen! Das, was wir jetzt niederschreiben, schreiben wir nur ab. Es hat uns im Original vorgelegen; wir haben nichts von dem Unsrigen hinzugetan und also auch weder der Poesie noch der Philosophie gegenüber irgend eine Verantwortlichkeit dafür auf uns geladen. So können wir, so wenig wir den Meltau in die Welt hineingebracht haben, irgend etwas dafür, daß auch diesmal nur eine alte, alte, ganz alte Geschichte von neuem zu Tage kommt. –

»Herrn med. Dr. Ulrich Nädelin, Stuttgart.

Lieber Alter!

C. Cornelii Taciti Jahrbücher vom Ausgang des göttlichen Augustus an – sechstes Buch, sechstes Kapitel: Was ich Dir jetzt schreiben werde, wie ich es Dir schreiben werde und was ich Dir alles lieber nicht schreiben werde – alle Götter und Göttinnen mögen mich strafen, wenn ich es jetzt, in diesem Augenblick, wo ich die Feder aufnehme, weiß! Ich ging aus, eine Eselshaut zu suchen, und siehe, auch mir ward ein Büchlein dargereicht, und ich hörete eine Stimme: ›Nimm hin und verschlinge es; es wird Dich im Bauch grimmen, aber in Deinem Munde wird es süß sein wie Honig.‹ Offenbarung St. Johannis, des Theologen, zehntes Kapitel, Vers neun. Und so ist es geschehen. Ich sitze noch immer bei den Nonnen von Lugau, meinen Kodex des Sachsenspiegels habe ich noch immer nicht gefunden, und das grimmet mich wenig; aber das Büchlein, geschrieben in Gold und Silber, mit buntesten Wunderbildern der Welt ausgezieret, so mir gegeben wurde zum Verschlingen, das habe ich verschlungen, und es grimmet mich sehr im Bauche, und das ist lange nicht so schlimm, als daß es mir sehr süß, viel süßer denn Honig in meinem Munde ist! Menschenkind, was hat die Poesie des Lebens im Monat Juni dieses Jahres der Gnade 1870 für Ansprüche an mich gemacht! wie hat mich nach Deiner Versfertigkeit und Reimkunst gelüstet, und wie hab ich Dich beneiden müssen um Deine immer bereite Leier! Sie sind nämlich hier der festen Überzeugung, jedem von uns da bei Euch fließe das nur so heraus in harmonischen Wellen, was ihm das Zwerchfell spanne, und jeder schlage die Laute zu seiner Daseinsangst und -wonne und schlage nachher Kapital aus seinem Pumpwerk, das heißt, beschwindele den Freiherrn Cotta von Cottendorf um die Druckkosten. ›Den Rädele sollten Sie kennen, meine Damen‹, hab ich gesagt, ›der kann's; aber der Meyer kann nur den Schwabenspiegel emendieren, und wenn ihm hier die Geschichte zu arg und das Herz zu voll und ihm sein ganzes Dasein selbst zum Gedicht wird, stumm in Ihrem Zauberwalde verloren gehen, aber der Satan soll den holen, der ihn im Schwäbischen Merkur als Verschollenen ausschreibt und in Ihrer himmlischen Wildnis nach ihm suchen läßt.‹

So hab ich mir denn, so gut es ging, durch den Ludwig Uhland geholfen, und an den Rädele schreibe ich heut und hör ihn sagen: ›Spinnen tat der Kerl schon immer, aber jetzt ist's aus und er reif für Winnental. Natürlich haben sie ihn mir dort verrückt gemacht bei den Borussen und Borussinnen.‹

Ja und nein, lieber Bruder! Entrückt wäre wohl das rechte Wort. In Banausien aufgehoben, entrückt in das Preußen-, Muß-, und Bettelpreußenland und abgesetzt – niedergesetzt auf Kepplershöhe, in Kloster Lugau, das deutsche Vaterland mit allen Mistbeeten, aber auch allen Melonen drauf – rund um sich her.

