Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Zwanzigstes Kapitel.

Das will ich schon vor dem lieben Gott verantworten,« hatte die Tante Augustine gesagt, und die Tante Euphrosyne hatte die Verantwortlichkeit, ohne etwas zu sagen, auf sich genommen: sie hatten beide, aus gleich sorgenvollem Herzen heraus, die Kleine auch die Kirche verschlafen lassen. Und das so jung schon vom heißen Lebenstage ermüdete Menschenkind lag so totenähnlich im Arm der guten Mutter Natur, daß weder die Glocken noch der Gesang der Nonnen von Lugau es in seinem Schlafe störten, und daß es erst durch die letzten aushallenden Orgelklänge nach beendigtem Gottesdienst erweckt wurde.

Da richtete sich freilich Evchen Kleynkauer fast erschrocken im Bette auf und hatte sich erst eine geraume Weile zu besinnen, ehe es ihr wieder klar war, wo sie sich befand und was das für schöne Klänge seien und daß das Grün vor dem Fenster zu den alten Linden im Klosterhofe von Lugau gehöre und daß die Sonne, die so hell durch den Vorhang schien, nicht Wittenberger, sondern Lugauer Sonne sei.

Sie sank wie in neuer Betäubung zurück, als wie auch durch diese lieblichen, beruhigenden Klänge, Lichter und Farben neu und schwer belastet auf dem Herzen – auf dem Gewissen. Wieder ein Versäumnis! Wieder die bittere Gewißheit, mit der schönen, treuen, wohlmeinenden Welt nicht mitgehen zu können – zu kindisch, zu dumm, zu schwach, zu willenlos auch hier, selbst hier in Lugau, für Liebe, Pflicht und Werktätigkeit zu sein!

Sie versuchte es, sich zu erheben, und sie blieb liegen – matt, todmüde trotz des guten, langen Schlafs im Klosterfrieden von Lugau, nicht weinend, aber mit den Händen über den Augen, um die Tränen zurückzudrücken, um Licht, Farben, Töne – alles, alles auszulöschen, und in die Stille und Dunkelheit der Ewigkeit mit ganzer Seele sich hinuntersehnend aus Angst vor der Welt nach Mercators Projektion.

»Aber was soll denn dies bedeuten? Wach und noch in den Federn, faules Frauenzimmer? Willst wohl die Pfingsten und die schöne Welt da draußen ganz den andern lassen?« rief die Tante Euphrosyne, in voller Fülle Lugauer Pfingstluft, -licht und -leben aus Kirche, Klosterhof und Klostergarten in der Tante Augustine Gastzelle tragend und ihr Kind mit beiden Armen umfassend, es erhebend und zärtlich abküssend. »Aber das hast du gut gemacht, mein Herz, und an der Predigt hast du wenig verschlafen – nun aber heraus, an den Kaffeetisch zu der Tante Stine glorreichem Festkuchen und dann in den Garten, den Wald, auf die Berge. Ist es der schändliche Wittenberger Winter gewesen? so hat mir die Welt ja noch nie gegrünt und geblüht wie in diesem gottgesegneten Frühsommer!«

»Ja, Püppchen, das ist so, wie die Tante Synchen sagt,« rief die Klostertante. »Nun tu aber das Deinige dazu, daß die liebe Pracht hier nicht ungenossen dahingeht. Hör die Lugauer Schwalben und Spatzen, wie sie sich schon mokieren. Das bitt' ich mir aus, daß du den Kuchen nicht alt und den Kaffee nicht kalt werden läßt. Singt die Welt, so sing mit! Springt die Welt, so spring mit! so kommt man auch über Stock, Stein, Sumpf und Moor weg, wenn man sein ganzes junges, liebes, langes Leben noch so vor sich hat wie du, mein armes, liebes Herzchen. Pfingsten, Pfingsten – und guten Rat und Treue und Trost von allen Seiten für dich!«

Jetzt kamen die Tränen – in Hülle und Fülle. Und Eve faßte die beiden guten Weiber, die zwei mitleidigen, braven Seelen auf einmal in die Arme und hielt sie und herzte und küßte sie wechselweise und schluchzte:

»Ja, ja, ja, ihr habt recht, und die Undankbare, Böse bin ich allein. Ihr seid so gut – alle sind so gut, und die Welt ist schön. Ich will mich auch bessern und zusammennehmen und keinem, keinem mehr Sorgen und Verdruß machen. Keinem, keinem! . . . behaltet ihr mich nur lieb und helft mir, so geht ja vielleicht noch alles gut, und auch ich werde auf Erden noch zu etwas nützlich. Ich will mir gewiß alle Mühe geben, die Welt zu erkennen und zu verbessern; aber helft mir – du, Tante Euphrosyne – bleibt bei mir, haltet Wort: immer, immer helft mir mit eurem Rat und Trost und eurer Treue!«

»Dann vor allen Dingen erst mal in die Kledagen, Mädchen!« rief die Tante Euphrosyne, nach Möglichkeit ihre Sorgen, ihre Angst und auch ihren Verdruß, Ärger und Ekel verbeißend. »Und laß dir sagen, während du schliefst, in der Nacht hat mir die Tante Stine noch eine Überraschung bereitet, und die kann ich jetzt drunten im Garten an dich weitergeben. Ein sauberer Zeisig ist den Lugauer Nonnen hier neulich zugeflattert und wünscht auch deine Bekanntschaft zu machen. Kepplershöhe kennst du doch?«

»Aber ich bitte dich, Tante Euphrosyne?!« lächelte Evchen.

