Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Sechstes Kapitel.

Die da schlafen konnten und durften, schliefen alle in Wittenberg; also auch der Hofrat Herberger und die Tante Euphrosyne. Aber nicht alle durften und konnten schlafen.

In verschiedenen Kneipen war es noch hell. Von den Krankenzimmern wollen wir nicht reden; aber der und der Professor hatte noch Licht, und der und der seiner Zuhörer ebenfalls: die einen, weil sie es suchten, die andern, weil sie es brauchten: die einen, weil sie hinter, die andern, weil sie vor dem Examen standen.

Auch in dem Hause des Professors Oberkonsistorialrats Kleynkauer war noch Licht. Der Herr Professor selber schlief zwar und leuchtete also nicht. Auch die Gattin an seiner Seite wußte augenblicklich nichts von sich und ihrer Stellung zur Welt und der der Welt zu ihr. Das Auge, das alles sieht, sah sie augenblicklich im Dunkel der Nacht auch nur als ein gut strebend Mütterlein mit den besten Intentionen für Gatten und Kind – der Weltrichter hielt sich sicherlich am jüngsten Gericht an diesen sorgenvollen Altweiberkopf auf dem nächtlichen Kopfkissen und nicht den mit den Tages-Zähnen (die standen in einem Wasserglase auf dem Nachttische) und den Tages-Locken (die hingen auf einem Haubenstock unter dem Spiegel). Was hätte der Weltrichter zu sühnen, wenn er die Sünden und Verbrechen der Mütter für das Fortkommen der Ihrigen in seiner Welt bestrafen wollte!

Sie schliefen alle im Hause des Oberkonsistorialrats, bis auf diejenige, welche gerade im tiefsten, traumlosesten, gesundesten Kinderschlaf hätte liegen sollen: Fräulein Evchen Kleynkauer. Und welche Vorsichtsmaßregeln hatte die angewendet in ihrem Stübchen, um die schlimme Welt da draußen nicht wissen zu lassen, daß sie es war, die so spät in der Nacht und so früh am Morgen allein noch Licht im Hause hatte!

Des Schlüssellochs hatte sie sich natürlich zuerst versichert; denn eine Mama – auch die der Braut von Korinth – verwundert sich, nachts durch den Korridor schleichend, zuerst nicht bloß, sondern sieht rücksichtslos sofort nach, was denn das bedeuten soll, und verbittet sich dringend fürs künftige alle solche Dummheiten. Fiel durch das Schlüsselloch kein verräterischer Strahl auf den Gang, so leuchteten die von den Salonleuchtern zusammengestohlenen Lichtstümpfchen nach der Gasse hin noch weniger. Dafür hatte die Kleine schlau gesorgt, indem sie einen großen Schulatlas aufgeschlagen um ihr zierliches Bronzeleuchterchen aufgebaut hatte. Die alte Welt nach Mercator zu ihrer Linken, die neue zu ihrer Rechten, saß Eva, den Kopf in beiden Händen, nicht etwa vor ihrem Tagebuch, sondern vor dem, wenn auch ungedruckten, so doch für den Druck zu Papier gebrachten letzten »Vortrag« ihres Verlobten in der »Kalokagathia« und dem denselben begleitenden Widmungsbrief. Den Vortrag kennt jeder, der ihn seinerzeit angehört hat, das heißt, er ist jedem in der Erinnerung vom eigenen Anhören her dunkel gegenwärtig und kümmert keinen. Der Begleitbrief kümmert uns sehr.

»Mein teures Mädchen! Indem ich Dich bitte, das beifolgende unbedeutende Produkt meiner geistigen Tätigkeit als ein bescheidenes Zeichen meiner herzlichen Zuneigung entgegenzunehmen, benutze ich die Gelegenheit, Dir schriftlich inniger (ich hätte sonst die kleine Arbeit Dir persönlich überreicht) die schmerzliche Tatsache zu formulieren, daß ich mit Deiner – unserer lieben Mama der trüben Gewißheit bin, daß nicht alles so zwischen uns ist, wie es sein sollte. Erschrick nicht zu sehr über das anscheinend harte Wort: mein Herzblut würde ich hingegeben haben, wenn ich es Dir, wenn ich es uns hätte ersparen können. Ich bin hier nur der Meinung unserer lieben Mutter, Deiner so herzensguten, verständigen Mama, daß es unbedingt notwendig war, um für unser beiderseitiges Lebensglück, und nicht bloß für diese Zeit, einen festen, sicheren, einen unerschütterlichen Grund zu legen.