Nach Wittenberg vom Schicksal verschickt zu werden, um in Kloster Lugau die Tante Euphrosyne und Kepplershöhe zu finden! Und mit der Tante Euphrosyne Kleynkauer die, von der schon vor einem halben Jahrtausend von einem andern geschrieben worden ist:

›Da ist ein Gott, stärker denn ich; er kommt und wird über mich herrschen.‹

Und weiter:

›Weh mir Armen, denn von nun an werde ich häufig gehemmt sein!‹

O Dante Aldighiero, o Beatrice Portinari! O Eberhard Meyer, o Eva Kleynkauer! O holder Maientag 1274! O erster Pfingsttag 1870! . . .

›Da er sich im Kartoffelschnapslande aufhält und wir noch im Juli dieses Jahres sind, kann ich's nicht auf den Neunundsechziger Neuen schieben, also bleibt es bei Winnental. Demnächst schicken sie ihn uns unter ärztlicher Aufsicht oder schreiben, daß wir ihn uns in der Zwangsjacke holen,‹ wird der Nädele sagen. ›Es ist kein Zweifel!‹ wird er mit einem Faustschlag auf den Tisch hinzufügen.

Nein, Ulrich, es ist kein Zweifel! Stelle Dir einen Menschen vor, der Durst hatte und den man unter den Rheinfall von Schaffhausen stellte: nachher hast Du Deinen Freund in seiner Betäubung durch alle die Wunder, so er in Wittenberg auf der Jagd nach dem Sachsenspiegel und hiesigen Orts in der Bücherei der Nonnen von Lugau, ihrer Kirche, ihrem Klostergarten, in ihren Wäldern und auf ihren Bergen erleben sollte. In der Bücherei habe ich statt des Eike von Repkow meine Tante Euphrosyne, meine wirkliche, wahrhaftige, seit hundertfünfzig Jahren mir zueignende Tante Euphrosyne Kleynkauer, gefunden. Von Kepplershöhe, der Gründung meines großen Ahnherrn in Wittenberg, ist sie niedergestiegen, ihr Testament unter dem Arm und meine ewige Seligkeit, mein zeitliches und ewiges Verderben an der Hand. Eva heißt sie, die vor fünfhundert Jahren Beatrice Portinari hieß, und verlobt ist sie natürlich auch mit Signor Simone dei Bardi: Doktor Eckbert Scriewer heißt heute der Lausbub, und in Wittenberg nennen sie ihn den blonden Eckbert, und wir haben ihn seit acht Tagen auch hier in unserm Kloster; er soll mir helfen (Er, Er, Er!), den Wittenberger Kodex des Sachsenspiegels wiederzufinden und den Tübinger Schwabenspiegel zu emendieren. – Mir, mir, mir helfen, Ordnung hier bei den Nonnen von Lugau zu stiften! Herrgott, Dir mein Verlangen brieflich deutlich zu machen, ihn – ihn – vor die Klinge zu nehmen und ihn nicht bloß zu emendieren, sondern ihn ganz durch- und aus der Gelehrtengeschichte herauszustreichen, das wäre freilich eine Kunst! Wenn das Mädle nicht wäre und die Tante Augustine und die Gräfin Laura und die Frau Oberin, die Frau Domina, und alle die Verhältnisse, die Verhältnisse – ja die Verhältnisse: so hätt' ich ihn auch schon verhauen, und die göttliche Komödie wäre wieder mal fertig, Hölle und Fegefeuer hätten wir hinter uns, und von Kepplershöhe aus könnte ich Dir – einen verständlichen Brief schreiben aus dem Paradiese, aus meinem Paradiese, aus einer Welt des Segens und der Fülle, von der ich wahrlich keine Ahnung und keinen Begriff hatte, da ich mich aufhub aus Tübingen, das deutsche Landrechtsbuch auch nach Sechsundsechzig noch einmal rechts und links vom Main, wenigstens für liebe Mittelalter, zurechtzurücken.

Ach wehe, das andere Büchlein, das mir zum Verschlingen dargereichet wurde, ist mir freilich süß auf der Zunge, aber es grimmet mich im Bauche! Nach Kepplershöhe in Wittenberg brauche ich nur die Hand auszustrecken, und meine Tante Euphrosyne legt mir die Verschreibung hinein, die mir ihren Besitz mit allem, was dazu gehört, für Kinder und Kindeskinder in saecula saeculorum verbürgt. Aber mit meinem Herzblut würde ich wohl das Pergament gegenzeichnen müssen. Die bleiche Jungfrau im Klostergarten hat dem blonden Eckbert ihre Hand verpfändet, und ihren Hochzeitsglocken vom Turm des Ahnherrn aus, mit der Tante Kleynkauer am Arm, zuhören zu müssen, das bringe ich nicht fertig, und wenn mir unser Herrgott den ganzen norddeutschen Bund mit auf den Teller legt.