»Nun, er behauptet, wie er mich jetzt – das heißt heute morgen, während du die Morgenfrische verschliefst, kennen gelernt habe, müsse das ein Käfig nach seinem Geschmack sein, und er werde auch da demnächst mit unserer Erlaubnis zufliegen, zumal da er schon seit länger als anderthalb Jahrhunderten ein Anrecht auf Busch, Baum, Strauch, Licht, Luft und – freundlichste, gelehrte, wissenschaftliche Wittenberger Aufnahme habe. Drunten im Garten sitzt er zwischen Fräulein Laura und Fräulein von Kattelen und macht sich beiden liebenswürdig. Hab' ich mein Wunder an ihm gehabt, so sollst du es jetzt gleichfalls haben. Er ist auf deine nähere Bekanntschaft jetzt fast noch gespannter, als wie er's vorhin auf die meinige war. Nicht wahr, Tante Stinchen?«

»Daß er heute morgen noch viel an seinen Sachsenspiegel denkt, unser Lugauer Spiegelschwab, glaube ich gerade nicht!« lachte des fröhlichen Klosters verständige Erzkuchelbäckerin. Ein Stündlein später machte dann freilich Fräulein Eva Kleynkauer aus Wittenberg im Klostergarten große Augen, als Fräulein Enphrosyne Kleynkauer vorstellte:

»Dein Vetter, Herr Doktor Eberhard Meyer aus Tübingen! – Ihr Bäschen, mein Pflegekind auf Kepplershöhe, Fräulein Evchen Kleynkauer, Herr Vetter aus Schwaben.«

Da jetzt außer Gräfin Laura und Fräulein von Kattelen die halbe Schwesternschaft von Lugau sich vor dem Mittagessen und der Nachmittagskirche noch für einige wohlige Augenblicke aus den Zellen in das Blühen und Grünen, das Bienensummen und Schmetterlingsgeflatter ihres Gartens heruntergezogen hatte und natürlich bei der Vorstellung gegenwärtig war, so war für das, was Herr Eberhard Meyer hierzu zu sagen hatte, eigentlich kaum die rechte Zeit. Auch er hatte sich fürs erste bei Kundgebung seiner Gefühle darauf zu beschränken, daß er gleichfalls die größten, die verwundertsten, die glänzendsten Augen zu dem Segen machte, der ihm da widerfuhr. Aber innerlich machte er schon seiner Seele Luft, und innerlich läßt sich in den kürzesten Moment in Vergnügen und Verdruß, in Freude und Leid, in Liebe und Haß viel Wortwerk zusammenpressen.

»Verzaubert! Verzaubert!« rief er da im besten Hochdeutsch. »Bin ich in der wirklichen Welt bei den Preußen und Mußpreußen oder nicht? Liege ich unter der Klosterlinde zu Hirsau mit der Nase im Ludwig Uhland, oder gibt es das hier auch? . . . In einem Klostergarten eine bleiche Jungfrau ging! Ich träume das! Nein, ich träume das nicht! Dazu sind diese alten Tanten zu real und diese Tante – meine Tante – die liebe Tante Euphrosyne vor allen! . . . Euphrosyne! . . . Eva! Augustine! Laura! . . . Herrgott, wenn mich nur eine von den Damen, wenn mich nur das Fräulein von Kattelen da an der Nase zupfen wollte, um mir die völlige Sicherheit zu geben, daß ich dieses nicht träume! Nein, nein, das ist nicht aus alten Schmökern und neuer Romantik und Lyrik! Das ist richtiges Himmelblau mir überm Kopfe, das sind wirkliche blaue Berge dort über der Mauer, das ist lebendiges Grün – das ist die Tante Euphrosyne und das – liebe Mädle, meine norddeutsche, preußische Base, das Evle Kleynkauer. Es ist wirklicher, lichter, verständiger, wonniglicher deutscher Lebenstag, – vivat, Herr Eike von Repkow!«

»Sie sind heute natürlich zu Tische mein Gast, Herr Dok – lieber Herr Vetter Meyer,« sagte die Tante Augustine. »Und für die Folgezeit während Ihres Aufenthalts bei uns in Lugau werden Sie mit Förster Gipfeldürre wohl auch einige andere Verabredungen treffen müssen, bis wir – Ihren Sachsenspiegel gefunden haben. Meinen Sie nicht, Vetter?«

»Ich lasse mir jetzt alles gefalle im Kloster Lugau! Weiß ich denn, ob ich auf'm Kopf steh oder auf de Füß'? O, Bäsle Eva, gebe Sie mir wenigstens erst mal Ihre Hand! An der Nase faßt mich ja doch niemand; keine von dene Dame kann's übers Herz bringe, mich aus dem unverdiente Glückstraum zu erwecke.«