Mein armes, gutes Kind, wir leben leider nicht in einer Märchenwelt: nicht in der Märchenwelt, in welcher Du teilweise aufgewachsen bist; ich brauche wohl nicht zu sagen, unter welchen, auch Deiner teuren, verständigen Mutter durchaus nicht genehmen Einflüssen. Das wirkliche Leben ist ernst, meine geliebte Braut! Wer seinen Pflichten gegen den Schöpfer, die Welt und sich selbst in der rechten Weise nachkommen will, der legt sich von jeder Stunde seines Daseins mit tiefem Ernst Rechenschaft ab. Tust Du das, mein Kind? – Ich nenne Dich Kind an dieser Stelle, in der vollen Bedeutung des Wortes, und indem ich mich in Deine liebliche Kinderseele ganz versetze, beantworte ich besorgt und bangend die Frage mit: Nein! – Mein holdes Mädchen, Du durchträumst die Stunden, die Du durchwachen solltest. Du legst nicht an jedem Abend Dir unter dem Auge der Vorsehung die Frage vor: Habe ich den Tag dem Zweck entsprechend durchlebt? Und tätest Du es, so würdest Du sie leider nur selten mit einem herzlichen Ja beantworten können.

O meine Verlobte, wie ich mich eben in Deine Kinderseele versetze, so versuche es doch wenigstens, Dich in die meinige zu übertragen. Für Zeit und Ewigkeit haben wir uns ja miteinander verbunden, das Leben zu überwinden, und nun – gestatte mir, Deine würdige Mutter gibt mir die volle Erlaubnis, Dir nur nach einigen Seiten hin klarzulegen, wie anders die Welt ist, die wir sehen, als die, welche Deine holdselig-unschuldige Kinderphantasie Dir etwas zu weit über die natürlich ebenso liebenswürdige Kindheit hinaus in schönen, aber unwahren Farben und Bildern vorgaukelt.

Mein Herz, auf die Gefahr hin, von Dir als ein Pedant angesehen zu werden, erlaube ich mir, immer mit Billigung Deiner Mutter, das böse Wort formulieren noch einmal zu gebrauchen; und so formuliere ich:

Meine teure Eva, Du hast noch nicht über den Ernst des Lebens nachgedacht, hast noch nicht über Deine Stellung, nicht nur im Weltganzen, sondern auch in der Gesellschaft nachgedacht, wie es sich für den vom Schöpfer dazu berufenen Menschen – sei es Mann oder Weib – gebührt. Durch unsern lieblichen, vertrauten Verkehr von Herz zu Herz habe ich leider mehr und mehr zu der Überzeugung gelangen müssen, daß es nicht der Fall ist.

Der Tag geht Dir hin mit Phantasien um und über Nichtigkeiten, ohne daß Dir nur einen Augenblick die Idee kommt, daß es anders sein könnte, sollte, müßte, daß Du Pflichten haben könntest, die sich nicht mit dem Spiel mit Puppen vertrügen. Ich nenne das nämlich ›mit Puppen spielen‹, wenn ich den Tag, die Welt, das Leben und vor allem die Gesellschaft mit Deinen Augen ansehe. Es sind Kinderaugen, meine teure Braut, und Gottes Welt erfordert einen ernsteren, klareren, kühleren Blick. Wölbt sich nicht der Himmel mit seinen ewigen Fragen über Dir? Liegt nicht das durch den letzten Krieg so furchtbar zerrüttete deutsche Vaterland mit den Seinigen um Dich her und fordert uns auf, Stellung zu ihm zu nehmen?

Ich sage eben mit Bewußtsein ›uns‹; denn auch unsere – meine und Deine gesellschaftliche Stellung zu den politischen Entwickelungen des großen deutschen Vaterlandes kommt hier sehr in Betracht. Recht viele sehr persönliche Überlegungen würden an dieser Stelle seit den Ereignissen des Jahres Achtzehnhundertsechsundsechzig in Überlegung zu nehmen sein. Frage Deinen lieben Vater, frage Deine teure Mutter, wie schwer hier die Entscheidung auf ihnen lastet, wie sie von ihren Gefühlen, ihren Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten bald nach der einen, bald nach der andern Seite hinübergezogen werden. Auch wir beide, mein holdes Bräutchen, dürfen bei Gründung unseres jungen häuslichen Glückes solche Fragen nicht aus den Augen verlieren, noch weniger ihnen mit verbundenen Augen entgegengehen. Es ist dem Menschen vom Höchsten der Trieb in die Seele gelegt, in die Höhe zu streben, und – ich strebe aufwärts, nicht nur in Kunst und Wissenschaft, sondern auch in der Gesellschaft. Es ist eine Torheit, letzteres nicht für gleichberechtigt zu erklären, und ich werde hier gern trivial, indem ich das alte Sprichwort vom Fuchs und den Trauben in Anwendung bringe.