Wehe mir Armen, denn von nun an werde ich häufig gehemmt sein! Was hülfe es mir, wenn ich heute abend bei Nacht und Nebel von hier wieder durchginge und es versuchte, die letzten Wochen meines Lebens für einen Traum zu nehmen und bei Euch Philistern in Gad, Gaza oder Askalon, in Stuttgart, Tübingen oder Heilbronn als namenloser Königlich Württembergischer Rechtskonsulent vor dem nordischen Zauber unterzukriechen, mich zu verkriechen? Kerle, liebster, bester Freund! Ja, Nädele, wie bald brächtest auch Du mich da mit Deinen dummen Fragen: was mir denn dort eigentlich bei den Preußen passiert sei? zur Verzweiflung und mit dem Strick um den Hals an den nächsten besten Nagel an der Wand!

Zu spät gekommen! O und was für einem öden, nichtigen, gescheuten Burschen gegenüber mit seinem Lebensglück zu spät gekommen zu sein! Den ganzen Morgen durch habe ich den Gesellen mir wieder in der Bibliothek der Nonnen von Lugau zur Hand gehen lassen müssen bei der Suche nach meinem Kodex, und seinem Lächeln gegenüber nichts im Kopfe – im Kopfe und Herzen umwenden können, als den Wunsch nach einem Universalbrechmittel, nicht bloß mir, sondern der ganzen Menschheit diesen Bandwurm abzutreiben.

Schriftlich kann ich heute nichts weiter hierüber abgeben; also demnächst in Stuttgart in Deiner Zelle oder in Winnental in der meinigen das Weitere mündlich.

Dein Freund Eberhard Meyer.

Kloster Lugau, 5. Juli 1870.«


»An die Frau Kirchenrätin Scriewer in XXX.

Kloster Lugau, 5. Juli 1870.«

Liebe Mutter!

So nüchtern als möglich zur Sache und bei der Sache. – Deine Freundin, Fräulein von Kattelen (Gott segne ihr liebes Herz!), hatte ganz richtig gesehen: es war notwendig, daß ich hierher kam, um selber zu sehen und nachher vor allen Dingen mit Dir zu überlegen. Ich bin gekommen, habe gesehen und das volle Bewußtsein gewonnen, für das ganze Nest sehr überflüssig zu sein und doch zugleich für alle mehr oder weniger eine Hauptperson in hiesiger klösterlicher Tragikomödie darzustellen. Mir kann ich auch diesmal nur das Zeugnis geben, daß ich vollkommen unbefangen über den Dingen stehe. –

Meine arme Kleine habe ich gottlob recht wohl gefunden. Die Lugauer Luft ist ihr bekommen, wenigstens bis zu meiner Ankunft. Das liebe Gesichtchen! Leider hat sich wieder so etwas, wie man hier sagt, so etwas wie ein melancholischer Schleier darüber gelegt, seit – meiner Ankunft! Beiläufig, beträfe mich das Ding nicht so sehr persönlich, so könnten alle die verstimmten Gesichter um mich her mir im höchsten Grade scherzhaft erscheinen. Nun, zu ernsthaft wollen wir die Sache unter keinen Umständen auffassen. Daß mein Bräutchen einen unausgesprochenen, aber desto tieferen, wenn nicht gefühlten, so doch geahnten Widerwillen gegen ihr Glück hat, dafür kann ich für mein armes Teil nichts; aber darüber bleibt mir leider kein Zweifel, mein kluges Mamachen, daß es sehr Zeit wird, unter den jetzt obwaltenden Umständen zu überlegen. So weit bleibe ich gewöhnlicher Alltagsmensch, daß ich allgemach anfange mich zu ärgern. Nicht über mein süßes, armes Liebchen, nicht über die impertinente boshafte Bestie, die gute Tante Euphrosyne, nicht über das über Kloster Lugau und auf Kepplershöhe heruntergefallene Mondkalb, den Herrn Vetter Meyer aus Schwaben, sondern über mich, über mich selbst und ein wenig über Dich mit, mein fürsorgliches, schlaues Herzensmütterchen!