»Meine Damen,« lächelte, nach der Uhr sehend, die Frau Oberin von Lugau, »Fräulein Augustine hat recht, es wird wirklich Zeit zu Tische und zur Kirche. Aber nachher haben wir alle ja den schönen Tag noch vor uns. Kommen Sie, Laura. Wo waren Sie denn eben mit Ihren Gedanken? Sicherlich nicht bei uns hier. Sie haben es natürlich vollständig vergessen, daß Sie heute mein Gast sind.«

Laura Warberg wachte in der Tat auf der Gartenbank wie aus einem süßen, behaglichen Traum auf, erhob sich langsam in all ihrer stattlichen, behaglichen Fülle und nahm zuerst das Evchen gut und zärtlich in die Arme.

»Du arm, klein gejagt Vögelchen! . . . Ja, kommen Sie, liebe Frau Domina. Meine Damen – liebe Tante Kennsiealle, Herr Doktor, wünsche wohl zu speisen.«

Sie ließ das Kind aus den Armen los, nahm den Arm der Frau Oberin und ging mit ihr zu Tische. Da es wirklich Zeit dazu war, folgte ihrem Beispiel ganz Lugau; aber in allen Zellen war heute nur von Einem Ereignis die Rede, und in der Pfingstnachmittagskirche predigte der Pastor von Kloster und Dorf Lugau zu Ohren, die eigentlich nicht recht bei der Sache waren.

Nachher benutzten sie dann natürlich den Rest des schönen Tages, um das wunderbare Ereignis nach allen Seiten hin zu vertiefen. Das ist leicht gesagt: Wittenberg und Tübingen hatten sich wieder; aber die Sache sich selber und den andern ganz klar zu machen und bis ins Kleine auseinanderzusetzen, das war nicht so rasch besorgt. Welche Familientraditionen und persönlichen Erinnerungen hatte da die Tante Euphrosyne Kleynkauer wach zu rufen – was alles hatte die Base Augustine ihrerseits dazu zu geben! Und erst der Vetter Meyer aus Schwaben! Wie hatte der den drei gegenwärtigen Vertreterinnen des Hauses Kleynkauer Bericht zu tun über sein berühmtes Haus! Als richtiger Vetterlesschwab hatte er jedoch seine Geschlechtsregister so gut am Bande wie das Buch der Genesis: »Dies ist das Geschlecht Noah: Sem, Ham, Japheth; und sie zeugeten Kinder nach der Sündflut;« und ohne weitere Hilfsmittel brachte er den zwei alten Tanten und dem jungen Bäsle die beiderseitigen Stammbäume mit allen Verästelungen und Verzweigungen derartig vom Jahre 1750 an zu Papier, und mit solchem Eifer, daß Gräfin Laura Warberg, die, von der Nonnenschaft im Garten abgesendet, dazukam, rief:

»Na, Kinder, ganz solltet ihr den wundervollen Abend doch nicht darüber versäumen! Und dann rate ich, beschwört da nicht Geister, die nachher nur mit Verdruß, Ekel und unter Gezerr und Gekläff aller Art zu bannen sind. Wir haben auch unsere Erfahrungen darüber. Komm, Evchen; die Verwandtschaft ist richtig, das leuchtet ja der Tante Euphrosyne zehntausendmal klarer aus dem vergnügten Gesichte hervor, als wie aus all dem Krickelkrackel des Herrn Doktors hier. Die Frau Domina gibt einen großen Tee des Lugauer Pfingstwunders wegen, die Damen kommen schon lange vor Ungeduld um unter den Linden, und nur Fräulein Seraphine von Kattelen sitzt still und geduldig und macht das zur Sache gehörige Gesicht. Es ist meine feste Überzeugung, sie kann es wieder mal nicht fassen, daß auch bei dieser Angelegenheit das Schicksal sie nicht vorher um ihren Rat gefragt hat.«

»Großer Gott, Euphrosyne,« rief die Tante Stinchen, »und sie sitzt auch nicht bloß drunten im Klostergarten, sondern auch schon oben in ihrem Zimmer bei ihrem Tintenfaß! Was wird die noch in dieser Nacht nach Wittenberg und sonst in die Welt hinein schreiben!«

»Hm,« sagte nach einigen Augenblicken ärgerlichen Nachdenkens, mit einem klugen Blick in die Ferne, die Tante Kennsiealle, »weißt du, Augustine, mir soll es schon recht sein, wenn das liebe Herz mir fürs erste die Korrespondenz mit dem Säkulum über den Fall abnehmen will. Ich habe für jetzt nichts schriftlich darüber abzugeben und du auch nicht, kleine Eve. Übrigens hat die Gräfin recht: wir wollen die Damen im Garten nicht warten lassen. Geben Sie Ihrem Bäschen den Arm, Vetter Eberhard. Seht nur, wie schön die Sonne untergeht! Mir ist seit einem Jahre nicht so leicht zu Mute gewesen wie an diesem holdseligen Abend.«

 


 


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