Sei überzeugt, daß ich nicht allein für mich nach dem Kranz weltlicher Ehren und Tüchtigkeit und dem damit verbundenen gesellschaftlichen und häuslichen Behagen emporschaue und greife. Dich, Liebliche, schließe ich in alle meine Anstrebungen mit ein, und gerade hieraus entnehme ich nochmals meinen herzlichen Wunsch, meine innige Bitte: Siehe mehr als bis jetzt in Dich und um Dich als meine künftige Lebensgenossin. Halte Dir stets vor, wie Deine, – unsere würdige und kluge Mama Deinem guten Vater immerdar als treueste Helferin und Beraterin zur Seite gestanden hat. Folge dieser Trefflichen und wehre Dich nicht länger gegen ihr klares Verständnis der Welt durch – wie ich leider nur zu oft zu bemerken die Gelegenheit hatte – ein Dich-Versenken in verstockten Widerspruch, in Apathie und Abulie, Unempfindlichkeit und Willenlosigkeit. Empfinde Dich in der wirklichen Welt, der Du angehörst, mein Mädchen! Habe Willen, eigenen, aufwärtsstrebenden Willen, Deiner teuren Mutter gleich, werde mir eine solche klarschauende Lebensgefährtin, wie sie Deinem guten Vater geworden ist, unterstütze mich in meinem Streben, die uns gebührende Stellung zu erringen. Was ich zu dieser ernsten Aufgabe an Dir vermisse, ist nur eine ernste, ernsthafte Betrachtung des Lebens, wie es ist. Mit tiefer Bekümmernis sehen wir, Deine Mutter und ich, wie unheilvoll in dieser Hinsicht Einflüsse, die sich wohl gewiß nicht leicht abweisen ließen, auf Dich eingewirkt haben und noch einwirken. Ich brauche nicht deutlicher zu werden, mein inniggeliebtes Mädchen, und bitte Dich nur noch herzlich, auch im Namen Deiner treubesorgten Mutter, in der Stille Deines Kämmerleins, in der Tiefe Deines unschuldigen, uns doch ganz gehörenden Kinderherzens das Ebengesagte Dir zurecht zu legen, es zu überdenken und unter den bunten, aber täuschenden Träumen und Gaukelbildern, die Dich zu verwirren streben, mit rechtem Ernst Dich mit Deiner, meiner – mit unserer Zukunft zu beschäftigen. Habe ich Dir mit diesem Brief Schmerz bereitet, so denke auch, daß ich ihn mit tiefem Schmerz geschrieben habe – schreiben mußte. In einer politisch wie religiös verworrenen Zeit steht das Glück unserer Zukunft auf dem Spiel. Kannst Du es mir verdenken, daß ich es für uns so sicher als möglich zu stellen wünsche?

Wie Du außerhalb Deines Kämmerleins Dich nach außen hin zu stellen habest, werden Kindesliebe und bräutliche Liebe Dir den richtigen Pfad zeigen. Auch Dein trefflicher Vater hat es gesagt, daß die Alten den Gott des Schweigens mit dem Finger auf den Lippen abbildeten.

Laß es unter uns bleiben, was dieses Blatt aus tiefstem Herzensinnern heraus Dir sagen will, Dir sagen mußte! Habe ich Dir in irgend einer Weise, nach irgend einer Richtung hin weh getan, verzeih in der wachsenden Gewißheit, daß nur in dem Verzichtleisten auf die Gaukelbilder des Lebens der wahre Wert des Lebens beruht. Auch mir ist es bei Abfassung dieses Briefes schmerzlich zu Mute gewesen; aber die Verantwortlichkeit, die ich für unser beiderseitiges Lebensglück auf mich genommen habe, gab mir Trost und Kraft.

Und ein schönes, ein schönstes Leben liegt noch vor uns! In dieser Hoffnung, in dieser Gewißheit auf ewig in Liebe, Treue und Zärtlichkeit

Dein Eckbert.«

Es gibt solche Briefschreiber; vielleicht sind sie aus irgend einem Grunde notwendig; aber weshalb mußten gerade unsere Eva und die Tante Euphrosyne an so einen geraten sein? Der Mama wegen brauchte das Kind diesmal bei seiner nächtlichen Lektüre das Schlüsselloch nicht zu verstopfen und die Welt, nach Mercators Projektion auseinandergezogen, um sein Lichtstümpfchen und seinen schmerzenden Kopf herum aufzubauen.

 


 


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