Sollten wir uns nicht doch ein wenig übereilt haben? Sollte nicht, nachdem das Herz sich zur Genüge ausgesprochen hat, jetzt, solange es noch Zeit ist, auch der Kopf ein wenig mitreden dürfen? Und in diesem Falle, sollte mir da nicht dieser sentimentale schwäbische Sachsenspiegelflegel gerade zu unserem Besten mit seinen konfusen Gefühlen und seinen nichtsnutzigen Aussichten auf Kepplershöhe vom Schicksal hierher nach Lugau geschickt worden sein?

Mit einem insolventen Schwiegervater, einer Närrin von Schwiegermutter und einem kränklichen, kindischen Weibe auf dem Nacken, Wittenberg unter sich, aber die Tante Euphrosyne Kleynkauer über sich auf der Kepplershöhe, sich an einer deutschen Professorenherrlichkeit im dritten Stock, mit dem Fenster der Studierstube nach hinten hinaus, genügen zu lassen und zwar für unabsehbare Zeit: wäre das die ganze Herrlichkeit, für welche Du Dein armes Kind auf alle vier Wege der Welt gestellt hast und für welche der Doktor der Weltweisheit Eckbert Scriewer seinen Weg durch eben diese wundervolle Welt angetreten hat?

Und gerade jetzt? – Welch eine Zeit jetzt für einen klaren Kopf und ein ruhiges Herz! . . . Liebe Mutter, wenn ich Wittenberg abschüttelte und nach Wien ginge? Ist es der Gipfel des Lebens, sich gleich meinem Exgönner, dem Dummkopf Franz Herberger, von Wittenberg einen Spitznamen aufhängen zu lassen und daselbst als ›Horatio‹ gewohnter Weise recht bescheidenen wissenschaftlichen Privatliebhabereien nachzugehen? Daß ich schon jetzt, ohne meines Wissens etwas dafür zu können, dort als ›blonder Eckbert‹ aus dem nur der Tante Euphrosyne noch persönlich und aus seinen Büchern bekannten Hofrat Ludwig Tieck (und also wahrscheinlich auch nur durch ihre Güte) herumzulaufen habe, genügt mir selbst episodisch vollkommen.

Gegen einen Bruch mit Eklat bin ich durchaus. Dazu ist meine Position auch jetzt noch immer zu gut, nach allen Richtungen, Interessen, Gefühlen und Stimmungen hin. Ein ruhiges Sichversumpfenlassen der ganzen Angelegenheit wäre dem, fürs erste wenigstens, bei weitem vorzuziehen. Haben wir nicht die Welt im Frieden vor uns? Welch ein halcyonisches Blau über Kloster Lugau, wie grün die Gärten und Wälder und wie grün die lugauschen und wittenbergschen Herrschaften, die da meinen, dem blonden Eckbert, das heißt dem Doktor Eckbert Scriewer, so leicht sein Lebenskonzept in Verwirrung bringen zu können! Lassen wir uns also Zeit! Mir eilt es durchaus nicht, den Codex Lugaviensis des Sachsenspiegels für den Herrn Vetter aus Schwaben zu finden, diesem Kepplershöhe zu überweisen und, bloß um die Tante Euphrosyne weiter zu ärgern, Fräulein Eva Kleynkauer für ferneres Gut und Böse sofort vor den Altar, sei es in der Klosterkirche zu Lugau, sei es in der Universitätskirche zu Wittenberg, zum Ringwechseln zu führen. Übrigens liegt mir die verruchte alte Schwarte sicher und handgerecht genug; aber freilich nicht in der Bücherei der Nonnen von Lugau. Glück müssen die Götter dem Menschen geben, sagte nicht bloß der scheußliche römische Diktator Sulla, sondern auch unser herrlicher Friedrich von Schiller. Eigenes Verdienst war auch diesmal nicht dabei, sondern nur der Segen von oben, der uns überall, im großen und kleinen, wo es sein soll, das Siegel der Macht auf die Stirn drückt. Ja, solche Scherze erlaubt sich das Schicksal, um seine Lieblinge in den Ratlosigkeiten des Erdendaseins bei gutem Humor zu erhalten! Einem wackelnden Kleiderschrank in dem mir hier angewiesenen Schlafgemach haben die Nonnen von Lugau ihr Cimelium anstatt des mangelnden linken Vorderfußes untergeschoben. Da kann der Herr Vetter aus Schwaben lange danach suchen. Ungestraft wird er sicherlich nicht Erbe von Kepplershöhe! Imponiert hat mir bis jetzt im Kloster Lugau nur die jüngste der Schwestern, draußen im Säkulum, das heißt unter den Narren in Wittenberg, als ›Ophelia‹ umgehend – Gräfin Laura Warberg. Das Mädchen gefällt mir und hält jedenfalls noch mehr Fäden in ihrer Hand zusammen, als die Leute glauben. Ich kann es nicht leugnen, daß mir diese hübsche, feiste, blonde, maulträge Person mit ihren Pallas-Athene –, das heißt, Eulenaugen schon mehr als einmal den harmlosen Verkehr mit den andern alten, jüngeren und jungen Kindern recht unheimlich gestört hat. Demnächst mehr und hoffentlich Erfreuliches auch hierüber. Beste Grüße an Papa und die Brüder und Schwestern. Ich habe wohl nicht nötig, Dir, Mama, noch einmal ans Herz zu legen, daß diese Mitteilungen nur für Dich sind und keinem andern vor Augen kommen dürfen.

Dein treuer Sohn Eckbert.«


»An die Frau Oberkonsistorialrätin Kleynkauer in Wittenberg.

Liebe, liebe Mama!

Meine liebe, liebe Mama, hilf mir! Ich schreibe ja nur in so großer Angst an Dich, und verzeihe mir, daß ich diesen Brief an Dich schreibe und Dir vielleicht noch mehr Kummer mache. Aber ich kann mir ja nicht selbst und allein helfen in meiner Angst. Habt mich lieb, behaltet mich lieb, Mama! Du und der liebe, gute Papa; laßt mich Euer Kind bleiben trotz des großen Kummers, den ich Euch machen muß! Laßt mich bei Euch bleiben, wie als Euer armes kleines Kind. Holt mich wieder zu Euch und helft mir in meiner Angst und Not. Ich kann mir in dieser Welt nicht mehr helfen, und wie ich das recht an Euch schreiben soll, weiß ich auch nicht. Ach, was soll aus mir werden, wenn Ihr mich nicht Euer Kind bleiben laßt? Die Welt ist zu groß und weit und, ja, auch zu schön für mich; o, laßt mich zu Euch zurückkommen! Ich möchte ja keinem im Wege stehen, und Dir, liebe, liebe Mama, ganz gewiß am wenigsten. Ach, wenn Ihr doch wieder ein dunkles Winkelchen für mich hättet in Eurem, unserem guten alten Hause, in welchem sich keiner um mich kümmerte, als nur der Papa und Du, liebe, liebe Mama! Auch an diesem Briefe seht Ihr, und weil ich auch sonst in der Schule nie weiter gekommen bin, daß ich in das schöne große Leben nicht passe; ich weiß ja auch heute, wo ich dies schreibe, nicht, wie ich es ausdrücken und schreiben soll, wie mir in meiner Angst ums Herz zu Mute ist; auch hier in dem schönen, lieben Lugau, wo sie wieder alle, alle zu gut mit mir sind und vor allen jetzt auch Eckbert. Ihr wißt ja wohl besser als ich, daß er hier auch die Bibliothek ordnen soll, die sehr in Unordnung ist und worin das große Wunder passiert ist, daß die Tante Euphrosyne darin in einem fremden gelehrten Herrn ihren Herrn Vetter entdeckt hat, der auch ein altes Manuskript darin suchte und es nicht finden kann. Der Herr Doktor Meyer wohnt im Dorf beim Förster Gipfeldürre; aber Eckbert wohnt im Kloster selbst, und er ist auch so sehr freundlich und besorgt um mich; ach, wenn ich seiner nur wert wäre! Er steht ja so hoch über mir mit seinen edlen, schönen Gedanken und Plänen und Aussichten für das Beste aller Menschen auf Erden, und Fräulein von Kattelen, die Dich herzlich grüßen läßt, Mama, hat auch schon mit mir darüber gesprochen, daß ich auch das Meinige tun müsse, um mir mein großes Glück zu verdienen und zu erhalten durch völliges Verstehen und Aufgehen in Eckberts Gedanken und Absichten. O meine liebe, liebe Mama, wenn mir gerade das nur nicht so sehr das Herz abdrückte in so entsetzlicher Angst! Wenn ich ihn nur verstände, wie er es wert ist; wenn ich ihm nur gleich in allem und zu allem, was er sagt, aufwärts folgen könnte! Mama, ich kann ja nichts dafür; aber nun muß ich auch hier in Lugau immer darauf achten, ob ich ihm auch keinen Ärger und Überdruß verursache. Ihr, liebste Eltern, und die Tante Euphrosyne habt mich ja so verwöhnt, daß ich vor keinem Eurer Blicke, wenn ich zufällig darauf merkte, zu erschrecken brauchte, – Mama, und wenn ich Dir auch noch so viel Verdruß und Kummer gemacht habe, hast Du mich doch immer nur in Deinem Herzen und nicht als Deine Mitarbeiterin bei den größesten und besten Plänen fürs Wohl der ganzen Menschheit gehalten – aber jetzt vergehe ich daran, weil ich gewiß weiß, daß ich eines, den ich bis über den Tod lieb haben soll, nicht würdig bin, und auch bloß dieses allein hat mich den letzten Winter durch zu Deinem Kummer, arme Mama, so kränklich und unerträglich gemacht.

Ich bin ja wohl zu lange des Papas und der Tante Euphrosyne Spielkind gewesen und wußte deshalb nichts von mir und von der weiten schrecklichen Welt um mich herum; aber nun weiß ich es und muß es sagen, wenn ich auch daran sterben werde. Ich bin Eckbert nichts und kann ihm auch als seine Frau nie etwas sein! Er, der alles weiß, hat sich nur hierin getäuscht. Ich kann ihm nichts sein in seinem Leben als eine Last! O könnte ich doch deutlich machen, wie ich das jetzt so deutlich fühle. Ihr würdet gewiß Mitleid mit mir haben und mich als Euer Kind bei Euch bleiben lassen, und, liebe Mama, wenn es Dir nicht recht wäre, so wollte ich auch niemals aus Eurem Hause gehen, auch nicht zu der armen, guten Tante Euphrosyne nach dem Universitätsplatze oder Kepplershöhe. Wäre die ganze Welt nicht wie eine heiße Feuerflamme um mich her, so wäre ich wohl auch nicht so schlecht und wünschte, daß Lugau noch ein katholisches Kloster wäre und ich darin eingekleidet wie in alter Zeit; oder daß ich schon begraben läge hier auf unserm Kirchhofe bei den andern toten Schwestern seit tausend Jahren. Es ist ja so wunderschön hier und alle so lieb und gut gegen mich und nur das Schreckliche, daß ich desto mehr erkenne, daß ich zu nichts passe und brauchbar bin. O wäre ich doch noch Euer kleines Kind! Es ist ja so schrecklich, wenn man sich selber sagen muß, daß die liebe Sonne und die Berge und Wälder und die lieben Menschen, alles, alles für die Freude und Dankbarkeit von jedem da sind und man sich selber so unwürdig und undankbar für sie vorkommen muß. Bitte, bitte, lieber Papa und liebe Mama, nehmt es mir nicht übel, daß ich auch nicht einmal weiß, wie ich das alles besser an Euch schreiben sollte, sondern nur, wie es mir ums Herz ist. Werdet nicht böse, sondern behaltet mich lieb! – Ich weiß es ja nur zu gut, wie böse ich bin. O vergebt mir, daß ich mir in der Welt nicht zu helfen weiß! Zu wem soll ich denn gehen in meiner Ratlosigkeit als zu Euch? Ach, wenn Ihr wüßtet, wie elend ich mich fühle, so würdet Ihr mich trotz dem Kummer, den ich Euch mache, nach Hause kommen lassen und dem armen Eckbert schreiben, daß ich nichts zu seinem Glücke beitragen könnte, aber ihm doch das schönste wünschte. Ich könne ja nichts dafür, daß er sich in mir geirrt habe und ich mein ganzes Leben durch zu dumm und kindisch und unverständig für ihn und seinen hohen Geist und seine Aussichten und Bestrebungen bleiben werde. Bitte, bitte, vergebt mir; vergebt Eurem Kinde, Eurer armen

Eve.«


»Sr. Exzellenz dem Herrn Wirkl. Geh.-Rat, Hausminister von P . . . . . . in X.

Kleinkinderbewahranstalt Lugau, 5. Juli 1870.

Teurer alter Freund! Ich sehe noch das Lächeln und höre noch den Seufzer, mit welchem Sie an meinem einundzwanzigsten Geburtstage sich symbolisch die Hände über mich wuschen. ›So! Gott sei's gedankt, so weit wären wir denn, Mädchen, und die Verantwortlichkeit wenigstens nach der juristischen Seite hin vom Halse los!‹ Sie schienen wahrhaftig mit einem Theaterkuß auf die Stirn Ihre Vormundschaft über mich abschließen zu wollen, aber nur einen Augenblick lang! Wer an Ihrem Halse hängen blieb und wen Sie in Ihren treuen Armen behielten, und zwar bis heute, bis nahe an ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag (die Zahl schreibe ich nicht ohne Grund mit Buchstaben!), das war die Laura Warberg. Der alte Mann von der See hing dem Seefahrer Sindbad nicht fester auf dem Buckel, als Ihre dicke Laura Ihnen von den ersten Kinderunarten an bis ins nichtsnutzige Altjungferntum hinein. Die Theaterträne, die von Rechts wegen hier auf diesen Brief an Sie, Exzellenz, fallen müßte, die fällt vielleicht im bittersten Ernst auf einen andern, den ich nach diesem schreiben werde. Ich schreibe auch an Franz, mein väterlicher, mein bester Freund, und ich schreibe diesem Doktor Herberger, daß er kommen möge, um Sie endlich ganz zu entlasten und mich Ihnen aus den Händen zu nehmen. In Ihrem Herzen wird er mich ja wohl lassen müssen – dürfen, mein Vater? Sterben würde ich ja wohl nicht, wenn dem nicht so wäre; aber was für eine Frau, was für – endlich noch – ein Eheweib ihm aus Ihrem armen, dummen, unzurechnungsfähigen Mündel ohne Ihre fortdauernde Anteilnahme und Erziehungstätigkeit zugewachsen wäre, davon lieber jetzt nichts mehr.

Bleiben wir bei der Hauptsache! Auch Lugau liegt hinter mir; es war gottlob die letzte Station vor der außerordentlichen Professorin der Weltweisheit; und daß ich mit heiler Haut so weit bin, wem habe ich das zu danken? Außer meinem, wie Sie sich dann und wann auszudrücken beliebten, dicken Fell, nur Ihnen, Ihnen, mein wirklicher, wirklicher, teuerster geheimster Rat! denn was Franz dazu tun konnte, das fällt doch auch zum größten Teil unter Ihren Schutz und Schirm, mein Vater! Wer hat mich gelehrt, meine Lebenstragikomödie, -historie, -pastorale usw. usw. als armes Waisenmädchen, Pensionsfräulein, Hof- und Weltdame als ein ehrlich Mädchen durchzuführen und das Publikum, wie sich's gebührt, zum Narren zu halten? Seiner kophtischen Weisheit, Geheimrat von Goethes Exzellenz wirklichster Lebens- und Lebenskunst-Genosse, – Sie, mein Vormund und Vater! Beugen Sie nur lächelnd Ihr würdiges, siebenzigjähriges Haupt über die Tatsache, daß Sie als junger Legationssekretär auch für mich in dem Hause am Frauenplan in Weimar zu Gast gewesen sind und dort gelernt haben, den Dingen und Metamorphosen in dieser Welt gelassen zuzuschauen. Wieviel von Ihrer schönen Ruhe haben Sie schon auf Ihr armes, vordem so zappeliges Mündelkind und den melancholischen Franz übertragen. Sie werden auch morgen, wenn dieser Brief in Ihre Hände kommt, nicht die Hände überm Kopfe zusammenschlagen, sondern sie höchstens etwas fester auf dem Rücken ineinanderlegen mit einem ›Hm, da hätten wir endlich den Intermaxillarknochen!‹ –

Wir haben es beide redlich und treu ausgehalten, das letzte Jahr innerlicher Prüfung und Sammlung – Franz in Wittenberg, ich in Lugau; und das letzte Zögern wird uns wohltun auf dem Wege, den wir nun zusammen gehen werden. Es hat uns fester als irgend welcher Sturm und Drang früherer Tage verknotiget für das uns noch übrig gebliebene Erdenleben. Wir sind nun unserer sicher und die bittersüßen Zeiten der Ratlosigkeit und des Zweifels vorüber. Wir werden als ein sehr ruhiges, behagliches, wunsch- und willeloses Ehepaar Madame Toutlemonde hinter uns drein gaffen, grinsen – und neiden lassen: Doktor Herberger und Frau empfehlen sich ganz gehorsamst den Herrschaften, sind jedoch fürs erste darauf beschränkt, zugedachte Glückwünsche und Beileidsbesuche als empfangen betrachten zu müssen usw. – Exzellenz (o, wenn ich Sie doch bei diesem Wort recht tüchtig abküssen könnte!), sagen Sie doch Seiner Hoheit, unserm jungen Freund und Zögling, noch einmal, und zwar jetzt herzlicher denn je, von unserer Teilnahme an seinem Wohl und Wehe. Der gute Knabe! Wie gern ich ihn zu meinen Füßen sitzen hatte, um ihm seine ersten Studien ritterlicher Frauenverehrung mütterlich zu beaufsichtigen und ihm seine Lektionen zu korrigieren! Wie lieb er mich hatte und ich ihn! Nun, auch er ist ja nun versorgt, gut versorgt. Ich kenne seine demnächstige Frau ziemlich genau, wie Sie wissen, Papa. Sie schickt sich vortrefflich zu ihm und wird dermaleinst eine Landesmutter, wie sie nicht bloß in den Zeitungen herumfährt, sondern bei ihren nächsten Freunden und Freundinnen als solche angeschrieben stehen muß.

Doch nun zur Hauptsache, mein väterlicher Freund. Also, wir werden uns wieder einmal aus den Hintertüren hinaus und hinter den Leuten wegschleichen, Franz in Wittenberg und ich in Kloster Lugau, um wieder einmal unsere eigenen Wege, oder besser diesmal zusammen unsern eigenen Weg zu gehen. Und da, soweit sich das aus dem Lugauer Klostergarten und Klosterfrieden beobachten läßt, der politische Himmel nur die gewohnte leichte Bewölkung zeigt und der herrliche Baldachin, Ihr hofgesellschaftliches Firmament, vollkommen rein ist, so hindert Sie, mein Vater, nichts, dasselbe zu tun, will sagen sich gleichfalls aus der Hintertür zu schleichen und mit Ihren armen, glücklichen Kindern im September auf dem Kapitol im Palazzo Caffarelli sich ein ernstes und doch fröhliches Stelldichein zu geben. Sie – Sie – Sie geben da die alte verjährte Braut weg auf dem Schutt der Vorwelt, o, und wie werden Franz und Laura Ihnen Treue halten in ihrem jungen Glück und doch noch durch schöne Tage und Jahre die lieben weißen Locken mit jugendlichem Grün bekränzen! Es kann ja nicht anders sein: wir haben noch das Beste vom Leben vor uns; aber nichts darin ohne Sie, Vater, Freund und Vormund! Ihre Kinder begnügen sich nicht mit einem in ein dürres ›Lebt wohl!‹ verkleideten ›Geht meinetwegen!‹ des Königs Thoas. Nein, Sie, mein Vater, gehen mit, Sie kommen mit uns. Wir werden noch gute, schöne, nützliche Tage mitsammen verleben und vor allen Dingen ruhige!

Die Berge sehen seit tausend Jahren auf Lugau, und Laura Warberg sieht heute über ihren Briefbogen weg auf die blauen Berge und hinein in eine weiteste, blaueste Ferne. Exzellenz, die Welt ist gar so übel nicht; man muß sich nur hineinzufinden und sie zu nehmen wissen. Wer hätte dazu wohl aber je einen bessern Berater, Führer und Lehrmeister gehabt als Ew. Exzellenz gehorsamste Dienerin und Schülerin? Behalten Sie mich ferner lieb; zur Eifersucht ist kein Grund, wenn zu allem übrigen Guten jetzt doch noch einen guten Mann kriegt

Ihre arme treue Laura Warberg.«

 


 


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